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# taz.de -- Interview mit der Regisseurin Ayşe Polat: „Diese Geister verfolg…
> Ayşe Polats Film „Im toten Winkel“ behandelt ein universelles Thema. Er
> erzählt, wie Traumata über Generationen weitergegeben werden.
Bild: Regisseurin Ayse Polat
Ein Team aus Deutschland dreht im Nordosten der Türkei einen Dokumentarfilm
über den verschwundenen Sohn einer Frau in den kurdischen Bergen. Den
Kontakt zu Hatice, der Mutter des Sohnes, hat ein Anwalt hergestellt. Beim
Treffen mit dem Anwalt in der Stadt fällt dem Team ein schwarzer Pickup
auf. Bei einer Aufnahme in einem Café kann Melek, das junge Mädchen, auf
das die Übersetzerin Leyla aufpasst, dem Anwalt plötzlich die Farbe seines
Autos und den Namen seines Sohnes sagen. Bald ist klar, Leylas Nachbar
Zafer ist Teil einer kriminellen Organisation. Die Zwischenfälle beginnen
zu eskalieren. Ayşe Polats „Im toten Winkel“ erzählt die Handlung in drei
Kapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven.
taz: Frau Polat, wann haben Sie sich für die Form entschieden, die Handlung
des Films aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen?
Ayşe Polat: Die Form war recht früh da. Die zwei Filme, die ich davor
gemacht habe (A. d. R.: „Die Erbin“, 2013 und „Die Anderen“, 2016) und …
ich mit wenigen Mitteln, ohne Förderung gedreht habe, hatten auch schon
diese Form. Es ging auch um ähnliche Themen, um Traumata. Im Rückblick ist
„Im toten Winkel“ der letzte Film einer Trilogie über Traumata in der
Nordosttürkei. Während ich [1][den Dokumentarfilm „Die Anderen“] gedreht
habe, war ich oft in Istanbul und bin am Wochenende an den Samstagsmüttern
vorbei gegangen, die seit 1995 Fotos ihrer verschollenen Söhne zeigen. Das
hat mich jedes Mal sehr berührt, wie diese Mütter mittendrin in dieser
Einkaufsmeile sitzen wie eine Wunde. Mir war aber klar, ich will nicht nur
die Opferseite zeigen und ich will das Thema anders beleuchten, will eine
andere Herangehensweise nutzen.
Wie sah das konkret aus?
„Im toten Winkel“ ist ja ein Genrehybrid, fängt als Sozialdrama an und wird
zum Thriller. Es geht um den toten Winkel, den Raum, den man trotz
Hilfsmitteln nicht einsehen kann, und hier ist der Raum natürlich die
grausame Geschichte, die bis heute unverarbeitet und verdrängt ist. Dieses
unverarbeitete Trauma gebiert in dem Film über die Generationen hinweg
Geister. Diese Geister verselbständigen sich, verfolgen die Leute, um auf
sich aufmerksam machen, um benannt zu werden und so diesen Kreislauf zu
durchbrechen. Das schien mir eine gute Möglichkeit, sich dem Thema zu
nähern. Dazu kam der Entschluss, sich dem Thema auch von der Täterseite her
zu nähern und mit Found Footage, mit Handymaterial zu arbeiten. So hat sich
das aufgebaut, aber schon der allererste Entwurf des Drehbuchs vor fünf
Jahren war in drei Teile geteilt.
Im ersten Teil sucht der Kameramann des deutschen Teams, das den
Dokumentarfilm drehen will, konsequent pittoreske Bilder und damit ziemlich
zielstrebig die falschen Bilder zum Thema. Was hat es damit auf sich?
Es geht in dem Film um den Blick und das Sehen. Melek, das Kind, ist die
Einzige, die in den toten Winkel hineinschauen kann. Gleichzeitig ist „Im
toten Winkel“ auch ein Film über das Filmemachen. Dafür war es gut, mit
einem europäischen Team in die Türkei zu gehen. Aber das ist natürlich auch
ein postkolonialer Ansatz. Das Team bleibt außen vor. Dieser Kameramann hat
einfach gar keinen Bezug zum Thema, der kommt einfach dahin und will schöne
Bilder machen. Selbst bei Simone, der Filmemacherin, die interessiert ist
und sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, merkt man, allem guten
Willen zum Trotz, dass das ein äußerlicher, oberflächlicher Blick auf die
Region bleibt. Der – ohne zu viel zu verraten – nicht gut endet für das
Team.
Was hat Sie daran gereizt, sich der Repression von der Täterseite zu
nähern?
Einerseits kennt man die Opferseite schon, andererseits war es mir wichtig
zu zeigen, dass [2][die Gewalt auch auf der Täterseite Spuren hinterlässt].
Auch wenn die Spuren ganz andere sind als bei den Opfern, ist klar, dass
auch sie die Ereignisse einholen werden. Ein System, das auf Paranoia,
Angst und Kontrolle beruht, wird sich irgendwann selbst auffressen. Ich
wollte sehen, was aus denen geworden ist, die damals Hatices Sohn entführt
haben. Wie gehen die Täter mit ihren Taten um? Zafer merkt ja, dass
irgendwas nicht funktioniert, aber er kann es nicht fassen.
Der Film ist ja in der Türkei gedreht. War das ein Problem für die
Schauspieler_innen, die in der Türkei leben, einen solchen Film zu drehen?
Bis auf Aybi Era (A. d. R..: die die Übersetzerin Leyla spielt) und die
deutschen Schauspieler_innen leben alle in der Türkei. Die
Schauspieler_innen haben die Bücher bekommen und wussten, worum es in dem
Film geht. Aber am Ende ist es doch fiktional. Das Thema in einem Genrefilm
zu erzählen abstrahiert das Ganze. Der Film ist kein Abbild der politischen
Lage in der Türkei. Das wäre auch nicht meine Aufgabe, ich wollte eine
Atmosphäre einfangen. Ich wollte in dem Film etwas Universelles erzählen,
nicht nur über die Türkei und die Kurden, sondern darüber, was passiert,
wenn man Traumata über Generationen weitergibt und sich nicht mit ihnen
beschäftigt.
Çağla Yurga, die Zafers Tochter Melek spielt, stand das erste Mal vor einer
Kamera. Wie war das, mit ihr zu arbeiten?
Das war ein Glücksfall. Mir war klar, dass Melek das Herz des Filmes ist.
Wir haben ein Jahr gecastet, und dann habe ich sie gesehen. Ich hatte schon
in ihrem Showreel gesehen, dass sie einen ganz eigenen Blick hat, und dann
hatte ihre Mutter den Raum nicht gefunden und Çağla war müde und wollte
erst nicht, hat es dann aber doch versucht. Sie saß mir gegenüber und hat
mich angestarrt. Und da war diese Kombination aus diesem unglaublich Süßen
und etwas Unheimlichen.
Am Anfang war sie erst fünfeinhalb und hat gar nicht verstanden, was da
alles passiert. Es war klar, dass sie keine Texte auswendig lernen kann,
und wir haben das dann so gelöst, dass ich ihr die Texte vorgesprochen
habe, so wie ich sie haben wollte, und sie hat das eins zu eins
nachgesprochen. Aufgrund ihres Alters wird sie den Film bei der Premiere
nicht sehen. Es ist schade, dass sie den Film erst in neun Jahren sehen
kann, aber das ist halt so.
Es gibt einige Filme zum türkisch-kurdischen Verhältnis. In diese Linie
reiht sich ihr Film ein, aber würden Sie sagen, dass „Im toten Winkel“
konkrete zivilgesellschaftliche Prozesse in der Türkei aufgreift?
Das Interesse ist vielleicht eher auf der europäischen Seite. Viele wissen
ja gar nicht, was die Samstagsmütter sind, es gibt zu wenig Neugier für
das, was in der Türkei passiert. Das finde ich schade. Hier leben ja ganz
viele Menschen mit türkischen, kurdischen Wurzeln. Man hat ja in der
Reaktion auf das schreckliche Erdbeben gesehen, wie verbunden diese
Menschen bis heute mit den Ereignissen in der Türkei sind. Ich würde mich
freuen, wenn es da von deutscher, von europäischer Seite mehr
Auseinandersetzung gäbe.
Also eher eine Intervention in eine nicht vorhandene Auseinandersetzung in
Deutschland?
Das ist überspitzt, aber ich vermisse eine gewisse Neugier. Es sind ja
bestimmt auch Samstagsmütter nach Deutschland gekommen. Ich würde mir
wünschen, dass man einen Teil dieser Vergangenheit annimmt als einen Teil
der deutschen Vergangenheit. Es ist einfach auch eine Aufgabe, bestimmte
Dinge weiterzugeben und die Erinnerung aufrecht zu erhalten.
19 Feb 2023
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## AUTOREN
Fabian Tietke
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