| # taz.de -- Bildung in Westafrika: System aus der Kolonialzeit | |
| > Die Folgen der Kolonialzeit sind in vielen Ländern Afrikas zu spüren. Das | |
| > betrifft neben der Unterrichtssprache auch das vermittelte Wissen. | |
| Bild: Studierende in Burkina Faso: Als oberstes Ziel in der Schule gilt das Abi… | |
| Ouagadougou taz | Bienvenue-Ferdinand Yelkouni hat schon Pläne für die Zeit | |
| nach seinem Abitur, das er im kommenden Jahr an der Privatschule | |
| Wend-Lamita ablegen will. Sie liegt am Stadtrand von Ouagadougou, | |
| Hauptstadt von Burkina Faso. Der 23-Jährige belegt den | |
| naturwissenschaftlichen Zweig mit einem Schwerpunkt auf Biologie. | |
| Anschließend möchte er sich in der Landwirtschaft selbstständig machen: | |
| „Schon jetzt züchte ich neben der Schule Geflügel.“ | |
| Das ist eine große Ausnahme in dem westafrikanischen Land. Die Mehrheit der | |
| 21,5 Millionen Einwohner*innen träumt davon, dass der Staat sie | |
| anstellt. In diesem Jahr bewarben sich mehr als 2,1 Millionen Personen auf | |
| 6.069 ausgeschriebene Stellen. Die Zahl steigt jedes Jahr weiter. | |
| Abiturient Yelkouni schüttelt den Kopf: „Es kann doch nicht jeder | |
| Staatsdiener werden.“ Für viele stellt sich die Frage jedoch gar nicht. | |
| Nach Informationen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) | |
| hatten 2019 drei von vier jungen Erwachsenen bis 25 Jahre keine Ausbildung. | |
| Auf eine Zukunft als Unternehmer wird Bienvenue-Ferdinand Yelkouni jedoch | |
| kaum vorbereitet. Burkina Faso war einst französische Kolonie – und | |
| Frankreich hat sein Schulsystem in seine ehemaligen Gebiete exportiert. Als | |
| oberstes Ziel gilt das Abitur, obwohl es im ganzen Land nur sieben | |
| staatliche Universitäten gibt. Mittlerweile wird zwar auch über eine | |
| praktische und standardisierte Ausbildung für handwerkliche Berufe | |
| gesprochen. In einem Land, in dem aufgrund der prekären Sicherheitslage | |
| mehr als 4.000 Schulen geschlossen sind, steht eine Novellierung von | |
| Lehrplänen aber weit hinten auf der Agenda. | |
| ## „Wir sind ausgebildet worden, um Funktionäre zu werden“ | |
| Für Yelkouni bedeutet das: Er muss viel lernen, vor allem auswendig lernen. | |
| Seine Geografiekenntnisse über Europa sind besser als über Westafrika, sein | |
| Stundenplan ist vollgestopft. Möglichkeiten, das Wissen praktisch | |
| anzuwenden, gibt es aber kaum. | |
| Ein koloniales Ausbildungssystem nennt es Abdoul Sawadogo, | |
| Verwaltungsleiter der Schule. „Wir sind ausgebildet worden, um Funktionäre | |
| zu werden. Die Schule ist von den Kolonisatoren gemacht worden, um ihre | |
| Verwalter auszubilden.“ Sawadogo hat vor seinem Informatikstudium in | |
| Frankreich Schulen in der Elfenbeinküste, Togo und Burkina Faso besucht. | |
| Das System sei überall ähnlich aufgebaut und habe sich seit [1][dem Ende | |
| der Kolonialzeit] im Jahr 1960 kaum geändert: „Immer war das Ziel, im | |
| öffentlichen Dienst angestellt zu werden.“ Vor einigen Jahrzehnten habe das | |
| sogar noch einigermaßen gut funktioniert. „Ich selbst war nicht einen Monat | |
| lang arbeitslos“, sagt Sawadogo. | |
| Doch die Zeiten haben sich geändert, was auch am Bevölkerungswachstum von | |
| jährlich 2,5 Prozent liegt. „Das System braucht mehr Freiräume und | |
| praktischeren Unterricht.“ Dafür haben die Schulkoordinator*innen den | |
| Donnerstagnachmittag freigeräumt und bieten einen Informatikkurs und ein | |
| Projekt zur Fischzucht an. Sawadogo wünscht sich außerdem eine Theater-AG. | |
| „Die jungen Menschen müssen mehr Chancen bekommen, um ihre Stärken zu | |
| entdecken.“ Eins ist ihm besonders wichtig: Sie sollen vor allem besser auf | |
| die Zukunft vorbereitet werden. „Wenn jemand schon in der Schule etwas zur | |
| Buchhaltung lernt und weiß, wie eine Firma aufgebaut ist und geleitet wird, | |
| ist er bereit, Unternehmer zu werden und für sich zu arbeiten.“ | |
| Um Erfolg zu haben, müsse man auch den Markt gut kennen, so Abdoul | |
| Sawadogo. Doch bis heute dominiere Unterricht über Europa und die | |
| Vereinigten Staaten. „In meiner Schulzeit musste ich die fünfzig Staaten | |
| der USA auswendig lernen und viel über das Mittelalter in Europa.“ | |
| Bienvenue-Ferdinand Yelkouni erlebt das bis heute ähnlich: „Wir lernen mehr | |
| über Europa als über Burkina Faso. Das liegt offenbar am System.“ | |
| Die einstigen britischen Kolonien waren dagegen dezentraler organisiert. | |
| Macht wurde über lokale Herrschaftsstrukturen ausgeübt, was als „indirect | |
| rule“ bezeichnet wird. Trotzdem musste auch Erziehungswissenschaftler Edwin | |
| Nii Bonney während seiner Schulzeit in Ghana viel Shakespeare lesen. Er ist | |
| heute Juniorprofessor an der Radford University in Virginia in den USA und | |
| arbeitet zum Einfluss der einstigen Kolonialmächte auf heutige Lehrpläne. | |
| Geschichtsunterricht in Ghana, so Bonney, beginne fast immer mit dem | |
| Kolonialismus, der einen großen Stellenwert einnehme und positiv bewertet | |
| werde. „Gerade [2][in den unteren Klassenstufen] wird kaum über die Phase | |
| gesprochen, bevor die Briten kamen.“ Gesellschaftliche, wirtschaftliche wie | |
| politische Entwicklung werde der Zeit zugeschrieben, in der Ghana als | |
| Goldküste Teil des britischen Weltreichs war. „Schüler lernen: | |
| Kolonialismus hat Fortschritt gebracht.“ Sklaverei und die gravierenden | |
| Folgen würden jedoch ausgespart. | |
| ## Machtstrukturen werden angeprangert | |
| In der erstarkenden Debatte über die Entkolonialisierung wird diese | |
| Leerstelle zunehmend thematisiert und tief verwurzelte Machtstrukturen | |
| sowie soziale Ungleichheit werden angeprangert. Doch diese Debatte führen | |
| vor allem Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen – im täglichen | |
| Leben in Westafrika ist sie kaum zu spüren, sind viele Menschen doch mit | |
| ihrem Alltag beschäftigt. Dass sich dadurch Lehrpläne ändern, erlebt Bonney | |
| bisher nicht. | |
| Und auch bei der Unterrichtssprache hat sich noch nichts bewegt: In Afrika | |
| südlich der Sahara wird auf Englisch oder Französisch gelehrt, aber so gut | |
| wie nie in einer afrikanischen Sprache. „Diese müssen wir in den | |
| Mittelpunkt stellen, um unsere Denkweisen zu ändern“, findet Bonney. In | |
| Ländern wie Nigeria und Ghana stehen zwar lokale Sprachen – ähnlich wie | |
| Fremdsprachenunterricht – auf dem Programm, häufig jedoch nur einmal pro | |
| Woche und ohne Informationen über Tradition und Kultur. | |
| Doch nicht alle befürworten die Idee der Lehre in lokalen Sprachen. | |
| Gegner*innen wenden ein, dass es keine Bücher für den Unterricht auf Twi, | |
| Minna oder Bambara gebe. Auch hätten selbst Kinder, die im selben Viertel | |
| aufwachsen, verschiedene Muttersprachen. Allein in Benin mit seinen 13 | |
| Millionen Einwohner*innen werden mehr als 50 Sprachen gesprochen. Aber: | |
| „Die Kolonialsprachen werden als neutral angesehen“, gibt Bonney zu | |
| bedenken, was sie aber nicht seien. Und Schulbücher könnten neu hergestellt | |
| werden. | |
| Durch den anhaltenden Wunsch, Dinge aus Europa und den USA zu übernehmen, | |
| gehe viel verloren, sagt der Erziehungswissenschaftler. „Es fehlt der Blick | |
| auf unser lokales Wissen und wie wir dieses nutzen.“ Das sei zwar nicht | |
| immer perfekt, „aber Bildungssysteme aus Europa sind das auch nicht“. | |
| 17 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Gänsler | |
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