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# taz.de -- Gospelmusik von Staples Jr. Singers: Spirituelle Kohle von oben
> „When Do We Get Paid“, das sagenumwobene Album der Gospelband ist nun
> erhältlich. Geschichte einer Schatzsuche.
Bild: Die Staples Jr. Singers ca. 1976: Annie, Edward und A.R.C. stehen rechts
Als Greg Belson, selbsternannter „Vinyl-Archäologe“, Yale Evelev vom New
Yorker Label Luaka Bop für eine geplante Gospel-Soul-Compilation die Single
[1][„We Got a Race to Run“] zu hören gab, war Evelev sofort von der Musik
überwältigt: Roh, energisch und mit einer Message klang der Song.
Unorthodox zwischen Blues, [2][Gospel] und Funk changierend. Nur, wer war
diese Band, die diesen upliftenden Song in den 1970ern irgendwo in
Mississippi, tief im US-Süden aufgenommen hatte? Wer waren diese Staples
Jr. Singers?
Evelev fing an, nach der Gruppe zu forschen und stieß auf ihr einziges
Album von 1975: [3][„When Do We Get Paid“]. Dann fasste er einen
Entschluss: Ihre Musik muss wieder zugänglich gemacht werden. Und dafür
wollte er diese scheinbar in Vergessenheit geratene Band aus der Kleinstadt
Aberdeen in Mississippi unbedingt ausfindig machen.
„Yale rief jede Annie Brown – so hieß die Leadsängerin der Gruppe – im
regionalen Telefonbuch an, deren Nummer er finden konnte. Bis er
schließlich eine Frau sprach, die sagte: Du suchst nicht nach Annie Brown,
du suchst nach Annie Caldwell! Annie hatte geheiratet und den Namen ihres
Mannes angenommen.“ Dann führte Evelev ein denkwürdiges Telefonat mit Annie
Caldwell.
## „Ich habe zwei Jahre nach Ihnen gesucht“
Er begann mit diesem Satz: „Ich habe zwei Jahre nach Ihnen gesucht“,
erzählt Eliza Grace Martin von Luaka Bop, die heute mit den Staples Jr.
Singers zusammenarbeitet. Es stellte sich zwar heraus, dass die Band nicht
mehr aktiv war. Doch: Die drei Gründungsmitglieder, die Geschwister Annie
Caldwell, R. C. und Edward Brown erfreuten sich des Lebens. Noch schöner:
Sie haben auch nie aufgehört, Musik zu machen.
Von ihrem Album „When Do We Get Paid“ besitzen sie noch genau ein Exemplar:
Zerfleddert und zerkratzt, da immer und immer wieder abgespielt von der
ganzen Familie. Vor langer Zeit hatten sie eine geringe Stückzahl Platten
gepresst und aus dem Vorgarten heraus an ihre Nachbarn verkauft. „Wir
dachten, über die Sache wäre längst Gras gewachsen“, befürchtete Annie.
Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in West Point, wenige Meilen von ihren
Brüdern R. C. und Edward, die aus Aberdeen zugeschaltet sind. Noch heute
leben die beiden im selben Viertel, in dem sie auch aufgewachsen sind. Alle
drei haben sie ein geregeltes bürgerliches Leben geführt: R. C. und Edward
– mittlerweile in Rente – arbeiteten in verschiedenen [4][Fabrikjobs].
Annie nähte in einer Kleiderfabrik, inzwischen führt sie eine eigene
Boutique. Sie sprechen mit starkem Südstaaten-Akzent.
## Moderne Lokalhelden
Landesweit berühmt geworden sind die Staples Jr. Singers damals nicht, rund
um Aberdeen erlangten sie jedoch den Status von Lokalhelden. Einerseits
waren die Staples Jr. Singers eine typische Familienband, die Gospel und
Soul spielte, wie es das in den 1970ern in schwarzen Communitys im Süden
öfter gab, andererseits waren sie für ihre Zeit außergewöhnlich modern,
findet Martin: „Es geht nicht nur um Gott im traditionellen religiösen
Sinne, sondern vielmehr um [5][Zusammenhalt]. Viele Gospelgruppen
experimentierten zu dieser Zeit mit R&B und Soulmusik“, erzählt Martin.
„Unsere Musik war besonders innovativ, wir haben sie mit universellen
Botschaften versehen, die nichts mit den traditionellen Gospel-Liedern zu
tun hatten.“ Und somit passen Staples Jr. Singers perfekt in das
progressive Konzept von Luaka Bop, dem Label, das David Byrne, ehemals
Sänger und Gitarrist der Talking Heads, eigens gegründet hatte. Luaka Bop
ist dafür bekannt, unbekannte und in Vergessenheit geratene Musik aus aller
Welt (wieder) zu veröffentlichen. Als R. C., Annie und Edward anfingen,
zusammen zu performen, waren sie gerade Teenager auf der Highschool.
Annie übernahm mit Edward den Gesang, R. C. spielte Gitarre. Nach und nach
schlossen sich ihnen auch ihre jüngeren Geschwister an. Ein Foto gibt es
noch von den damaligen Staples Jr. Singers: es zeigt sechs Teenager – die
Mädchen in schicken Kleidern, die Jungs in dunklen Anzügen. Neben den drei
Gründungsmitgliedern sind Ronnie (Bass), Cleveland (Backup-Gesang) und
Annice Brown (Gesang) dabei.
## Autodidakten spielen Musik
Singen und Spielen haben sie sich selbst beigebracht, erzählen die
Geschwister. Beeinflusst durch ihre Namensvetter, die „Staple Singers“,
ebenfalls eine US-Gospel-Blues-Familienband. „Ich saß im Wohnzimmer meiner
Mutter und hörte den Bands zu, die wir liebten, genoss das Zeug richtig. Da
wollte ich Sänger werden“, erzählt Edward. Sein Vater kaufte R. C. eine
Gitarre, da war dieser gerade erst zehn geworden. Er könne wirklich alles
spielen, meint sein Bruder. „Wir hörten uns den Sound von anderen Liedern
an. Er nahm die Gitarre in die Hand, begann zu spielen und wir fingen
einfach an zu singen.“
In der Öffentlichkeit waren es zunächst Annie und R. C., die in der Schule
für ihre Klassenkamerad:Innen sangen. Dann kam Edward, der Älteste,
dazu. Zunächst spielten sie in der Nachbarschaft. Bald darauf traten sie in
Kirchen, bei Schul-Talentshows und in Gospelgottesdiensten in der ganzen
Region auf. Alle seien begeistert gewesen von der Musik der Teenager, die
„wirklich“ performen konnten, meint Martin.
Dann tourt die Gruppe durch den „Bible Belt“, der Region in den Südstaaten,
die kulturell vor allem durch den evangelikalen Protestantismus geprägt
ist. Die Familie fühlt sich der Pfingstbewegung zugehörig – einer
christlichen Erweckungsbewegung, in deren Mittelpunkt spirituelle
Erfahrungen mit dem Heiligen Geist stehen. Viele Kirchen, in denen sie
damals aufgetreten waren, sind unorthodoxe Gotteshäuser, sogenannte
Storefront-Churches: leerstehende Läden, die zu gottesdienstlichen Zwecken
umfunktioniert wurden.
## „Von Gott gewollt, dass ich singe.“
Fragt man Annie, wie sie gelernt hat zu singen, erzählt sie, dass es auf
wundersame Weise von Gott gewollt gewesen sei. „Wir sind in der Kirche
aufgewachsen: Meine Mutter war Predigerin, mein Vater Diakon. Wir haben
schon in jungen Jahren angefangen, beim Gottesdienst zu musizieren“, sagt
sie. „Die Songs kommen mitten aus unserem Leben.“ Und sie sind für sie auch
immer eine Kommunikation mit Gott.
Im entspannt-melancholischen Song „When Do We Get Paid“, der ihrem Album
den Titel gab, ist eine Anspielung an „When Will We Be Paid“ von den Staple
Singers. Edward stellt sich mit prägnanter Stimme genau diese Frage: „Wann
werden wir endlich bezahlt, für die Arbeit, die wir getan haben?“ Seine
Antwort: „Ich mache mir darüber keine Sorgen, ich weiß, dass der Herr mich
eines Tages dafür belohnen wird.“
Im Hintergrund das bluesige, solide Gitarrenspiel von R. C. und der volle
Backgroundgesang von Annie. Trotz melancholischen Anklängen wirkt es leicht
und zuversichtlich, weil der Glaube spielend durch die Musik und die Lyrics
hindurchdringt. Im Nachhinein – 40 Jahre später – klingt es fast schon
prophetisch, auch wenn es den Staples Jr. Singers bei der anstehenden
Bezahlung nicht direkt um eine irdische geht.
## Kaum Aufzeichnungen über schwarze Kultur
Auch die Geschichte der schwarzen Community fließt in die Songs mit ein.
Die Stadt Aberdeen, Hafenstadt am Tombigbee River und Eisenbahnknotenpunkt,
ist geprägt von der Baumwollindustrie, Rassismus spielt bis heute im Alltag
eine Rolle. Fast drei Viertel der Bevölkerung sind schwarz. Dennoch: „Es
gibt kaum Aufzeichnungen über die Geschichte der schwarzen Kultur in
Aberdeen“, sagt Martin. „Der Historiker im Stadtarchiv hatte noch nie etwas
von den Staples Jr. Singers gehört.
Die schwarzen Communitys, in denen Annie, R. C. und Edward bekannt waren,
wurden von der weißen Gemeinschaft nicht anerkannt.“ Zwar besuchten alle
Geschwister eine integrierte Schule, doch ihre Konzerte waren geprägt von
der Segregation. „Wollten wir in einem Restaurant spielen, durften wir oft
nicht hinein, wenn doch, mussten wir ins Hinterzimmer. Davon haben wir uns
nie beirren lassen und einfach weitergemacht“, sagt Edward.
Über 40 Jahre ist die Musik des Albums nun alt. Während dieser Zeitspanne
hat sich die Welt um die Staples Jr. Singers grundlegend gewandelt:
persönlich, weltpolitisch, musikalisch, gesellschaftlich. Die Songs, die
die Staples Jr. Singers im Teenageralter komponiert haben, stoßen aber auch
heute auf Resonanz. Im Mai trat die Gruppe zum ersten Mal wieder gemeinsam
auf, im Herzen des weltlichen New York.
Eines der vier Konzerte fand mitten auf der Straße statt. Verzückte
Autofahrer:innen hielten auf der Straße an, um zuzuhören, blockierten
den Verkehr, erzählt Martin. „Ihnen beim Spielen zuzusehen, ist
beeindruckend. Man hat das Gefühl, dass sie damals zu ihrem zukünftigen Ich
sprachen. Sie wissen so viel mehr über die Welt, das Leben und seine
Härten“, sagt sie. Nun sind weitere Konzerte in Planung. Eventuell sogar
eine Europa-Tournee. „Diese Musik ist so roh, energiegeladen und
gefühlvoll, da hoffen wir einfach, dass sie überall Leute bewegt.“
Und die „Singers“ selbst? Sie glauben an ihre Musik. Aber was karrieremäß…
auch kommen mag, in einem Thema sind sie sich einig: „Gott ist immer noch
derselbe Gott wie früher, unsere Lieder haben deswegen dieselbe Bedeutung
und sie fühlen sich genauso an wie damals für uns.“
13 Aug 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=xtyutlKAjYQ
[2] /Gospel-mit-Schmackes/!5647456
[3] https://staplesjrsingers.bandcamp.com/album/when-do-we-get-paid
[4] /Nachruf-auf-Bill-Withers/!5676483
[5] /US-Produzent-Galcher-Lustwerk/!5643239
## AUTOREN
Ruth Lang Fuentes
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