# taz.de -- Gärtnern in der Pandemie: Jenseits des eigenen Blumenkastens | |
> Corona trieb Menschen an die frische Luft, Gärtnern wurde zum Trend. Doch | |
> das Hobby ist mehr als Entspannung – es berührt auch soziale Fragen. | |
Bild: Alternativer Anbau interessiert nicht nur klimabewusste Menschen, sondern… | |
Ob zum Joggen, Spazieren oder Waldbaden – durch Corona war draußen | |
plötzlich gezwungenermaßen das neue Drinnen. Eine weitere Aktivität, die | |
viele für sich (wieder)entdeckten, war das Gärtnern. Über Jahre eher als | |
Rentner:innentätigkeit oder Ökohobby wahrgenommen, liegt das | |
[1][Werkeln im Garten] jetzt voll im Trend. [2][Im ersten Pandemiejahr] | |
wurden laut Industrieverband Garten in Gartencentern, Heimwerkermärkten und | |
anderen Betrieben rund ums Draußen Rekordzuwächse von mehr als 10 Prozent | |
verzeichnet, und auch im Folgejahr blieben Einbrüche weitestgehend aus. | |
Insgesamt beträgt der Umsatz in diesem Markt seit dem Jahr 2020 über 20 | |
Milliarden Euro. Die Langeweile während der Zeit geschlossener Clubs und | |
Geschäfte befeuerte scheinbar den Hang zur grünen Alternative. Doch was | |
bewegt so viele Menschen dazu, sich gerade dem Gärtnern als Beschäftigung | |
zu widmen? | |
Bei einigen lag die Motivation sicher in der Verschönerung des eigenen | |
Umfelds, wo man neuerdings mehr Zeit verbrachte – ein paar Blumen oder der | |
ein oder andere frische Salat auf dem Balkon heben die Stimmung. Doch weit | |
über den eigenen Blumenkasten hinaus berührt das Gärtnern auch allerhand | |
soziale Fragen und kann zur Protestform werden. | |
Wirft man einen Blick auf den Büchermarkt, hat man den Eindruck, dass | |
vermehrt Ratgeber für einen nachhaltigen, umweltverträglichen Gemüseanbau | |
erscheinen. Da lernt man, wie man Hochbeete baut, welche Gemüsepflanzen am | |
besten nebeneinander wachsen und was einen guten Kompost ausmacht. Der | |
Rosengarten mit englischem Rasen scheint zum Relikt der Vergangenheit zu | |
werden. Das Buchhandelsunternehmen Thalia bestätigt auf Nachfrage der taz, | |
dass die Nachfrage im Segment Gartenliteratur aktuell eher in Richtung | |
Nutzgarten und Gemüseanbau geht. Ein schöner Garten soll auch ein | |
nützlicher Garten sein. Und das in mehrfachem Sinn: nützlich für die | |
Menschen, aber auch für die Umwelt. | |
## Der Garten als Gestaltungsraum | |
Die Klimakrise führt uns vor Augen, wie abhängig der Mensch von der Natur | |
ist und welche Folgen sein Handeln hat. Gesellschaftliche Bewegungen wie | |
Extinction Rebellion oder Fridays for Future belegen, dass gerade auch | |
junge Menschen mehr Eigenverantwortung übernehmen und selbst etwas bewegen | |
wollen. Der Garten bietet sich dabei als Gestaltungsraum an, liefert er | |
doch quasi im Kleinen Antworten auf die ganz großen Fragen vom Umgang des | |
Menschen mit der Natur. Lebensmittel können ohne die Ausbeutung von | |
Arbeiter:innen und Ökosystemen angebaut werden, und noch dazu entstehen | |
Lebensräume für Tiere, die in Schottergärten und auf versiegelten | |
Industrieflächen immer weniger Platz finden. | |
Um das zu erreichen, setzen sich Gartenbegeisterte mit alternativen | |
Methoden der Garten- oder Balkongestaltung auseinander. Denn die Klimakrise | |
zeigt auch: Es bedarf eines Umdenkens, wenn trotz anhaltender | |
Trockenperioden und Starkniederschlägen die Gurken nicht vertrocknen und | |
die Kartoffeln nicht faulen sollen. Methoden wie die sogenannte | |
Permakultur, bei der natürliche Ökosysteme und Kreisläufe nachgeahmt | |
werden, können Antworten bieten. Hier werden beispielsweise Anbauflächen | |
dick mit Pflanzenmaterial wie Heu bedeckt, damit der Boden nicht | |
austrocknet und mit neuen Nährstoffen versorgt wird – eben ganz wie in der | |
Natur, wo der Baum mit seinen alten Blättern den Boden bedeckt. | |
Ein egal wie kleines Stück Land umweltverträglich zu bewirtschaften und zu | |
gestalten setzt also auch ein Zeichen gegen riesige Monokulturen, gegen | |
Bodendegradation und Überdüngung. So finden wohl durch die Relevanz der | |
Klimakrise auch zunehmend wieder junge Generationen zum Garten. Die | |
Permakultur-Akademie im Alpenraum (PIA) etwa bestätigt diese Entwicklung | |
gegenüber der taz und kann sich insgesamt über regen Zulauf freuen. Allein | |
seit der Coronapandemie, so eine Sprecherin, habe die Nachfrage nach Kursen | |
um geschätzte 50 Prozent zugenommen. Interessierte lernen dort, wie man | |
naturverträglich Gemüse anbaut, den Boden verbessert oder eigenes Saatgut | |
gewinnt. | |
## Gesenktes Stresslevel | |
Womöglich verschaffen auch Gefühle der Unsicherheit dem Gärtnern neuen | |
Aufschwung. Ob nun Pandemie, Klimakrise oder [3][Krieg in Europa –] | |
angesichts all dessen kann es beruhigend sein, die absehbaren Prozesse der | |
Natur zu beobachten: Der Samen kommt in die Erde und entwickelt sich bei | |
richtiger Pflege zuverlässig weiter zu einer hübschen und/oder | |
schmackhaften Pflanze. Man kann den Wachstumsprozess beobachten, die | |
Ergebnisse sind messbar und erfordern zugleich eine gewisse Geduld. | |
Niederländische Forscherinnen konnten belegen, dass die Arbeit im Garten | |
das Level des Stresshormons Cortisol besser zu senken vermag als das Lesen | |
eines Buchs. | |
Damit bietet das Graben und Säen auch eine perfekte Möglichkeit zur viel | |
beschworenen Entschleunigung. Die konstante Überfrachtung mit Nachrichten | |
aus der Online- und Offlinewelt führt bei vielen Menschen zum Wunsch nach | |
einem (zumindest zeitweisen) Ausstieg. Dazu kommen die vermehrten Stunden | |
im Homeoffice. Die Onlinezeit hat sich während der Pandemie noch einmal | |
ordentlich verlängert, doch knapp ein Zehntel der Nutzer:innen | |
[4][möchte laut Branchenverband Bitkom] ganz bewusst weniger Zeit im | |
Internet verbringen. | |
Die Arbeit mit den Händen im Freien bietet einen Ausgleich. Und wer nicht | |
gerade einen Garten-Instagram-Account hat, lässt das Smartphone | |
währenddessen vielleicht sogar einmal in der Wohnung liegen. Im Gegensatz | |
zur sportlichen Betätigung zählt beim Gärtnern auch weniger der | |
Leistungsgedanke. Natürlich können die prall gefüllten Erntekörbe und | |
bunten Blumenwiesen der Influencer:innen Frustration und Neid wecken, | |
doch am Ende ist die Natur Königin; was gelingt und was nicht, hängt immer | |
von ihrem Einfluss ab, nicht nur vom eigenen. | |
## Gärtnern muss für alle sein | |
Besonders wenn der Garten aber nicht nur Entspannungsort, sondern auch | |
Radius für gesellschaftliche Alternativen sein soll, bleibt die Frage des | |
Privilegs. Wer hat schon das Glück, ein Stück Land sein Eigen zu nennen | |
oder zumindest nutzen zu dürfen? In der Stadt ist schon der (bepflanzbare) | |
Balkon für viele ein unerfüllter Traum. Zum Glück haben sich in den letzten | |
Jahren diverse gemeinschaftliche Gartenprojekte gerade auch im urbanen | |
Raum etabliert. Wer sich hier engagiert, kann nicht nur mitarbeiten, | |
sondern auch ernten. Auch verraten zahlreiche Ratgeber, wie sich noch auf | |
dem kleinsten Balkon oder im (zumindest etwas sonnigen) Hinterhof in | |
Kübeln, Wannen und Säcken Gemüse anbauen lässt. | |
Gänzlich unbelastet von Vorurteilen und Privilegien ist das Gärtnern | |
dennoch nicht. [5][Ein Berliner Kleingartenverein verweigerte im Jahr 2016 | |
mehreren Personen das Pachten] eines Gartens mit der Begründung, man wolle | |
keine weiteren Migrant:innen aufnehmen. Ähnliche Vorfälle sind auch aus | |
anderen Städten bekannt, [6][etwa aus Kiel], [7][Wittenberg] und | |
[8][Dessau-Roßlau]. Angeführt wird der Verdacht, Migrant:innen würden | |
die Regeln der Kleingartenanlage nicht einhalten, was Unfrieden mit der | |
Nachbarschaft nach sich ziehen würde. | |
Völlig unabhängig von vermeintlichen Geschehnissen, auf die sich die | |
Vereine dabei berufen, wird in einer dem Rassismus stets innewohnenden | |
Pauschalität das Vorurteil vom nicht integrationsfähigen Ausländer bedient. | |
Derartige Haltungen und Handlungen haben freilich nichts mit dem Gärtnern | |
als solchem zu tun. Doch sie berauben bestimmte Menschen des Zugangs zu | |
nutzbarer Anbaufläche, der anderen eher offensteht. | |
Ein weiteres Problem, mit dem sich gerade alternative Anbaubewegungen | |
konfrontiert sehen, ist das Interesse extrem rechter Milieus wie völkischer | |
Siedlungsbewegungen oder Reichsbürger:innen an ihrer Arbeit. [9][Dieses | |
Einflusses sind sich Verbände und Einrichtungen] mittlerweile verstärkt | |
bewusst und versuchen durch Überprüfung der Mitgliedschaften und Aufklärung | |
gegenzusteuern. | |
Abgesehen vom ungleichen Zugang zu Gartenflächen steht die Gartenarbeit | |
jungen wie alten Menschen unterschiedlicher Geschlechter und verschiedener | |
körperlicher Fähigkeiten offen. Das unterscheidet sie von traditionell | |
gendergenormten Aktivitäten wie bestimmten Sportarten, wenngleich in den | |
eher konservativ bearbeiteten Gärten das Rasenmähen noch immer oft | |
Männersache ist und die Frau eher Unkraut jätet. | |
Glücklicherweise zeichnet sich dabei mit dem verstärkten Hang zu | |
alternativen und umweltbewussten Methoden ein Wandel ab. Das neue Gärtnern | |
muss für alle da sein, wenn es nicht nur Entspannung, sondern auch | |
gesellschaftliche Alternative sein soll. | |
2 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gaertnern-in-Berlin/!5850205 | |
[2] https://www.ivg.org/fileadmin/downloads/Jahresberichte/IVG-Jahresbericht_20… | |
[3] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[4] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Digital-Detox-Verzicht-digi… | |
[5] https://www.tagesspiegel.de/berlin/diskriminierung-in-berliner-laubenkoloni… | |
[6] https://www.deutschlandfunk.de/kiel-kleingartenverein-sperrt-sich-gegen-mig… | |
[7] https://www.tagesspiegel.de/politik/kleingartenverein-in-sachsen-anhalt-wir… | |
[8] https://www.welt.de/politik/deutschland/article182035458/Dessau-Rosslau-Kle… | |
[9] /Rechte-im-Oekolandbau/!5761577 | |
## AUTOREN | |
Nadja Kutscher | |
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