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# taz.de -- Schule und jede Menge Fragen: Bestenfalls eine 4 minus
> Viertklässler:innen schneiden in Mathe und Deutsch alarmierend
> schlecht ab. Unser Antworten auf die häufigsten Fragen zur neuen
> Bildungsstudie.
Bild: Alle sind lernbereit – aber was kommt am Ende bei den Schüler:innen an?
1 Diese Woche wurde der IQB-Bildungstrend 2021 vorgestellt. Worum geht’s?
Alle fünf Jahre untersucht das Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung
im Bildungswesen (IQB) im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK), ob
Schüler:innen der 4. Jahrgangsstufe in Deutsch und Mathe die jeweiligen
Bildungsstandards erreichen. Für [1][die am Montag vorgestellte Studie]
wurden knapp 27.000 Schüler:innen in allen Bundesländern getestet. Nach
2011 und 2016 ist es die dritte derartige Untersuchung an Grundschulen. Im
Unterschied zu anderen Bildungsstudien wie PISA oder TIMSS erlaubt der
IQB-Bildungstrend einen Vergleich zwischen den einzelnen Bundesländern. Das
IQB testet zudem alle drei Jahre die Kompetenzen von Neuntklässler:innen.
2 Und die Ergebnisse?
Sind besorgniserregend, schreiben die Autor:innen. In allen vier
getesteten Kompetenzen – Lesen, Zuhören, Rechtschreibung und Mathe – haben
sich die Viertklässler:innen deutlich verschlechtert. So ist der Anteil
der Schüler:innen, die den Regelstandard erreichen, im Vergleich zu 2016 je
nach Kompetenz im Schnitt um 8 bis 10 Prozent gesunken. Verglichen mit 2011
sind die Einbußen sogar noch höher. In Mathe beispielsweise sind aktuell
nur mehr 55 Prozent der Kinder mit ihren Leistungen im Soll. Zehn Jahre
zuvor waren es noch 68 Prozent.
Gleichzeitig ist der Anteil der Schüler:innen, die zum Ende der Grundschule
den Mindeststandard verfehlen, zuletzt in allen Bereichen zwischen 6 und 8
Prozentpunkte gestiegen. Mittlerweile hat jedes fünfte Kind große Probleme
mit dem Lesen und Rechnen, sogar fast jedes dritte mit der Rechtschreibung
– wenn auch mit großen Unterschieden in den Ländern (siehe Frage 4). Ein
weiterer Befund: Die Abhängigkeit des Bildungserfolges vom Elternhaus ist
weiter gestiegen. Kinder aus sozial benachteiligten und zugewanderten
Familien sind besonders betroffen.
3 Warum ist das problematisch?
Spätestens seit dem „Pisa-Schock“ 2001 ist bekannt, wie stark der
Bildungserfolg in Deutschland vom sozialen Hintergrund der Schüler:innen
abhängt. Doch auch nach zwanzig Jahren haben Bund und Länder kein wirksames
Gegenrezept gefunden. Das hat auch [2][der jüngste Nationale
Bildungsbericht] angeprangert. Viertklässler:innen aus einem
privilegierten Elternhaus weisen demnach einen Leistungsvorsprung von einem
ganzen Schuljahr auf. Wer aus einer sozial benachteiligten Familie kommt,
hat nach wie vor deutlich schlechtere Chancen, einen Schulabschluss zu
schaffen oder aufs Gymnasium zu kommen.
Die IQB-Studie zeigt aber, dass nicht nur sozial benachteiligte Kinder den
Anschluss verlieren. Auch die Leistungen der sozial bessergestellten
Schüler:innen sind durch die Bank abgesackt. Auch deshalb ist die Gruppe
derer, die erhebliche Lernlücken aufweisen, auf Rekordhöhe. Und das
gefährdet die Lebenschancen der betroffenen Kinder. Laut Ludger Wößmann vom
Münchner ifo Zentrum für Bildungsökonomik führt der Lernrückstand von einem
Drittel Schuljahr später im Schnitt zu einem 3 Prozent niedrigeren
Einkommen. Die möglichen Folgekosten der aktuellen Grundschulmisere für die
Volkswirtschaft beziffert Wößmann auf ein 1,5 Prozent niedrigeres
Bruttoinlandsprodukt pro Jahr bis zum Ende des Jahrhunderts.
4. Wie schneiden die einzelnen Länder ab?
Sehr unterschiedlich. Vor allem Bayern und Sachsen finden sich in allen
Kompetenzen deutlich über dem Länderschnitt. Bremen, [3][Berlin],
Brandenburg und Nordrhein-Westfalen liegen überall darunter. Und die
Abstände zwischen den Ländern sind gewaltig. Der durchschnittliche
Kompetenzunterschied zwischen Spitzenreiter Bayern und Schlusslicht Bremen
beim Lesen und Zuhören entspricht einem ganzen Schuljahr. Bei der
Rechtschreibung und in Mathe sieht es vor allem in Berlin düster aus. Dort
verfehlt fast jedes zweite Kind die Mindeststandards.
Petra Stanat, die wissenschaftliche Leiterin des IQB, betont aber, dass der
negative Trend in allen Bundesländern zu beobachten sei. Lediglich in
Bremen, Rheinland-Pfalz und Hamburg sind die Werte vergleichsweise stabil
geblieben. Und weil sich die übrigen Länder deutlich verschlechterten,
machte Hamburg zugleich den größten Sprung nach vorne: Im Länderranking
verbessert sich der Stadtstaat von Rang 13 auf 6. Die Autor:innen der
IQB-Studie vermuten, dass der Hamburger Erfolg mit seiner datenbasierten
Schulpolitik zusammenhängt.
5 Was sind die Gründe für den Abwärtstrend?
Im Wesentlichen gibt es vier Erklärungsansätze. Erstens die steigende
Heterogenität in den Schulen. In ihren Stellungnahmen zur IQB-Studie weisen
die Bildungsminister:innen darauf hin, dass der Anteil der Kinder mit
Migrationsgeschichte in den vergangenen zehn Jahren von 25 auf 38 Prozent
gestiegen sei. „Wir haben noch nicht die richtigen Rezepte gefunden, mit
dieser veränderten Schülerschaft angemessen umzugehen“, räumt Hamburgs
Schulsenator Ties Rabe (SPD) ein.
Das hängt auch mit dem zweiten Erklärungsansatz zusammen: dem
Personalmangel, den Lehrerverbände in vielen Bundesländern als dramatisch
beschreiben. Für einen Unterricht, der lernschwache Schüler:innen besser
fördert, fehlen oft Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter:innen,
Integrationshelfer:innen. Die Folge: zu große Klassen, kaum
binnendifferenzierter Unterricht. Schulen in sozial benachteiligter Lage
tun sich besonders schwer, ihre Stellen zu besetzen. Obwohl die Fachkräfte
dort besonders dringend gebraucht werden.
Ein dritter Erklärungsansatz hat mit fehlenden Standards in der
frühkindlichen Bildung zu tun, also noch bevor die Kinder in die
Grundschule kommen. In vielen Bundesländern fehlen verpflichtende
Fördermaßnahmen in dem Alter. Für KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) habe
die IQB-Studie sichtbar gemacht, dass die Länder „zu spät mit
systematischer Diagnostik und differenzierter Förderung“ begännen.
Eine vierte (und oft gewählte) Erklärung ist die Pandemie. Schließlich
wurden die IQB-Tests zwischen April und August 2021 geschrieben. Also zum
Ende eines Schuljahrs, das überwiegend aus Distanz- oder Wechselunterricht
bestand. Im Schnitt fand zu mehr als drei Vierteln kein regulärer
Unterricht statt.
6 Also ist die Pandemie schuld?
Das ist schwer zu sagen. Klar ist, dass die Lernbedingungen während des
Distanz- und Wechselunterrichts teils zu massiven Lernrückständen geführt
und die soziale Ungleichheit verstärkt haben. Das zeigen die zahlreichen
Rückmeldungen aus den Schulen. Die IQB-Studie liefert nun ein weiteres
Indiz für den Zusammenhang. So fallen die beiden Länder, die die Schulen
während Corona nie komplett geschlossen haben – Bremen und Hamburg – in den
Leistungen viel weniger stark ab als die meisten anderen Länder. Allerdings
hat der Abwärtstrend bereits weit vor Beginn der Pandemie eingesetzt. Die
alarmierenden IQB-Ergebnisse lassen sich also nicht gänzlich auf die
Pandemie schieben.
7 Wie wollen die Länder jetzt gegensteuern?
Mit konkreten Ankündigungen haben sich die Länder bisher zurückgehalten.
KMK-Präsidentin Prien möchte ein Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen
Kommission abwarten, das im Dezember vorliegen soll. Prien sieht aber
(neben dem fehlenden Personal) vor allem bei der [4][gezielten Förderung
von Kindern im Kita-Alter] Handlungsbedarf: „Wir brauchen verbindliche
Sprachstandserhebungen mit verbindlichen Sprachfördermaßnahmen“. Auch die
IQB-Studie empfiehlt, Kinder mit „ungünstigen Lernvoraussetzungen“ früher
zu fördern. Ein Vorbild könnte hier Hamburg sein. Dort müssen alle Kinder
im Alter von viereinhalb Jahren einen Sprachtest machen. Wer durchfällt,
muss verpflichtend in die Vorschule.
8 Kann der Bund helfen?
Möglicherweise. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP)
möchte mit dem angekündigten Startchancen-Programm die „Trendwende“ hin zu
mehr Chancengerechtigkeit einleiten. Ab Herbst 2024 sollen 4.000 Schulen in
schwieriger sozialer Lage zusätzliche Stellen und Gelder erhalten.
Allerdings steht weder fest, wie viel Geld dafür fließen wird, noch, wie es
verteilt werden soll. Bund und Länder wären gut beraten, wenn sie hier aus
den jüngsten Fehlern lernen würden. So wies das Wissenschaftszentrum Berlin
für Sozialforschung kürzlich nach, dass das milliardenschwere Programm
„Aufholen nach Corona“ seine Ziele weit verfehlt hat. Auch, weil nur wenige
Länder die Mittel auf Grundlage von Lernstandserhebungen oder Sozialindizes
verteilt haben. Bildungsforscher:innen empfehlen dies schon länger, um
die Chancenungleichheit effektiver bekämpfen zu können. Aktuell verteilen
nur Hessen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen ihre Ressourcen je nach Lage
vor Ort.
23 Oct 2022
## LINKS
[1] /IQB-Studie-zu-Deutsch-und-Mathe/!5885445
[2] /Folgen-von-Corona-fuers-Bildungssystem/!5859851
[3] /Berlin-Schlusslicht-im-Bildungsranking/!5885466
[4] /Studie-ueber-Grundschulkinder/!5889166
## AUTOREN
Ralf Pauli
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Schule
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