| # taz.de -- Gospel mit Schmackes: Barbershop Erleuchtung | |
| > Zwei fantastische Compilations zeigen, welche unglaubliche Hoffnung aus | |
| > US-Gospelsongs spricht. Die Musik verleiht im Kampf gegen Ungleichheit | |
| > Flügel. | |
| Bild: The Floyd Family Singers bei einem Konzert, 1979 | |
| Ein Text über Gospelmusik muss im Friseursalon beginnen. Was [1][Gospel] | |
| anbelangt, sind Friseursalons sogar wirkmächtiger als Kirchen. In der | |
| afroamerikanischen Community ist der Friseursalon der Ort, an dem das | |
| Evangelium (englisch Gospel) verkündet wird. Friseur:innen sind Mentoren. | |
| Mit den Kunden erörtern sie im Barbershop entscheidende Schritte ins | |
| Erwachsenenleben ebenso wie die politische Weltlage, sie lindern | |
| Herzschmerzprobleme, streuen Society-Gossip und verhandeln die neuesten | |
| Sportergebnisse. | |
| Und ja, im Friseursalon werden nicht nur Haare harmonisiert (geglättet), | |
| sondern auch Melodien. Man spricht von „Barbershop Soul“, als | |
| Ideenwerkstatt für versierte Gesangsharmonien. Und allgemein hat sich auch | |
| die „Session“ als Termin im Barbershop eingebürgert, als wäre es einer im | |
| Aufnahmestudio. | |
| So beschreibt es der Detroiter Pastor Keith L. Whitney in den Linernotes | |
| zur äußerst empfehlenswerten Compilation „World Spirituality Classics“. | |
| Whitney nennt nicht etwa sein Gotteshaus, die Sanctuary Fellowship Baptist | |
| Church, zuerst, sein Dank geht zuvörderst an den Friseur, Vonnie Whitlow | |
| von „Whitlow’s Barber Lounge“ auf der Westside von Detroit, dessen Laden | |
| als zentrale Anlaufstelle der Gemeinde gilt. | |
| ## Auf dem Gospel-Highway | |
| Im zeitgenössischen Mainstream fristet Gospel dank Stars wie [2][Kanye | |
| West] und [3][Stormzy] heute kein Schattendasein mehr, sie bedienen sich | |
| selbstverständlich aus dem Musikschatz und inszenieren sich gar selbst als | |
| Messias und Prediger. In früheren Pop-Epochen spielte Gospel dagegen in | |
| einem Paralleluniversum mit eigenen Charts, Radiosendern und | |
| Auftrittsrouten in Kirchen und Gemeindesälen, „Gospel Highway“ genannt. | |
| Die 14 Songs auf „World Spirituality Classics“ erzählen von dieser Zeit. | |
| Sie stammen aus den Sechzigern und Siebzigern. Zum Beispiel „The Price of | |
| Love“ von Reverend Harvey Gates. Seine Musik unterscheidet sich nicht von | |
| einem weltlichen [4][Soul-Torch-Song]. Die Stimme des unbekannten | |
| Interpreten klingt wettergegerbt, „The price of love, heart aches and pain | |
| / The price of love, heart aches and pain“ singt er hörbar angestrengt, | |
| dazu spielt ein sachte verstimmtes Piano kratzige Bluenotes, das Schlagzeug | |
| schleppt die ganze Mühsal der Existenz. | |
| Aber die Message spendet so viel Kraft wie eine heiße Brühe: „Jesus said, | |
| if the world hate you just remember one thing / I passed this way before, | |
| yeah, yeah“. Wer also mal wieder von einem Twitterfeed beleidigt wurde, | |
| lernt hier: anderen erging’s auch nicht besser. | |
| ## Die Armen, die Gebeutelten | |
| In diesem und den anderen Beiträgen von „World Spirituality“ wird eine | |
| „Theologie der Erfahrung“ gelehrt. Es geht nicht um die strikte | |
| Bibelauslegung, „es geht darum, dass Gott die Armen nicht vergisst, die | |
| Gebeutelten und die Arbeitslosen“, schreibt der Religionswissenschaftler | |
| William B. McClain in seinem Buch „Songs of Zion“. | |
| Alle kennen Standards wie „We Shall Overcome“ oder „Swing Low, Sweet | |
| Chariot“, das sind klassische Spirituals, die längst auch in einem | |
| weltlichen Zusammenhang bedeutsam sind. Geht man weiter zurück in der | |
| Geschichte der USA, bilden Spirituals, Vorläufer des Gospel, die wichtigste | |
| Quelle der Fantasie. In ihnen fanden die Sklaven Ausflucht vor dem | |
| erlittenen Unrecht, sie konnten sich in den Songs die Freiheit vorstellen | |
| und ausmalen. Bevor ihnen Lesen und Schreiben erlaubt wurde, gab es durch | |
| die Missionierung Möglichkeiten, in den biblischen Vorstellungswelten durch | |
| Sprachübertragung Nachrichten zu vermitteln. | |
| Der „Himmel“ ist in einem Spiritual nie nur göttlicher Weltraum, sondern | |
| Codewort für Kanada, also [5][Zielort der Flucht] aus der „Hölle“, und mit | |
| der Hölle waren die US-Südstaaten mit ihren Tabak- und Baumwollfeldern | |
| gemeint, wo Sklaven unter unmenschlichen Bedingungen schuften mussten. Und | |
| der Teufel ist kein Beelzebub mit Schwanz und Dreizack, sondern der weiße | |
| Sklavenhalter. Das Elend, aber auch die unglaubliche Hoffnung, wie sie aus | |
| den Spirituals spricht, man hört es in den Gospelsongs auf „World | |
| Spirituality Classics“ ebenso wie in der Compilation „No Other Love: | |
| Midwest Gospel 1965–1978“. | |
| ## Erfolge der Staple Singers | |
| Es war das Goldene Zeitalter des Gospelsounds, die sozialen Impulse der | |
| Civil-Rights-Bewegung vibrieren. Mit den Staples Singers feierte eine | |
| Gospelcombo sogar Erfolge im weltlichen Mainstream. Als eine der ersten | |
| setzten die Staple Singers instrumentale Begleitung gleichberechtigt zu den | |
| Stimmen ein. Nun kennt man rhythmisches Händeklatschen, Füßestampfen oder | |
| Hände-in-die-Luft-Werfen als Stilmittel des Soul. | |
| Zuerst wurde dies im Gospel praktiziert. „Don’t give up / Oh no / Please / | |
| Don’t give up / For if you hold out through the night / I know that joy | |
| will come / Don’t give up / Oh yes it will / I know he / Don’t give up / | |
| Wipe away / Don’t give up / All your tears“, heißt es in dem Song „Don�… | |
| Give up“ der Williams Singers und die Zuversicht überträgt sich beim Hören. | |
| „We don’t love enough“, verkünden etwa The Triumphs. „Well, I was talk… | |
| to a friend of mine the other day / He told me to tell you these few words | |
| / He said Joe / We don’t love enough / Yeah, yeah / He said that you and me | |
| / We need keep seeing love / If you agree“. | |
| Es sind die ausgefeilten Gesangstechniken, die über Jahrhunderte | |
| weiterentwickelt wurden, das Rousement, das emotionale Aufheizen durch das | |
| Halten von Tönen, und das Vamping, das künstliche Hinauszögern von Vokalen | |
| am Strophenende, sowie die versierten Call-&-Response-Techniken – im Falle | |
| der Triumphs das direkte Ansprechen eines „Joe“. | |
| ## Beinhartes Leben | |
| Manchmal wird das Unrecht ausgesprochen und bleibt bestehen: In dem Song | |
| „It’s so hard to live in this Old World“ bemängelt der Heilige Geist, der | |
| durch Reverend Gates spricht, die ungleiche Einkommensverteilung und die | |
| Verrohung der Gesellschaft: „Man don’t have respect anymore/ Smile in your | |
| face but don’t you turn your back/ It’s so hard to live in this old world�… | |
| Das [6][Evangelium] (griechisch die gute Botschaft) der wirkmächtigsten | |
| afroamerikanischen Denomination, der Baptisten, steht politisch links: | |
| kapitalismuskritisch und sozialreformerisch, ersichtlich an den Ansichten | |
| des einflussreichen US-Pietisten Walter Rauschenbusch (1861–1918), der, | |
| genau wie die Schriften von Karl Marx, starken Einfluss auf Martin Luther | |
| King ausübte. | |
| Man kann das auch auf dem Sampler „No Other Love: Midwest Gospel 1965–1978�… | |
| nachhören, der Material aus den Gospelmetropolen Chicago und Detroit | |
| enthält, etwa Reverend Harington, der sich mit Bluesgitarrenbegleitung und | |
| einem Chor „Christmas in Heaven“ vorstellt, wo es friedlicher zugehen wird | |
| als hienieden. Andere Menschen haben auch ihr Päckchen zu tragen, das sagt | |
| einem diese fantastische Musik. Und lässt einen demütig durch den Tag | |
| gehen. | |
| 21 Dec 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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