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# taz.de -- Der Film „Liebe, D-Mark und Tod“: Erst singen, dann streiken
> Cem Kayas Dokumentarfilm „Liebe, D-Mark und Tod“ erzählt von der Musik
> türkischer GastarbeiterInnen. Und damit vom Einwanderungsland Almanya.
Bild: Die türkischen Hochzeiten im Deutschland der 1980er waren sehr opulente …
Cavidan Ünal ist eine charismatische Person, glamourös und voller Energie.
Cavidan Ünal sieht so aus, wie man sich eine Sängerin vorstellt. In ihrer
Wohnung sitzend intoniert sie ein Lied auf Türkisch: „Deutschland, du hast
mir meine Liebe genommen. Deutschland, alles an dir ist eine Lüge. Du hast
mir mein Leben genommen. Ich hab dich satt.“ Cavidan Ünal trägt diese
Zeilen mit sichtlichem Vergnügen und mit einem Augenzwinkern vor.
Cavidan Ünal ist eine der vielen Musikerinnen und Musiker, die Cem Kaya für
seinen neuen Film interviewt hat. „Aşk Mark ve Ölüm“, auf Deutsch „Lie…
D-Mark und Tod“, feierte im Februar auf der Berlinale Premiere und
erhielt den Publikumspreis. Der Film widmet sich der Musik der aus der
Türkei stammenden Menschen in der Bundesrepublik. Er zeichnet die
Entwicklung dieser eigenständigen deutschen Musiktradition nach. Zugleich
erzählt er die Geschichte jener Menschen, die im Bewusstsein kamen,
lediglich einige Jahre in Deutschland zu verbringen, um zu arbeiten und
Geld zu verdienen. „Liebe D-Mark und Tod“ ist somit nicht weniger als eine
Geschichte der türkischen Einwanderung nach Deutschland.
## Das Singen war politisch
Die Lieder der Gastarbeiter bildeten „das hier gelebte Leben“ ab, sagte mir
Cem Kaya, als ich ihn vor ein paar Wochen traf. Wenn man sich die Texte
anhöre, vom ersten türkischen Barden in Deutschland, Metin Türköz, bis zum
HipHop und Pop von heute, ziehe sich wie ein roter Faden das Thema
Deutschland durch die Lieder. „Und das ist, selbst wenn das gar nicht
intendiert war, politisch“, meint Kaya. „Wenn es um Deutschland geht, geht
es immer um ‚Gurbet‘, also die Fremde.“
Die Sängerinnen und Sänger, die tagsüber in der Fabrik arbeiten, singen
abends Lieder, die unter anderem von der Sehnsucht nach der Heimat handeln
– hatten doch die meisten Partner, Kinder, Eltern und Freunde dort
zurückgelassen. Viele der frühen Lieder drücken eine Enttäuschung über
Deutschland aus. Sie entsteht aus der Diskrepanz zwischen den
Versprechungen, die man den GastarbeiterInnen gemacht hat, und der
tatsächlichen Arbeits- und Lebensrealität.
## Die enttäuschte Liebe zu Deutschland
Die meisten der Deutschlandlieder kommen aus dem Genre des Volkslieds, aus
der Tradition der Aşıks, der wandernden Sänger, die von Dorf zu Dorf ziehen
und sich auch über die Politik lustig machen. „Yalan Almanya“ von Ümit
Besem aber – jenes Lied, das Cavidan Ünal in der oben beschriebenen Szene
spontan in ihrem Wohnzimmer interpretiert – ist mit Synthesizer produzierte
Arabeskmusik aus den 1980ern. Arabesk ist Pop, seine Lieder handeln von
unglücklicher Liebe, in diesem Fall der enttäuschten Liebe zu Deutschland.
„Liebe D-Mark und Tod“ setzt Schwerpunkte in den 1960ern, 1970ern und
1990er Jahren. Die Zeit dazwischen wird schnell überflogen, die Gegenwart
knapp abgehandelt. Das kann man dem Film aber angesichts einer sich über
sechzig Jahre erstreckenden Geschichte kaum vorwerfen. Die Musik gibt den
Bildern den Takt vor. Und das in schneller Folge aneinander geschnittene
Material ist so interessant, dass man an vielen Stellen noch mehr wissen
möchte.
Das Filmteam hat eine Fülle von erstaunlichem Archivmaterial aus der
türkisch-deutschen Geschichte zutage gefördert. Am Anfang etwa sehen wir
Frauen, die sich noch in der Türkei ärztlich untersuchen lassen müssen, um
nach Deutschland fahren zu dürfen: „Musst Pipi machen, Krankenschwester
schaut zu.“ [1][Ein Drittel der Gastarbeiterinnen aus der Türkei waren
junge, alleinstehende Frauen, die nicht schwanger sein durften.]
## Die dunklen Seiten der Geschichte
Bald wurden Hochzeiten in Almanya gefeiert, über die der Besitzer eines
Hochzeitssaals erzählt. Diese Feiern spielten für die Musikerinnen eine
wichtige Rolle, weil sie dort gute Gagen und teils exorbitante Trinkgelder
bekamen.
Falls Sie nun den Eindruck gewonnen haben sollten, Cem Kaya zeige die
verschiedenen Facetten der deutsch-türkischen Familiengeschichte im Stil
einer Komödie, dann täuscht er. Denn Kaya und sein Team legen eine
sympathische No-Bullshit-Attitüde an den Tag. So werden auch die dunklen
Seiten dieser Geschichte beleuchtet, wenn etwa die Latrinen- und
Stammtischsprüche mancher Deutscher aus den 80ern zitiert werden: „Was ist
der Unterschied zwischen Juden und Türken? Die Juden haben’s schon hinter
sich.“
## Die liebe Gabi
Wir sehen seit ihrer Ausstrahlung oft nie wieder gezeigte Aufnahmen
zeitgenössischer Dokumentarfilme und Fernsehbeiträge. Und wir hören Musik
vor allem in türkischer, aber auch in deutscher Sprache. Manchmal wird
beides wild durcheinander gemischt wie in der Klage des Duos Derdiyoklar an
die geliebte Gabi: Die Liebe zwischen einem Ali und einer Gabi könne den
Rassismus von Kohl und Strauß nicht aufheben. Denn die forderten ja
Ausländer raus!
Derdiyoklar sind mit ihrem Disco-Folk Vorläufer des Rap, der in Deutschland
ohne den Witz und den Style der Gastarbeiterkinder nicht denkbar ist. Es
waren auch HipHop-Crews wie Fresh Familee, Microphone Mafia und Islamic
Force, die seit den 1990ern das Genre prägten und sich mit Rassismus und
Gewalt gegen Migranten und Asylsuchende auseinandersetzten.
## Das sind alles Kommunisten
Die Lieder der neuen Deutschen waren ein Weg, die eigene Stimme zu erheben,
sich miteinander zu verständigen und Erfahrungen zu teilen, zu lachen und
zu feiern. Erst wurden Lieder gesungen und Raki getrunken, dann der
Arbeitskampf organisiert. 1973 kam es zu einer Reihe von wilden Streiks in
der Bundesrepublik. Beim Autozulieferer Pierburg oder bei Ford in Köln
kämpften GastarbeiterInnen um ihre Rechte.
„Bei Pierburg hat es funktioniert, bei Ford nicht“, sagt Cem Kaya. „Der
Streik bei Pierburg war so erfolgreich, weil Pierburg in Neuss 80 Prozent
aller Vergaser in Deutschland gebaut hat. Das heißt, wenn die Bänder in
Pierburg still stehen, steht irgendwann die ganze Autoindustrie in
Deutschland still.“ Den Frauen in Pierburg verdanken es die Arbeiterinnen
bundesweit, dass die Frauenlohngruppe – also geringerer Lohn für Frauen,
weil sie Frauen sind – abgeschafft wurde.
Bei Pierburg streikten italienische, griechische, türkische und deutsche
Arbeiterinnen gemeinsam. Bei Ford distanzierten sich die deutschen
Arbeiter. „Die Polizei knüppelte die Streikenden nieder, und Gewerkschafter
machten die Durchsage: ‚Das sind alles Kommunisten, das sind alles
Aufwiegler. Hört nicht auf die Anführer des Streiks.‘ Baha Targün, einer
der Streikführer bei Ford – er war gebildet und hatte schnell Deutsch
gelernt – wurde von deutschen Medien als Zielperson auserkoren. Er musste
nach dem Streik seinen Schnurrbart abrasieren, weil er auf der Straße
angegriffen wurde als Kommunist. Und dann wurde er ausgewiesen“, erzählt
Cem Kaya.
## Bild feiert deutsche Streikbrecher
Bild stilisierte das Ende des Streiks gar zum Etappensieg im nationalen
Befreiungskampf und titelte, als gebe es neue Nachrichten von der Ostfront:
„Deutsche kämpfen ihre Fabrik frei.“ Einer der Gründe für den Ford-Streik
war, dass 300 türkische Arbeiter zu spät aus dem Heimaturlaub
zurückgekommen waren. In den Jahren zuvor hatten sie die fehlende Zeit
durch Zusatzschichten ausgeglichen. Jetzt sollte ein Exempel statuiert,
alle Spätrückkehrer sollten entlassen werden. Dabei war die meist mit dem
Auto unternommene Reise schwer zu planen. Auch Cem Kaya, 1976 in
Schweinfurt geboren, kann sich an beschwerliche Autofahrten in die Türkei
erinnern.
„Liebe D-Mark und Tod“ vermittelt auf unterhaltsame Weise grundlegendes
Wissen über die Anfänge des Einwanderungslands Almanya. „Die Jugendlichen
mit Migrationsgeschichte finden es toll, etwas über ihre eigene
Vergangenheit und die ihrer Eltern und Großeltern zu erfahren, und sind
dankbar für einen Film, der das mit Humor macht“, hat Cem Kaya beobachtet.
„Die deutschen Jugendlichen sind meist baff, weil sie diesen Teil der
deutschen Geschichte gar nicht kennen.“
29 Sep 2022
## LINKS
[1] /Autorin-ueber-Heimatverlust-und-Identitaet/!5875474
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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