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# taz.de -- Rechtswidrige Abschiebepraxis: Rechte hat auch, wer geduldet ist
> Ein Urteil des Landgerichts Verden stärkt die Asylsuchenden: Bei gültiger
> Duldung darf der Geflüchtete nicht einfach schnell abgeschoben werden.
Bild: Diesen Demontrant:innen dürfte das Urteil aus Verden nicht weit genug ge…
Bremen taz | Die bisherige Abschiebepraxis der niedersächsischen Behörden
hat das Landgericht Verden in einem Urteil jetzt für rechtswidrig erklärt.
Es stellt darin fest, dass ausreisepflichtige Geflüchtete nicht an dem Tag
abgeschoben werden dürfen, an dem ihre Duldung ausläuft – so wie es bisher
üblich war. Damit soll verhindert werden, dass die Betroffenen vorab von
der drohenden Abschiebung erfahren und untertauchen. Diese Praxis ist gemäß
dem Urteil aber rechtswidrig, da bei einer gültigen Duldung gar [1][nicht
abgeschoben werden darf] – sondern nur dann, wenn diese abgelaufen oder
widerrufen worden ist.
Im konkreten Fall geht es um einen Ivorer, der 2017 nach Deutschland kam.
Sein Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
abgewiesen – mit der Begründung, dass laut den Regeln des
Dublin-III-Abkommens Italien für ihn zuständig sei. Also sollte er
abgeschoben werden.
2018 und 2019 scheiterten Abschiebungen, weil der Mann gar nicht zuhause
war – den Behörden sagte er anschließend, er sei [2][aus Angst vor der
Polizei nachts oft nicht in seiner Wohnung gewesen]. Danach erhielt er
zunächst fortlaufende Duldungen von maximal drei Monaten, ehe er im
September 2022 erneut abgeschoben werden sollte.
Mittlerweile hatte der Mann einen Job, eine Wohnung gemietet und seine
Lebensgefährtin nach islamischem Recht geheiratet. Als die Polizei dann
kam, um ihn abzuholen, krallte er sich am Türrahmen fest, seine Frau ließ
ihn nicht los. Also wurde er festgenommen und noch am selben Tag wegen
„Fluchtgefahr“ in Abschiebehaft genommen.
## „Fluchtgefahr“ bestand nicht
Doch diese Haft war rechtswidrig, urteilte das Landgericht Verden, das die
sofortige Haftentlassung anordnete. Begründung: Am Tag der versuchten
Abschiebung war die Duldung weder erloschen noch widerrufen. Zwar schrieb
die Ausländerbehörde: „Die Duldung erlischt mit der Ausreise“ – eine
Abschiebung sei aber eben keine Ausreise, urteilten die Richter:innen.
Eine Abschiebung hätte also nicht erfolgen dürfen, eine Inhaftierung aber
auch nicht – eine „Fluchtgefahr“ erkannte das Landgericht angesichts des
Verhaltens des Betroffenen nicht an. Unter anderem hatte er selbst einen
gültigen Reisepass vorgelegt, zudem habe er sich seiner Abschiebung nicht
entzogen. Dem [3][niedersächsischen Flüchtlingsrat] gilt er als „gut
integriert“.
Es gibt aber noch einen Grund, wieso das Vorgehen der Behörden rechtswidrig
war: Der Ivorer wurde schon seit Mai 2019 – also mehr als drei Jahre –
geduldet. Und wer länger als ein Jahr am Stück geduldet wurde, dem muss die
Abschiebung einen Monat vorher angekündigt werden, stellt das Landgericht
Verden klar. Denn die Geflüchteten müssen Zeit haben, noch Rechtsmittel
einzulegen und ihre Angelegenheiten in Deutschland zu regeln. Erst wenn die
Betroffenen dann zum angekündigten Termin nicht erscheinen, können sie auch
in Abschiebehaft genommen werden.
„Das passiert nicht“, sagt Muzaffer Öztürkyilmaz vom Flüchtlingsrat
Niedersachsen zu der Pflicht der Behörden, schon länger Geduldeten ihre
Abschiebung anzukündigen. „Bei den Abschiebungen läuft vieles nicht
rechtsstaatlich ab.“ Er sieht die Entscheidung des Gerichts als
„grundsätzlich positiv“ an, ebenso wie der Anwalt Sven Sommerfeldt, der sie
für den Betroffenen erstritten hat und von einem „Grundsatzurteil“ spricht.
„Das stärkt die Rechte der Betroffenen“, sagt [4][Öztürkyilmaz]:
Allerdings fürchtet er, dass die Behörden dem Problem durch eine klarere
Formulierung leicht abhelfen können: „Die Duldung erlischt mit dem Tage der
Abschiebung.“
Beim Landkreis Verden ist das Gerichtsurteil „noch in der rechtlichen
Prüfung“, sagt eine Sprecherin. Zugleich vertritt man die Auffassung, dass
es sich um eine Entscheidung im Einzelfall handele, und nicht um eine
grundsätzliche über die bisherige Praxis der Ausländerbehörden.
„Vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer:innen“ könnten grundsätzlich
„auch vor dem zeitlichen Ablauf der Duldung abgeschoben werden.“ Etwas
anderes habe das Landgericht Verden auch nicht festgestellt.
4 Oct 2022
## LINKS
[1] /Bleiberecht-fuer-gut-integrierte-Menschen/!5861811
[2] /Nachruf-auf-Hassan-Numan/!5865830
[3] https://www.nds-fluerat.org/
[4] https://www.nds-fluerat.org
## AUTOREN
Jan Zier
## TAGS
Asyl
Urteil
Abschiebung
Boris Pistorius
Flüchtlinge in Niedersachsen
Geflüchtete
Niedersachsen
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Abschiebung
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