# taz.de -- Konflikt mit Aserbaidschan: Armenier fürchten weitere Schmach | |
> In Armenien trauern die Menschen um die Toten im Konflikt mit | |
> Aserbaidschan. Viele fürchten, dass ihre Regierung sich dem Druck beugen | |
> könnte. | |
Bild: Trauer in Jerewan am vergangenen Freitag um einen im Konflikt mit Aserbai… | |
JEREWAN taz | Armenische Flaggen so weit das Auge reicht, auf jedem Grab | |
eine. Vor einer der Grabstätten sitzt eine Frau auf einer Bank, das Gesicht | |
in den Händen vergraben, sie schluchzt leise. Auf der Grabplatte sind unter | |
einem großen, in den Stein eingelassenen Foto eines jungen Mannes Geburts- | |
und Sterbedatum eingraviert – 2002 bis 2020. | |
Diese Jahreszahlen wiederholen sich bei allen Gräbern in diesem Abschnitt | |
des Militärfriedhofs Erablur. Das weitläufige Areal befindet sich auf einer | |
Anhöhe rund 15 Autominuten vom Zentrum der armenischen Hauptstadt Jerewan | |
entfernt. Hier sind vor allem Soldaten begraben, die bei Kämpfen gegen | |
Aserbaidschan um die Region Bergkarabach ihr Leben verloren haben. Aber | |
auch Persönlichkeiten wie der ehemalige Regierungschef Vasgen Sargsian, der | |
1999 bei einer Schießerei im Parlament getötet wurde, haben hier ihre | |
letzte Ruhe gefunden. | |
Vor einem Grab mit Blumen und Kränzen kniet ein Mann. Vor wenigen Tagen | |
erst haben er und seine Familie den Verlobten der Tochter zu Grabe | |
getragen. „Ich hasse die Russen und die russische Sprache“, sagt er. „Was | |
wir hier sehen, das ist das unmenschliche Gesicht Russlands. Solange | |
Wladimir Putin an der Macht ist, wird es keinen Frieden geben.“ | |
In mehreren Reihen sind bereits weitere Gruben ausgehoben. Seit Mitte | |
vergangener Woche wird hier im Akkord bestattet, so auch an diesem Sonntag. | |
Auf dem Vorplatz hält ein schwarzer Mercedes mit einem Sarg. Mehrere | |
Uniformierte haben Aufstellung genommen und stimmen mit ihren Instrumenten | |
einen Trauermarsch an. Sechs Soldaten schultern den Sarg, der mit einer | |
armenischen Flagge bedeckt ist. Langsam setzt sich der Trauerzug in | |
Bewegung, dem sich immer mehr Menschen anschließen. Zurück bleibt eine | |
Gruppe. Sie umringt eine Frau, die immer wieder laute wehklagende Schreie | |
ausstößt. | |
## Beide Staaten beschuldigen sich der Eskalation | |
In der Nacht zum 13. September waren zwischen den beiden verfeindeten | |
Südkaukasusrepubliken Armenien und Aserbaidschan erneut [1][schwere Kämpfe | |
ausgebrochen]. Dabei sollen laut offiziellen Angaben aus Jerewan mindestens | |
135 Soldaten getötet worden sein. Die aserbaidschanische Seite beziffert | |
die Verluste in ihren Streitkräften auf 77. | |
Doch die Zahlen dürften weiter steigen. In Armenien soll es zahlreiche | |
Fälle von Soldaten geben, über deren Schicksal nichts bekannt ist. | |
Journalist*innen werfen der Regierung vor, Informationen bewusst | |
zurückzuhalten und die Bevölkerung im Unklaren zu lassen. | |
Beide Staaten beschuldigen sich gegenseitig, für die Eskalation | |
verantwortlich zu sein. Dabei hatten sich die Kampfhandlungen nicht nur auf | |
das Grenzgebiet beschränkt. Auch Orte wie Dschermuk im Landesinneren von | |
Armenien waren zum Ziel von Angriffen geworden. | |
Der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um die damals mehrheitlich | |
von Armenier*innen bewohnte Region Bergkarabach geht auf das Ende der | |
80er Jahre zurück. Ein mehrjähriger Bürgerkrieg forderte rund 30.000 Tote. | |
Die Kontrolle über Bergkarabach sowie sieben an die Region angrenzende | |
Gebiete übernahm Armenien. | |
## Armenier wünschen sich Unterstützung von Russland | |
Im September 2020 brach erneut ein Krieg aus, mehr als 6.500 Menschen kamen | |
uns Leben. Er endete mit einem – von Russland vermittelten – | |
[2][Waffenstillstand] und wird in Armenien als schmachvolle Kapitulation | |
empfunden. Sowohl die sieben Rayons als auch Teile von Bergkarabach fielen | |
an Aserbaidschan. Die Einhaltung des Waffenstillstands sollen rund | |
[3][2.000 russische Soldaten] sichern. | |
Am Sonntag gingen in Jerewan Hunderte Menschen und damit deutlich weniger | |
als vier Tage zuvor auf die Straße. Sie forderten Armeniens Austritt aus | |
dem von Russland geführten Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrages | |
über kollektive Sicherheit), engere Verbindungen zu den westlichen Staaten | |
sowie die Stationierung von UN-Friedenstruppen an der Grenze zwischen | |
Armenien und Aserbaidschan. | |
Eine der Adressat*innen für die Protestkundgebung dürfte die Sprecherin | |
des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi gewesen sein, die Armenien am | |
vergangenen Wochenende einen zweitägigen Besuch abstattete. Die USA stünden | |
an der Seite Armeniens und unterstützten die Sicherheit sowie die | |
Demokratie des Landes, sagte Pelosi am Sonntag in Jerewan. | |
Unterstützung in dem Konflikt wünscht sich die Mehrheit der | |
Armenier*innen vor allem von Russland, das jedoch zusehends als | |
unsicherer Kantonist gilt. Bereits 2020 war Moskau einer Bitte des | |
armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan, OVKS-Truppen zu entsenden, | |
nicht nachgekommen. Ob Russland derzeit bereit und willens ist, | |
Schützenhilfe zu leisten, ist ebenfalls unklar. | |
## Die Angst, alleingelassen zu werden | |
Dabei steht für Armenien einiges auf dem Spiel. Ende August übernahm | |
Aserbaidschan die Stadt Latschin. Durch sie sowie die gleichnamige Region | |
führt die bislang einzige Straße, die Armenien mit Bergkarabach verbindet | |
(Latschin-Korridor). Das Waffenstillstandsabkommen vom November 2020 sieht | |
den Bau einer neuen Verbindungsstraße vor. Mit deren Fertigstellung sollen | |
die im Korridor liegenden Ortschaften unter die Kontrolle Aserbaidschans | |
kommen. | |
Doch es geht Baku noch um die Schaffung eines weiteren Korridors im Süden | |
Armeniens. Das Ziel ist die Schaffung einer Verbindung in die autonome | |
Republik Nachitschewan, die als Exklave zu Aserbaidschan gehört und auf | |
einer Länge von 17 Kilometern an die Türkei grenzt. Ankara steht in diesem | |
Konflikt an der Seite Aserbaidschans. | |
Die armenische Journalistin Sona Martirosyan geht davon aus, dass sich | |
Ministerpräsident Nikol Paschinjan jetzt nach den jüngsten Kampfhandlungen | |
den Bedingungen Aserbaidschans beugen wird. „Unsere Armee ist für einen | |
Krieg nicht gerüstet“, sagt sie. Am Ende könnte das auch auf eine | |
Demilitarisierung von Bergkarabach hinauslaufen, wo derzeit 2.000 Mann | |
unter Waffen sind. | |
Dort geht offensichtlich die Angst um, alleingelassen zu werden und | |
Aserbaidschan schutzlos ausgeliefert zu sein. In den vergangenen Tagen | |
wurden Unterschriften gesammelt und diese Liste an Moskau gesandt. Die | |
Forderung lautet, an die rund 100.000 Einwohner*innen Bergkarabachs | |
russische Pässe zu verteilen. | |
Im Zentrum von Jerewan in einer Parkanlage namens Malibu mit Cafés und | |
Wasserspielen, die abends in mehreren Farben beleuchtet sind, steht ein | |
blau-gelbes Zeit. Drum herum stapeln sich Pappkartons mit Zigaretten, | |
Kleidungsstücken, Öl- und Wasserflaschen, Bonbons, Keksen und Konserven. An | |
zwei Bäumen hängen Pappschilder. „Betet für Armenien, helft unseren | |
Soldaten“, „Armenien ist in einer Kriegssituation, wir sammeln Hilfe, um | |
sie an die Front zu schicken. Ihr könnt uns helfen!“, steht da auf Englisch | |
geschrieben und: „Armenien will Frieden, Aserbaidschan will Armenien!“ | |
Ein junger Mann, der mit einer Gruppe von einem Dutzend Gleichaltriger | |
Kisten aus- und umpackt, sagt, dass das blau-gelbe Zelt nichts mit der | |
Ukraine zu tun habe, aber ein anderes sei nicht da gewesen. „Unsere | |
Soldaten brauchen alles, Kleidung, Schlafsäcke, Handtücher. Wir nehmen, was | |
wir kriegen können“, sagt er. Aber die Aktion sei vor allem eine moralische | |
Hilfe für die Truppe. Sein Kumpel sagt, noch gebe es keine | |
Generalmobilmachung, aber niemand wisse, was da noch kommen werde. Er nimmt | |
seine Freundin fest in den Arm. | |
An diesem Mittwoch begeht Armenien seinen Unabhängigkeitstag. Zum Feiern | |
ist niemandem zumute, Konzerte und viele Veranstaltungen sind abgesagt. | |
Viele fürchten, Aserbaidschan könnte für diesen Tag einen besonderen Gruß | |
für den verhassten Nachbarn bereithalten. | |
19 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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