# taz.de -- Auslaufendes 9-Euro-Ticket: Und was ist mit dem Klima? | |
> Bald ist das bundesweite 9-Euro-Ticket Geschichte. Aus sozialer | |
> Perspektive hat die ÖPNV-Flatrate ihren Zweck erfüllt. Und aus | |
> ökologischer? | |
Bild: Sozial und ökologisch wichtig, ob für 9 Euro oder mehr: Nahverkehr in S… | |
Am kommenden Montagvormittag startet in Berlin-Gesundbrunnen ein Sonderzug | |
mit sieben Waggons, an Bord werden Aktivist:innen Transparente | |
schwenken und lautstark die Verlängerung des 9-Euro-Tickets fordern. „Wir | |
Bürger*innen lieben das 9-Euro-Ticket!“ heißt es im Aufruf der | |
Organisationen Campact und Greenpeace. Nach der Ankunft am Potsdamer Platz | |
wollen die Aktivist:innen zum Finanzministerium von Christian Lindner | |
(FDP) ziehen – demjenigen, dem die [1][Verantwortung für das anschlusslose | |
Auslaufen] der Fahrkarte zugeschrieben wird, weil er partout kein Geld | |
dafür lockermachen will. | |
In der nächsten Woche endet der Sommer des unbeschwerten Bus- und | |
Bahnfahrens, [2][dann ist das 9-Euro-Ticket Geschichte]. Ab dem 1. | |
September gelten im Nahverkehr wieder hohe, mitunter kaum zu durchschauende | |
Tarife. Ob es in absehbarer Zeit ein neues Angebot für ein bundesweit | |
einheitliches Ticket gibt, ist ungewiss. | |
Das 9-Euro-Monatsticket ist Teil des Entlastungspakets der Bundesregierung, | |
um günstige Mobilität zu ermöglichen. Wer eine ÖPNV-Abokarte, ein Job- oder | |
Semesterticket hat, bekommt den Differenzbetrag erstattet und kann damit | |
bundesweit fahren. Eines steht fest: Seinen [3][sozialen Zweck] hat das | |
Ticket erfüllt. Besonders Menschen mit wenig Geld ermöglichte die Flatrate | |
Bewegungsfreiheit. | |
„Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass Haushalte mit wenig Einkommen das | |
Ticket richtig gut genutzt haben“, sagt der Berliner | |
Verkehrswissenschaftler Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für | |
Sozialforschung. „Den Effekt haben wir unterschätzt, das ist eine | |
unerwartete Erkenntnis.“ Dabei haben keineswegs nur Haushalte mit wenig | |
Geld von der Billigfahrkarte profitiert. „Das Ticket ist in der Mitte der | |
Gesellschaft angekommen“, sagt die Verkehrsforscherin Claudia Nobis vom | |
Deutschen Institut für Luft- und Raumfahrt. „Es ist quer durch die ganze | |
Gesellschaft genutzt worden.“ | |
Etwa zu der Zeit, zu der am Montag die Aktivist:innen vor Lindners | |
Ministerium demonstrieren, werden Bundesverkehrsminister Volker Wissing | |
(FDP) und einige Landesverkehrsminister:innen zu einer | |
Online-Pressekonferenz zusammenkommen. Wissing will die Auswertung der | |
Marktforschung zum 9-Euro-Ticket abwarten, die der Verband Deutscher | |
Verkehrsunternehmen (VDV) in Auftrag gegeben hat, bevor er sich zu einem | |
möglichen Nachfolgeprojekt positioniert. Die wird wahrscheinlich im | |
November vorliegen. | |
Die Kosten für das 9-Euro-Ticket in Höhe von 2,5 Milliarden Euro hat der | |
Bund übernommen – als Gegengewicht zum Tankrabatt, der ebenfalls ausläuft. | |
Aus Wissings Sicht liegt der Ball ohnehin im Feld der Länder. „Entscheidend | |
ist, dass die Länder sich einig sind, wie es weitergeht“, sagt ein Sprecher | |
des Bundesverkehrsministeriums. „Aber es gibt keinen geeinten Vorschlag.“ | |
Die Länder wären sich wohl schnell einig, wenn der Bund die Finanzierung | |
einer Anschlusslösung übernehmen würde. Doch FDP-Chef Lindner ist strikt | |
dagegen. Bislang verweigert die FDP nicht nur das, sondern auch die aus | |
Sicht der Länder nötige Aufstockung der Mittel für den Ausbau des ÖPNV. Die | |
Länder sehen sich deshalb nicht dazu in der Lage, eine Anschlusslösung aus | |
eigener Kraft zu stemmen. | |
Bei der Pressekonferenz am Montag präsentieren die | |
Verkehrsminister:innen vorläufige Ergebnisse der Marktforschung. | |
Dafür werden 78.000 Personen ab 14 Jahren befragt. Eine verbreitete | |
Auffassung ist, dass [4][das 9-Euro-Ticket vor allem in der Freizeit | |
genutzt] wird. Das bestätigen die vorläufigen Ergebnisse nicht, sagt Jan | |
Schilling, Geschäftsführer ÖPNV beim VDV. Demnach wird das Ticket | |
überwiegend für Alltagsfahrten genutzt, etwa zur Arbeit oder zur Schule. | |
Neben dem Preis geben 40 Prozent der Befragten als wichtigsten Kaufgrund | |
den Verzicht aufs Autofahren an. Trotz teilweise überfüllter Züge und Busse | |
erklärten 88 Prozent der Befragten, mit ihrer letzten Fahrt mindestens | |
zufrieden zu sein. „Jede:r Fünfte war sogar vollkommen zufrieden“, | |
berichtet Schilling. Von denjenigen, die das Ticket nicht gekauft haben, | |
erklärte rund ein Drittel, lieber mit dem Auto zu fahren. | |
Mit dem 9-Euro-Ticket endet ein einmaliger Feldversuch. In Berlin, Hamburg, | |
Köln, München, Dresden und etlichen weiteren Orten arbeiten | |
Verkehrsforscher:innen an Studien. „Aus wissenschaftlicher Perspektive | |
bietet das 9-Euro-Ticket die herausragende Möglichkeit, sozusagen als | |
Reallabor, eine Datenbasis mit Aussagekraft zum Potenzial des öffentlichen | |
Verkehrs zu gewinnen“, sagt Angela Francke, Professorin für Radverkehr und | |
Nahmobilität an der Universität Kassel. Diese Gelegenheit habe „mit | |
Sicherheit ein Stück weit Enthusiasmus ausgelöst, in einem | |
gesellschaftlichen Experiment für drei Monate genau untersuchen zu können, | |
wie der Beitrag des öffentlichen Verkehrs zur Verkehrswende aussehen kann“. | |
Laut den ersten Ergebnissen ihrer Studie beeinflusst unter anderem die | |
eigene Bewertung der ÖPNV-Infrastruktur vor Ort die Entscheidung für das | |
9-Euro-Ticket. Genutzt wird es demnach – anders als nach den Ergebnissen | |
der VDV-Marktforschung – vor allem für Tagesausflüge und Besuche von | |
Freund:innen und Verwandten, nur wenig für die Alltagsmobilität. | |
Ob wegen des 9-Euro-Tickets weniger Leute mit dem Auto gefahren sind, | |
werden die Ergebnisse von Verkehrszählungen zeigen. In Berlin etwa gibt es | |
Hinweise darauf, dass die Zahl der Pkw-Fahrten gesunken ist, sagt Klaus | |
Emmerich von den Berliner Verkehrsbetrieben. „Das gilt ganz besonders an | |
den Wochenenden.“ Dass Bürger:innen eher in der Freizeit aufs Autos | |
verzichten und Bus oder Bahn nehmen, findet er plausibel. Denn hier fallen | |
Änderungen leichter. Alltagsroutinen in einem kurzen Zeitraum zu ändern, | |
ist dagegen schwer. | |
Der Preis allein ist indes offenbar nicht entscheidend dafür, dass ein | |
günstiges Tickt auch ökologisch etwas bringt. „Aus klimapolitischer | |
Perspektive wären weitere Maßnahmen erforderlich“, sagt Philipp Kosok, | |
Projektleiter Öffentlicher Verkehr beim Thinktank Agora Verkehrswende. Dazu | |
gehören ein Ende des Dienstwagenprivilegs oder höhere Parkgebühren. „Die | |
Kosten, die ein Auto verursacht, müssen dem Halter auch angelastet werden“, | |
fordert Kosok. Dass der massive Ausbau des ÖPNV erforderlich ist, ist für | |
Kosok wie für alle Verkehrsexpert:innen keine Frage. Wenn es keine | |
Verbindungen gibt, hilft auch eine günstige Fahrkarte nicht weiter. | |
Das 9-Euro-Ticket hätte der Anfang für eine Trendwende in der | |
Verkehrspolitik sein können, sagt Kosok. „Es ist ernüchternd, dass es für | |
die Bundesregierung nicht Anstoß für eine weitergedachte Strategie der | |
Verkehrswende ist“, sagt er mit Blick auf die fehlende Anschlusslösung. „Es | |
ist enttäuschend, dass die Regierung nicht mit weiteren Instrumenten | |
aufwartet.“ | |
Das sieht Verkehrsforscher Knie ebenso. Er plädiert auch zu | |
Forschungszwecken für ein Nachfolgeprojekt über ein ganzes Jahr: 29 Euro im | |
Monat soll es seiner Überzeugung nach kosten, anders als das 9-Euro-Ticket | |
aber auch in Fernzügen und für die sogenannte letzte Meile gelten, also das | |
Taxi, den E-Scooter oder das Leihrad für den Weg vom Bahnhof oder der | |
Haltestelle nach Hause. „Damit werden alle ein Jahr entlastet“, sagt er. | |
Die dafür nötigen 14 Milliarden Euro könnten über das Ende der | |
Dieselsubventionierung, die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs und die | |
Entfernungspauschale finanziert werden. | |
26 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anja Krüger | |
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