Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Konzert der türkischen Band Lalalar: Die Suche nach neuen Verbindu…
> Die Band Lalalar setzt in ihrer extrem tanzbaren Musik Samples aus der
> türkischen Volksmusik ein. Das Istanbuler Trio kommt nach Deutschland.
Bild: Augenzwinkernde politische Statements und düstere Gegenwartsanalyse: Lal…
Es sind Sätze, die nachklingen, und das liegt nicht nur an der mächtigen
Hallfahne auf der Stimme des Sängers: „Erst fängt man an, sich selbst zu
belügen / Später dann, niemandem mehr zu vertrauen.“ Eine tiefe und volle
Stimme trägt die türkischen Verse vor, angetrieben von einer E-Gitarre, die
eine Tonleiter von oben herab spielt. Viel mehr braucht die Band Lalalar
nicht, um die Wucht ihres Werks zu entfalten.
Die drei Musiker aus Istanbul sind auf Europatour, kommende Woche
präsentieren sie in Deutschland [1][ihr aktuelles Album „Bi Cinnete Bakar“]
(etwa: Im Angesicht des Wahnsinns).
Ihre düstere Musik zeichnet sich durch treibende Bassläufe, eingängige
Rhythmen, psychedelische Gitarrenpatterns und getragenen Gesang einer
markigen Männerstimme aus. Oder, um es mit [2][Punkikone Iggy Pop] zu
sagen, der die Gruppe zuletzt in seiner BBC-Radiosendung vorstellte: „Wow,
straight out Turkey. That was Lalalar. Ali Güçlü Şimşek, Barlas Tan Özemek
and Kaan Düzarat, three of Turkey’s most innovative alternative artists.“
Şimşek spielt Bass und singt, [3][in dem Stück „Kilavuz Karga“] (Führer
Rabe) ist sein Part rhythmisch gesprochen. Der Titel ist angelehnt an ein
türkisches Sprichwort: Wer einen Raben als Vorbild hat, wird die Scheiße an
der Nase nicht los. Die passendere Übersetzung: Wenn ein Blinder den
anderen leitet, so fallen sie beide in die Grube.
## Extrem tanzbar
Trotz des an manchen Stellen fast sakral klingenden Gesangs ist die Musik
von Lalalar für die Nacht gemacht und extrem tanzbar. Einige Stücke klingen
so, als dürfte man sie ohne Nebelmaschine und Stroboskoplicht nicht
abspielen, allen voran [4][„Kötüye Bişey Olmaz“] (Dem Schlechten stößt
nichts zu).
Was Arrangement und Energie angeht, ist der Song der sechsminütige
Höhepunkt des Albums. Die Bassläufe klingen zwar auch schon in den ersten
Titeln bedrohlich, dort sind aber auch immer wieder Abwandlungen in den
Funk zu hören. „Kötüye Bişey Olmaz“ ist dagegen schön komponierte
Electronic Body Music (EBM): stampfende Beats, verzerrte und sich
überlagernde Instrumentals. Der Songtitel wird wie ein Slogan wiederholt
und am Ende mit extra viel Verzerrung in den nächsten Track getragen.
Die sloganhaft daherkommenden Songtexte zeichnen die Musik von Lalalar aus.
Kritik an der türkischen Regierung hört man da genauso deutlich wie absurde
Phrasen: „Wenn Scheiße Geld wäre, würden arme Menschen ohne Arsch geboren.…
Die Polemik wirkt zwar teilweise etwas verkopft, und an manchen Stellen ist
Rätselraten angesagt, wenn man den zahlreichen Metaphern nachgehen will.
Dennoch: Die Musik funktioniert auch ohne Verständnis der Texte.
## Psychedelischer Folkrock auf türkisch
Lalalar haben im vergangenen Jahr bei einigen großen Festivals gespielt,
etwa in Frankreich, Belgien und der Schweiz. In Besprechungen wurde die
Band einem Hype zugeordnet, den es auch in Deutschland seit einiger Zeit
gibt. Bands wie die [5][niederländisch-türkische Gruppe Altin Gün] füllen
mit psychedelischen Folkrock auf Türkisch, inklusive zugehöriger
anatolischer Harmonien und Rhythmen, Konzertsäle von Konstanz bis Kiel.
Auch wenn es Ähnlichkeiten in der Tonalität und Ästhetik gibt: Während
Altin Gün meist traditionelle türkische Folklieder interpretieren und diese
mit einem guten Gespür für Ohrwürmer einem internationalen Publikum
zugänglich machen, wirkt die Musik von Lalalar experimentierfreudiger und
wilder.
Das Album „Bi Cinnete Bakar“ erzeugt düstere Stimmung, was neben den
Bassläufen auch am Drumcomputer liegt, mit dem Kaan Düzarat die sphärischen
Gitarrenklänge Barlas Tan Özemeks zerhackt.
Der nicht nur auf Deutsch lustig klingende Bandname Lalalar ist ein
Wortspiel. Im Osmanischen Reich wurden die für die Erziehung der Prinzen
zuständigen Beamten Lālā genannt, und „-lar“ markiert auf Türkisch den
Plural. Die Lalas! Diese Lehrer galten in der Gesellschaft als hoch
angesehen und hatten den Respekt des verwöhnten Osmanenherrscher-Sprosses
sicher. Ob der Band zuzutrauen ist, sich im überdimensionierten
Präsidentenpalast der türkischen Republik Respekt zu verschaffen und im
politischen Ankara Leute zu erziehen? Zu wünschen wäre es.
## Schon lange im Musikgeschäft
Die drei Musiker sind schon länger im Geschäft. Im Gespräch mit der linken
türkischen Zeitung Bir Gün gaben sie an, dass Ali Güçlü Şimşek nach 20
Jahren „Kampf“ im Musikgeschäft auf der Suche nach etwas Neuem gewesen sei.
2018 habe er sich häufiger mit Barlas Tan Özemek unterhalten, beide seien
schon lange befreundet gewesen. Zuerst hätten sie eine trommellose Kombo im
Sinn gehabt, doch für ihre Sounds habe ihnen das verbindende Element
gefehlt.
Gegenüber Bir Gün beschreiben sie einen Gründungsmythos im wahrsten Sinne
des Wortes: In der Ägäis, bei einem gemeinsamen Treffen auf der Insel
Bozcaada, hätten sie den Synthesizermeister Kaan Düzarat gefunden. So sei
man fortan als Trio unterwegs gewesen.
Ali Güçlü Şimşek arbeitet regelmäßig mit der preisgekrönten türkischen
Indie-Künstlerin, Musikerin und Punkikone Gaye Su Akyol zusammen – diese
steuerte wiederum die Coverkunst für Lalalars aktuelles Album bei.
Trotz eines Plattenvertrags beim Genfer Label Bongo Joe wurden Lalalar in
der progressiven Musikszene der Türkei dafür gelobt, nicht für das Ausland
zu komponieren, sondern den Kontakt zur alternativen Bewegung des Landes zu
halten. Die Art, wie sie Samples aus der türkischen Volksmusik, etwa
Kemençe und Bağlama, einsetzen, klingt weniger nostalgisch motiviert als
bei anderen Gruppen, die auf der Welle des türkischen Psychedelic Rock
reiten.
## Bandiera rossa
Dur-Harmonien hört man auf „Bi Cinnete Bakar“ nur [6][im letzten Song], der
gleichzeitig auch Titel des Albums ist. Seine Melodie variiert das auch in
der Türkei bekannte italienische Arbeiterlied „Bandiera rossa“, lässt es
gemächlicher und zugleich weniger pathetisch klingen. Nach einem düsteren
Ritt durch eine bittere Gegenwartsanalyse stimmt der Song vorsichtig
hoffnungsvoll: „Was passiert, wird geschehen / Alles kann sich ändern.“
Und: „Dein Weg ist frei, du musst nur losgehen.“
Ein subtiles Statement, das in einer Türkei kurz vor den Wahlen durchaus
politisch zu verstehen ist. Schön, dass an dieses Augenzwinkern auch in
Deutschland musikalisch anknüpfbar ist.
25 Jan 2023
## LINKS
[1] https://lalalar.bandcamp.com/album/bi-cinnete-bakar
[2] /Neues-Album-von-Iggy-Pop/!5906917
[3] https://lalalar.bandcamp.com/track/k-lavuz-karga
[4] https://lalalar.bandcamp.com/track/k-t-ye-bi-ey-olmaz
[5] https://altingunband.bandcamp.com/
[6] https://lalalar.bandcamp.com/track/bi-cinnete-bakar
## AUTOREN
Cem-Odos Güler
## TAGS
Volksmusik
Psychedelic-Rock
Türkei
Istanbul
Konzert
wochentaz
deutsche Literatur
Kunst
Gastarbeiter
## ARTIKEL ZUM THEMA
Anatolische Folkmusik: Charme des Anadolu-Rock
Derya Yildirim und Graham Mushnik veröffentlichen in „Hey Dostum, Çak!“
anatolische Folksongs, die Kinder fröhlich stimmen. Und Erwachsene ebenso.
Bundespräsident über Emine Sevgi Özdamar: Grenzen überwunden
Es sei ein fulminantes Erinnerungswerk: Auszug aus der Laudatio von
Frank-Walter Steinmeier auf Emine Sevgi Özdamar zum Schillerpreis.
Istanbul-Biennale: Repression und Selbstbehauptung
Ist zeitgenössische Kunst in der Türkei noch oder wieder die Domäne der
kritischen Intelligenz? Die Frage stellt sich derzeit in Istanbul mehrmals.
Der Film „Liebe, D-Mark und Tod“: Erst singen, dann streiken
Cem Kayas Dokumentarfilm „Liebe, D-Mark und Tod“ erzählt von der Musik
türkischer GastarbeiterInnen. Und damit vom Einwanderungsland Almanya.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.