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# taz.de -- Bildungskatastrophe in Deutschland: Märchenhafte Schulreform
> Lehrermangel, Leistungsschwäche, Integrationsprobleme, mangelnde
> Digitalisierung. Es braucht komplett neue Strukturen an den Schulen.
Bild: „Was soll das sein?“ Bettina Stark-Watzinger, Bundesministerin für B…
Wenn es Sie reizt, eine stabile Gruppe von 10 Kindern oder 8 Jugendlichen
kontinuierlich über sechs Jahre zu begleiten, ihnen Basiskompetenzen und
Mediennutzung zu vermitteln, ihre Lernerfahrungen zu organisieren, in die
Bildungsprozesse das soziale Umfeld der Kinder einzubeziehen, und dabei
selbst neue Erfahrungen zu machen …“ – Die Bildungsministerin ließ die
Vorlage auf den Schreibtisch fallen: „Was soll denn das sein?“ Der junge
Staatssekretär errötete: Ich dachte, ich denke mal voraus …“ Seine Stimme
war leicht belegt.
„Ich habe das mal alles zusammengedacht: Die [1][60.000 Lehrer, die fehlen]
und die geschrumpfte Attraktivität des Berufs – selbst die Verbeamtung
bringt’s ja nicht mehr. Zweitens, die [2][Silvesterkrawalle], also die
Problemviertel und Milieus. Drittens: die gesicherten Zahlen, dass ein
Viertel der Viertklässler nicht richtig schreiben und rechnen kann – und
beileibe nicht nur die Migrantenkinder. Und schließlich das, was uns die
Fortnite-Kultur und Chat-GTP noch erwarten lässt.“
„[3][Chat-GTP]?“ Die Ministerin hob die Augenbrauen. „Muss ich jetzt auch
noch wissen, was das ist?“ Der sehr junge Staatssekretär seufzte: „Ihre
Kollegen in den Ländern haben auch noch nichts davon gehört. Also, das ist
ein Computerprogramm, das druckreife Texte verfasst, in jeder gewünschten
Länge. Noch nicht perfekt, aber Schüler und Studenten benutzen es schon für
ihre Referate. In ein, zwei Jahren dürfte das Standard sein. Und niemand
weiß bis jetzt, was daraus für die Kompetenzen und die Leistungsbeurteilung
folgt, und ob man da überhaupt noch gegensteuern kann.“
„Und was hat das alles jetzt mit dieser … Stellenanzeige zu tun, die Sie
mir hinterlegt haben?“ Der junge Staatssekretär holte tief Luft. „Ich
denke, wir müssen Schule völlig neu denken. Dieses System ist nicht zu
retten. Es muss zusammenbrechen, vorher passiert nichts. Mit den
bestehenden Strukturen können wir weder das Integrationsproblem, noch die
[4][Leistungsschwächen], noch die fehlgeleitete Digitalisierung, noch den
Lehrermangel, noch den Motivationsschwund korrigieren.
Wir müssen die Schule ganz neu denken. Und wir müssen ansetzen, wo die
Probleme beginnen: bei der Erziehungsschwäche der Familien.“ Die Ministerin
hob beide Hände: „Benutzen Sie das Wort bitte nie öffentlich …“ „Nich…
mir. Stand in einer Schrift des konservativen Soziologen Helmut
Schelsky:,Aufgabe der Schule in der industriellen Welt'. Anfang der
Fünfzigerjahre, damals war er noch Sozialdemokrat.
Kurz gefasst: Die Anforderungen des Berufslebens, der Trend zur
Kleinfamilie und [5][Alleinerziehenden], die Frauenerwerbstätigkeit, das
alles stresst die Familie und erfordere eine stärkere Übernahme der
Erziehung durch die Schule, weit über die Vermittlung von Wissen hinaus –
und, wie wir sehen, tut das nicht nur in der Unterschicht not. Auch die
basalen Eigenschaften wie Ordnung, Arbeitstugenden etc. würden nun zur
Aufgabe der Schule, der enge Elternkontakt der Lehrer und regelmäßige
Familienbesuche, wie auch die Kooperation mit den Betrieben.
Schelsky entwarf das Bild einer Gemeinschaftsschule, die Technik und
Tradition verbindet und sozialen Zusammenhalt herstellt. Schule müsse in
die Mitte der Gesellschaft geholt, zum sozialen Ort werden.“ Das war 1957.
Und mehr noch: Schelsky, beileibe kein Linker, forderte damals eine
Unterrichtung in den Familienfähigkeiten und „Freizeiterziehung“ als
Reaktion auf die „Enthemmung des Konsumstrebens“, ja des
„[6][Konsumterrors]“.
„Das klingt nicht sehr populär, eher nach asketischer Volksgemeinschaft
oder Subbotnik“, warf die Ministerin ein. „Und was ist mit den Lehrern?
Sollen die nun zu Sozialarbeitern werden?“ Der junge Mann hatte sich in
Fahrt geredet. „Die müssen sowieso umlernen. Der pure Stoff wird in Zukunft
immer stärker mit digitalen Techniken angeeignet. Vokabeln, Daten, Zahlen,
Fakten.
Jetzt kommt es darauf an, diese Möglichkeiten zu nutzen, und nicht als pure
Nothilfe oder Sparmaßnahmen zu verspielen, sondern um die Lehrer in die
Lage zu versetzen, als Mentoren, als Führer ins Leben oder meinetwegen
sogar als Vorbilder zu wirken.“ Er sah, wie die Ministerin die Augenbrauen
hob. „Entschuldigen Sie die altmodischen Wörter, aber die neuen werden uns
noch einfallen müssen. Vielleicht sogar ein neues für Schule.“
Die Ministerin seufzte: „Schöne Idee. Klingt nach den Siebzigerjahren, nach
Ivan Illich und Hartmut von Hentig – da waren Sie noch nicht geboren. Seit
Rousseau nichts Neues. Aber woraus wollen Sie Ihre Idealmentoren backen?
Wenn ich an die Lehrer und die Schulen denke, die ich kenne, dann brauchten
wir da eine ganz andere Auswahl, eine ganz andere Ausbildung, andere Eltern
und vor allem ganz andere Schulbehörden …“
Der Staatssekretär fiel ihr ins Wort: „Entschuldigung, aber wenn alles ganz
anders werden muss, und mir scheint gerade, da sind Sie ganz bei mir, dann
muss man ja irgendwo anfangen.“ Die Ministerin blickte auf ihre Uhr. „Und
was schlagen Sie vor?“ Die Antwort kam sofort: „Legen Sie ein Programm auf
für 1.000 Versuchsschulen, die je ein paar Hunderttausend kriegen und
ausreichend zusätzliche Planstellen, wenn sie überzeugend klarmachen, dass
sie etwas wirklich Neues ausprobieren wollen.
Sorgen wir bei der Auswahl dafür, dass es kreative bis charismatische
Schulleiter sind, und geben wir ihnen drei Jahre, in denen sie frei
experimentieren dürfen, ihre Lehrer weiterbilden, mit den Eltern arbeiten.
Und fangen wir gleich damit an, nicht erst 2024. Wir können uns Warten
nicht mehr leisten.“
Die Ministerin stand auf. „Sie haben mich wieder mal plattgeredet“, lachte
sie. „Okay. Schreiben Sie es auf, meinetwegen für einen Namensartikel. Mit
Ihrem Namen natürlich. Und schicken Sie das an die Zeitungen. Aber bitte
gleich an die Feuilletons. Weiter vorn finden wir ja nicht statt.“
11 Jan 2023
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[4] /Schule-und-jede-Menge-Fragen/!5887426
[5] /Armut-unter-Eltern-und-Kindern/!5787035
[6] /Konsumterror/!5165643
## AUTOREN
Mathias Greffrath
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