# taz.de -- Britische Fankultur Northern Soul: Keep Up The Spirit | |
> Northern Soul ist eine in Deutschland wenig beachtete Fankultur, | |
> mittlerweile ist der Funke übergesprungen. Das zeigen ein Buch und eine | |
> Kölner Partyreihe, die nun ihr Jubiläum feiert. | |
Bild: Blick in den Zuschauerraum vom DJ-Pult beim Allnighter „Soulful Shack�… | |
Ein Roman, mehrere Liebeserklärungen auf einmal: Benjamin Myers stellt | |
diese polyamorische Anordnung in seinem neuen Werk „Strandgut“ null | |
überfrachtet dar. Lakonisch und leidenschaftlich zugleich schildert der | |
britische Schriftsteller, wie Musik Menschen bewegt, und wie Menschen, die | |
für Musik leben, allen Demütigungen zum Trotz weitermachen. Und genau darin | |
die Würde an den Tag legen, der es denjenigen, die gerne demütigen, | |
grundsätzlich fehlt. | |
Zunächst: Myers setzt in „Strandgut“ dem klassischen US-Soulsound der | |
1960er und 1970er abseits der großen Namen ein Denkmal. Er kocht | |
Soul-Mythen auf molekulare Songs ein, sodass der Gegenstand konkret wird, | |
klein vielleicht, aber – frei nach Peter Hacks – niemals eine Kleinigkeit. | |
Es geht in „Strandgut“ ausführlich um das Schmachten des fiktionalen | |
Sängers Earlon „Bucky“ Bronco, der [1][mit seiner Ekstase und Präsenz die | |
Hoffnungen und Ängste, die Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen der Black | |
Community in den USA] in dem zweieinhalbminütigen Song „Until the Wheels | |
Fall Off“ zusammengefasst hat. Er wurde zwar als Single veröffentlicht, der | |
große Erfolg blieben Song und Künstler jedoch verwehrt. | |
## Wut und Black Power | |
Bucky hat die Musikindustrie nur als bedrückende Welt mit fiesem Manager, | |
Frohndienst im Studio und Knebelvertrag erlebt. Mit seinem Bruder besuchte | |
Bucky 1968 [2][ein empowerndes Konzert von James Brown], wird angesteckt | |
von Black-Power-Wut und wandert wegen einer dummen Geschichte in den Knast. | |
Zu dieser fiktionalen Story lassen sich in der realen Geschichte von | |
US-Soul zahlreiche Parallelen finden. Nicht zuletzt in James Browns | |
Biografie selbst. | |
Myers lässt diese in den USA längst versunkene Popwelt an einem | |
unwirtlichen Ort wieder auferstehen: im nordenglischen Seebad Scarborough, | |
selbst ein verwunschenes Städtchen mit maroder Strandpromenade, | |
heruntergekommenen Hotelpalästen und fetttriefenden Imbissstuben. Die | |
passende Kulisse für „Strandgut“, dazu noch das grauenvoll nasskalte | |
Wetter! Hier trifft Myers’ Protagonist Bucky auf seine britischen Fans. | |
Northern Soul wird der Kult um afroamerikanische Musik in England genannt, | |
eine zähe, [3][immer wieder sich verjüngende], einfach nicht totzukriegende | |
Fankultur, in der es neben Musik auch um Mode, Tanzstile und | |
Sammelleidenschaft geht. Sta-Prest Hosen, Röcke mit Hahnentrittmuster, | |
Halbschuhe mit Quasten, aber auch Amphetamine, um die nächtlichen | |
Tanzmarathons durchzustehen und [4][die Jagd nach seltenen Schallplatten], | |
deren Cover beim Auflegen von den DJs verklebt werden, damit die Konkurrenz | |
nicht weiß, welcher Song gerade gespielt wird. | |
## In den Tanzsälen der alten britischen Seebäder | |
Die „Allnighter“ genannten Northern Soul-Tanzparties haben tatsächlich ab | |
Ende der 1960er in alten Tanzsälen von Blackpool bis Wigan ihren Anfang | |
genommen, als Fortsetzung der Modkultur. Traten dabei zunächst R&B-Bands | |
live auf, haben bei den Allnightern recht bald DJs Platten aufgelegt, es | |
gab höchstens Showcases mit Gastsänger:Innen. | |
Das Adjektiv „Northern“ von Northern Soul bezieht sich nicht auf die USA, | |
sondern auf die genuin nordenglische Vorliebe für seltene US-Platten, | |
verzinktere, düstere, in Vergessenheit geratene Soulsongs; gerne von | |
obskuren Interpret:Innen auf kleinen Labels. Der schottische Journalist | |
Stuart Cosgrove hat Northern Soul als musikalisches Pendant zum Film Noir | |
beschrieben, womit er recht hat: Düsternis, Schatten und Licht sind | |
wiederkehrende Momente in den Songtexten. | |
Das emanzipative Moment ist tonangebend, aber eher als individuelles | |
Schicksal. Es ist ein Kunstgriff von Benjamin Myers, dass er in „Strandgut“ | |
reale Northern Soul-Hymnen, wie „6 By 6“ von Earl Van Dyke und „Blowing Up | |
My Mind!“ von den Exciters einfließen lässt, er hat gut recherchiert. | |
## Die Kundschaft aus dem Norden | |
Es heißt, „Northern Soul“ als Begriff sei in einem Londoner Plattenladen | |
geprägt worden, um den raueren Geschmack von Kundschaft aus Manchester und | |
weiter nördlich zu fassen. Der Originaltitel von Myers Roman erklärt jene | |
Leidenschaft besser: „Rare Singles“. Fans geben schon mal Unsummen für | |
seltene Northern-Soul-45er aus, die in den USA längst vergessen sind. Das | |
Northern-Soul-T-Shirt-Motto ist eine geballte schwarze Faust und der Slogan | |
„Keep Up The Spirit“, der besondere Geist von Party und Musik, er muss | |
bewahrt werden. | |
In Deutschland setzte die Rezeption von Northern Soul mit rund 15-jähriger | |
Verspätung ein. Es gab zwar ab den 1970ern an Standorten der US-Army | |
Diskotheken, in denen Funk und Disco-Platten gespielt wurden, aber kaum | |
Soul. Mods traten erst als Revival in den 1980ern in Erscheinung. 1984 | |
veröffentlichten die Kölner Autor:Innen Clara Drechsler und Gerald | |
Hündgen dann im Musikmagazin Spex einen zweiteiligen Artikel über die | |
britische Northern-Soul-Tradition, wie sie sie bei einer Reportagereise | |
selbst vor Ort beobachtet hatten. | |
Hündgen war es auch, der mit anderen DJs in Köln 1985 die Partyreihe | |
„Soulful Shack“ etablierte. Sie gilt als erste Northern-Soul-Party in | |
Westdeutschland und findet mit Unterbrechungen bis heute statt. Zum 40. | |
Jubiläum ist nun ein Büchlein erschienen, das auf der morgen steigenden | |
runden Geburtstagsfeier erstmals verkauft wird. | |
## Über den Umweg Punk | |
Northern Soul ist hierzulande nur über den Umweg von Punk heimisch | |
geworden: „An jeder Ecke begegnete uns eine Musik, die vor Punkrock da war | |
und nach allem anderem weiterlebte (es ist nicht Genesis…)“, schreibt Clara | |
Drechsler erfrischend spitzfindig im Vorwort. Die Wühlarbeit von „The | |
Soulful Shack“ hat sich gelohnt, [5][der Funke ist übergesprungen]. | |
Inzwischen gibt es hierzulande in vielen Großstädten Allnighter, sogar | |
Weekender nach britischem Vorbild, zu denen selbst britische Ultras | |
anreisen. Wobei die hiesige Northern-Soul-Szene überschaubar bleibt. Die | |
Engländer:Innen haben halt die besseren Platten und die längere | |
Tradition. | |
Zurück zu „Strandgut“. Von der Verehrung jenseits des Atlantiks hat | |
Soulsänger Bucky in Chicago nie etwas mitbekommen. Für die Single, die er | |
eingesungen hat, kassierte er einmalig 75 US-Dollar Gage. Seit seine Frau | |
verstorben ist, verliert er an Halt. Er musste sich nach dem vorzeitigen | |
Ende der Sängerkarriere als Boxer durchschlagen. In England, wo seine | |
einzige, 1969 veröffentlichte Single umkultet ist, kommt er als Wrack mit | |
Hüftschmerzen an. Wie er überhaupt seinen Song „Until The Wheels Fall Off“ | |
auf der Bühne singen soll? | |
Der Plot von „Strandgut“ ist also nicht mit Retro-Puppenhaus-Flair | |
aufgezogen, sondern als beinhartes Kitchen-Sink-Sozialdrama. Bucky ist | |
Opioid-süchtig. Myers zeichnet dieses Schicksal zwar nicht weich, aber er | |
normalisiert die Schmerzmittelepidemie in den USA anhand eines Einzelfalls | |
und entdämonisiert die Krankenakte dadurch, dass er einen Süchtigen als | |
Mensch mit Makeln darstellt, nicht als Opfer. | |
## Empathie für einen Gebeutelten | |
Eine Gratwanderung, die über weite Strecken nachvollziehbar aufgeschrieben | |
ist, weil Myers einem Gebeutelten Würde zuteil werden lässt, die ihm in den | |
USA nicht zuteil wird. In Scarborough trifft Bucky auf Dinah, die Künstler | |
und DJs vom Flughafen abholt, Essen im Backstage bereitstellt und ihn vor | |
Ort betreut. Dinah ist mit einer unschönen Familiengeschichte ebenfalls | |
Kummer gewohnt, kann sich durch ihre Leidenschaft für Soulmusik vom Alltag | |
befreien und spendet dem Sänger Empathie. | |
Diese Personenkonstellation entwickelt sich durch das unterschiedliche | |
Alter der beiden zu mitunter sarkastischen Dialoggefechten und kafkaesken | |
Situationen, in denen Dinahs Hilfsbereitschaft auf eine harte Probe | |
gestellt wird, aber doch Früchte trägt. | |
Benjamin Myers hat bisher eher Buddyromane geschrieben, von seinem Erfolg | |
in Deutschland wirkt er fast überfordert, so hat er es in einem Text für | |
das Musikmagazin The Quietus glaubwürdig dargelegt. Eigentlich handelt der | |
von der britischen Grindcore-Band Napalm Death und ihrem kurzen Song „You | |
Suffer“. Dann geht er über zur Schilderung einer Angststörung, die bei | |
Myers pünktlich vor Treffen mit dem Lektor einsetzt. | |
Myers Versuche, über Napalm Death einen Roman zu schreiben, waren zum | |
Scheitern verurteilt. Dass „Strandgut“ auch auf Deutsch veröffentlicht | |
wurde, ist daher erst mal eine gute Nachricht. Auch wenn die Vermarktung | |
vom Dumont Verlag eher Richtung Ferienlektüre geht – mit kitschigem | |
Küstengemälde auf dem Einband – und vermeidbaren Übersetzungsfehlern: | |
Little Stevie Wonder (wie Wonder zu Beginn seiner Karriere auf den | |
Motown-Alben genannt wurde) als „der kleine Stevie Wonder“ wiederzugeben, | |
ist hart. | |
[6][Die Liebe zur Soulmusik muss viel aushalten!] Myers kann dieses Gefühl | |
nachvollziehbar beschreiben, wenn Dinah beim Einkaufen im Supermarkt | |
schlimme Muzak anhören muss, anstatt „Songs die etwas aussagen“ und nicht | |
getränkt sind vom „zynischen Nachgeschmack zielgerichteter | |
Marketingtricks“. | |
25 Sep 2025 | |
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[4] https://blogs.taz.de/popblog/2016/04/06/five-favourites-northern-soul-mit-c… | |
[5] /Sweet-Soul-Music/!1079621&SuchRahmen=Print/ | |
[6] https://www.swr.de/swrkultur/doku-und-feature/cant-stop-dancing-soul-szene-… | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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