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# taz.de -- Ampelpläne für Bildungsgerechtigkeit: Verspätete Chancen
> Die Ampelkoalition setzt ihr zentrales Bildungsversprechen für mehr
> Chancengleichheit frühestens 2024 um. Noch sind viele strittigen Fragen
> offen.
Bild: Jemand da? Noch fehlt das Konzept für das Startchancen-Programm von Bund…
Von den Zahlen her ist es ein kleiner Wumms. 21,5 Milliarden Euro stehen
Bettina Stark-Watzinger im kommenden Jahr für Bildungsausgaben zur
Verfügung – so viel Geld hat noch kein:e Bildungsminister:in vor ihr
an die Hand bekommen. Am Freitag hat der Bundestag den Haushalt für 2023
gebilligt, die FDP-Politikerin kann also einige Herzensprojekte angehen.
Etwa [1][den lange versprochenen Heizkostenzuschuss] für Studierende, der
jetzt bald im neuen Jahr ausgezahlt werden soll. Die Exzellenzinitiative
Berufliche Bildung, die bisher nur auf dem Papier existiert. Oder die
Deutsche Agentur für Transfer und Innovation, die kleinere Hochschulen
besser mit der Wirtschaft verzahnen soll. Vor allem an die Universitäten
und die Forschung hat die Bildungsministerin viel zu verteilen. Passend
dazu konnte Stark-Watzinger im November finanzielle Zusagen zugunsten des
Hochschulpakts und des Professorinnenprogramms verkünden.Läuft’s bei der
Ministerin? Man kann das auch anders sehen.
Das Rekordbudget jedenfalls kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Ampel ein zentrales Bildungsvorhaben auf die lange Bank schieben musste:
das „Startchancenprogramm“, mit dem SPD, Grüne und FDP die
Bildungsungerechtigkeit im Land angehen möchten. Ursprünglich wollte die
Bundesregierung schon ab dem kommenden Jahr 4.000 Schulen, auf die
besonders viele sozial benachteiligte Schüler:innen gehen, mit
zusätzlichem Personal und Geld ausstatten. Jetzt ist vom Schuljahr 2024/25
die Rede. Also in knapp zwei Jahren.
Wie nötig eine rasche Umsetzung wäre, hat jüngst [2][die
IQB-Bildungsstudie] in Erinnerung gerufen. Bereits an den Grundschulen
hängen die Leistungen der Kinder mehr und mehr von der sozialen Herkunft
ab. Ein Nachteil, den die betroffenen Kinder nur mit viel Glück wieder
ausgleichen können. Und mit gezielter Förderung. Offensichtlich reichen
aber die „Talentschulen“ (Nordrhein-Westfalen), „Perspektivschulen“
(Schleswig-Holstein) oder „Starken Schulen“ (Hamburg) und andere Bemühungen
der Länder nicht aus, um diesen Trend umzukehren.
## Mit Workshops zum Konzept
„Bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern“,
hat die Ampel im Koalitionsvertrag versprochen. Darin ist von massiven
Investitionen in Gebäude, Extrabudgets für pädagogische Arbeit und
zusätzlichen Sozialarbeiter:innen die Rede. Zehn Jahre lang soll die
Förderung laufen. So ambitioniert hat noch kein Bund-Länder-Programm die
fehlende Chancengleichheit im Land adressiert.
Doch wie die 4.000 Schulen ausgewählt werden, wie viel Geld pro Schule zur
Verfügung steht oder welche Ziele vor Ort konkret erreicht werden sollen,
das ist alles noch unklar. Dazu führen Bund und Länder derzeit erste tiefer
gehende Gespräche. Drei gemeinsame Workshops sind angesetzt, zwei davon
haben vor wenigen Tagen stattgefunden. Zum Stand der Gespräche halten sich
die Beteiligten bedeckt. Anfang 2023, teilt das Bundesbildungsministerium
(BMBF) mit, soll „der fachliche Austausch mit den Ländern“ beendet sein.
Danach werde die „inhaltliche Konzeptionierung“ des Programms weiter
ausgearbeitet. Es dürfte also noch ein paar Monate dauern, bis die
Eckpunkte feststehen.
Ein bisschen peinlich für die Bundesregierung ist, dass der
Haushaltsausschuss im Bundestag die Mittel für das Startchancenprogramm
gerne schon für das kommende Jahr freigegeben hätte. Dafür hätte das BMBF
allerdings bis Ende September in einem Konzept erklären müssen, wie das
Programm „inhaltlich ausgestaltet, finanziert, administriert und konzipiert
werden soll“. Das BMBF gab ein vierseitiges Papier ab, das der taz
vorliegt. Die Fragen der Parlamentarier:innen beantwortete es nicht.
Dass das Startchancenprogramm frühestens 2024 anläuft, werten Union und
Linkspartei als Beweis der Unfähigkeit von SPD, Grünen und FDP, ihre
Versprechen umzusetzen.
In den Ampelparteien wiederum hat man Verständnis dafür, dass es später
losgeht. „Ich hätte mir zwar ehrlicherweise mehr erhofft von dem Konzept“,
sagt die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Nina Stahr,
zur taz. „Aber es stimmt natürlich, dass für die Klärung der offenen Fragen
intensive Gespräche mit den Ländern notwendig sind.“ Ziel solle sein, dass
das Geld am Ende nicht wieder mit der Gießkanne verteilt werde, so Stahr.
Das habe gerade erst wieder das Aufholprogramm nach Corona gezeigt. „Wir
wollen sicherstellen, dass das Geld auch an den Schulen ankommt, die es
besonders benötigen“.
## Streitthema Zuständigkeit
Auch FDP-Bildungsexpertin Ria Schröder nimmt die Regierung in Schutz: „Wenn
der Bund das Programm alleine ausarbeiten könnte, würde das Konzept
wahrscheinlich längst stehen.“ Wenn die Länder aber Milliarden vom Bund
erhielten, müsse der auch mitreden dürfen, wie und wo sie eingesetzt
würden. „Gleichzeitig setzen wir auf die Autonomie der Schulen, denn dort
sitzen die eigentlichen Expertinnen und Experten.“
Ganz ohne Vorgaben soll es aus Sicht des Bundes aber nicht gehen. Das BMBF
werde sich gegenüber den Ländern „für eine zielgerichtete Verwendung“ der
Programmmittel einsetzen, heißt es auf Anfrage.
Auch in dieser Hinsicht ist das Startchancenprogramm ambitioniert. Es
ist der Test, ob die Länder eine stärkere Mitsprache des Bundes auch in der
konkreten Umsetzung von Bildungsprogrammen zulassen. Bisher darf der Bund
nur in Ausnahmefällen wie dem Digitalpakt in die Bildungshoheit der Länder
eingreifen. Die Ampel will aber dauerhaft vom gelockerten
Kooperationsverbot zum -gebot kommen. Der Ausgang der aktuellen
Bund-Länder-Verhandlungen dürfte auch Aufschluss geben, wie die Länder zum
neuen Anspruch des Bundes stehen.
Besonders heikel ist beim Startchancenprogramm die Frage, wie die Mittel
verteilt werden sollen. Geht es nach dem Willen der Ampel, wird das Geld
nicht wie sonst üblich nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt. Scheitert
sie mit diesem Anliegen, bekämen die bevölkerungsreichen und wirtschaftlich
starken Länder wie Bayern oder Baden-Württemberg deutlich mehr Mittel, auch
wenn das Bildungsforscher:innen für Unsinn halten.
## Die Wissenschaft ist sich einig
Vor Kurzem erst hat das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
davor gewarnt, die Fehler aus dem Programm „Aufholen nach Corona“ zu
wiederholen. Dort seien die Mittel weitgehend nach dem Prinzip Gießkanne
verteilt worden. Eine [3][aktuelle Expertise] der Friedrich-Ebert-Stiftung
stellt fest, dass der Königsteiner Schlüssel den Zielen des
Startchancenprogramms entgegenstehe. Stattdessen schlagen die Autor:innen
vor, den Anteil der bedürftigen Schulen in den Ländern zu ermitteln – und
die Gelder dann auf dieser Grundlage an die Länder auszuzahlen.
„Wenn die Länder die Chancengerechtigkeit ernst nehmen, sollten sie die
Bundesgelder nicht nach dem Königsteiner Schlüssel verteilen“, sagt der
Kieler Bildungsforscher Olaf Köller im Gespräch mit der taz. Die Folge wäre
ansonsten, dass vergleichsweise gut ausgestattete Schulen in Bayern in das
Programm aufgenommen würden, obwohl viele Schulen in Bremen oder Berlin die
Mittel viel dringender bräuchten.
Dass sich die Länder darauf einlassen, darf bezweifelt werden. Nur wenige
stellen den Königsteiner Schlüssel so offen infrage wie Hamburgs
Schulsenator Ties Rabe (SPD). Gegenüber der taz fordert Rabe, die Mittel
„nicht ausschließlich“ über diesen Schlüssel zu verteilen. In Bremen lie…
der Anteil der bildungsfernen Familien viermal so hoch wie in Bayern.
Deshalb sollten auch soziale Kriterien in die Mittelvergabe einfließen,
etwa der Anteil der Kinder mit Migrationsgeschichte oder die Anzahl der
Familien, die Transferleistungen beziehen. Letzteres empfehlen auch die
Autor:innen der Expertise der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bildungsforscher Köller könnte sich sogar noch weitere Kriterien
vorstellen. „Denn nicht jeder, der arm ist, ist auch schlecht in der
Schule.“ Deswegen sollte man idealerweise auch den Anteil der
Schulabbrecher oder die Leistungen im Rahmen länderübergreifender
Vergleichstest wie VERA berücksichtigen.
## Kompromiss bahnt sich an
Manche Bundesländer scheinen durchaus offen für einen Kompromiss. So
bezeichnet die neue Schulministerin von Nordrhein-Westfalen, Dorothee
Feller (CDU), den Königsteiner Schlüssel im taz-Interview zwar als
„bekanntes und durchaus bewährtes Instrument“. Beim Startchancenprogramm
könne man aber ergänzend auch noch weitere Kriterien in den Blick nehmen,
so Feller. Selbst aus Baden-Württemberg heißt es, dass eine Förderung nach
sozialen Kriterien „notwendig“ sei.
Bayern hingegen tut sich schwer mit dem Anliegen. Entsprechend schmallippig
teilt das Kultusministerium auf Anfrage mit: „Die Frage der Verteilung der
Mittel des Startchancenprogrammes wird derzeit zwischen Bund und Ländern
abgestimmt und zu gegebener Zeit entschieden.“
FDP-Bildungsexpertin Ria Schröder ist sich sicher, dass in Bezug auf Bayern
„noch dicke Bretter“ gebohrt werden müssen. Kommendes Jahr steht dort eine
Landtagswahl an. „Wir hoffen, dass Ministerpräsident Söder seinen Wahlkampf
nicht auf Kosten der Kinder und Jugendlichen macht.“
Immerhin zeichnet sich bei den anderen Punkten ein gewisser Konsens ab: So
hört man von überallher, dass das Startchancenprogramm vor allem die
Kernkompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen stärken soll – und dass das
Budget pro Schule im Jahr sechsstellig sein muss, um Wirkung zu erzielen.
Von rund zwei Milliarden im Jahr gehen die Beteiligten aus – wobei es auch
noch keine Übereinstimmung gibt, in welcher Form und Höhe sich die Länder
finanziell beteiligen werden.
So gesehen wirkt der Zeitplan aus dem BMBF ambitioniert, noch im ersten
Halbjahr 2023 einen Kabinettsbeschluss vorzulegen – und entsprechende
Gelder in den Haushalt 2024 einzustellen. Noch einmal will sich Bettina
Stark-Watzinger bestimmt nicht vorwerfen lassen, dass ihr die
Bildungsgerechtigkeit nicht am Herzen liege.
30 Nov 2022
## LINKS
[1] /Studierende-in-der-Dauerkrise/!5885853
[2] /Schule-und-jede-Menge-Fragen/!5887426
[3] https://www.fes.de/e/fes-impuls-ein-guter-start-fuer-teilhabe
## AUTOREN
Ralf Pauli
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