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# taz.de -- Gendergerechte Sprache: Krieg der Sternchen
> Warum erhitzt der Genderstreit so sehr die Gemüter? Weil man sich dazu
> nicht nicht verhalten kann. Ein Auszug aus dem Buch „Was man noch sagen
> darf“.
Bild: Der Streit um das Gendern wird auch per Aufkleber ausgetragen
Die Debatte um Gendersternchen wird oft hochemotional geführt. Das könnte
damit zusammenhängen, dass sich viele durch sie an den Rand gedrängt
fühlen: Man wird genötigt, mitzuspielen oder sich zu erklären.
Sprache steht nie still. In den letzten Jahren kam es in Mode, sie von
Altlasten befreien zu wollen, [1][vom Geist einer Zeit, als der Mann das
Geld verdiente, die Frau sich um die Kinder kümmerte] und Minderheiten
immer für einen Scherz gut waren. Mit diesen Bildern wollen sich die
meisten von uns nicht mehr identifizieren.
Das Motiv ist also einfach: Gleichberechtigung. Alle mitmeinen. Nicht
verletzend oder vorurteilsbehaftet über andere sprechen. Wer diesen Wunsch
teilt, kann kaum anders, als ab sofort „Mitarbeiter*innen“ oder
„Forschende“ zu schreiben und durch Sprechpausen das Mitmeinen aller
anzuzeigen. [2][Oder nicht]?
Zwar umfasst das generische Maskulinum grammatisch durchaus beide (oder
alle) Geschlechter, dennoch wollen viele die Sichtbarkeit des „anderen“
erhöhen. Das ist legitim. Und doch regt sich Unmut: Wird die Sprache so
nicht mutwillig verschandelt?
Es gibt Situationen, in denen das Vermeiden generischer Maskulina
tatsächlich gestelzt wirkt. Man kann es trotzdem gutheißen, weil Irritation
Nachdenken auslöst. Menschen denken in der Tat stärker an weibliche
Vertreter einer Zunft, wenn gegenderte Formen verwendet werden. Laut
schwedischen Forschern um Anna Lindquist von der Universität Lund ist es
für das Mitmeinen dabei wichtig, durch explizite Nennung beider
Geschlechterformen oder durch kreative Neuschöpfungen wie das schwedische
„hen“, eine Mischform aus den Pronomen er („hon“) und sie („han“),
Gewohnheiten zu durchbrechen. Weicht man hingegen einfach auf neutrale
Varianten aus (etwa den englischen Plural „they“), verbinden Testpersonen
damit oft primär den männlichen Standard.
## Moralisieren des Mitmeinens fördert die Zersplitterung
[3][Doch was ist damit letztlich gewonnen]? Nach dem initialen Denkanstoß
setzt früher oder später die Gewöhnung ein. Irgendwann ist “Studierende„
einfach das Wort für ehedem „Studenten“. Warum man das Partizip einst
wählte, verblasst.
Das Moralisieren des Mitmeinens (Wer nicht gendert, hat etwas gegen
Gleichberechtigung) fördert die Zersplitterung. Oder wie kommt es, dass
viele so erbittert um Sternchen und Partizipien streiten? Ist es nicht
einfach nur zeitgemäß, sprachliche Konventionen im Sinn der
Gleichberechtigung zu reformieren? Das Problem ist die Doppelbödigkeit
dieses scheinbar harmlosen Wunsches, d[4][enn das Gendern setzt viele
Menschen unter Druck]. Jeder sieht plötzlich alt aus, der weiter generische
Maskulina benutzt. Man fühlt sich an den Rand gedrängt; wird genötigt
mitzuspielen oder sich zu erklären. Man kann sich nicht nicht zum Gendern
verhalten.
Diese Form der Nötigung hat das Zeug zum Aufreger. So ergab eine
Untersuchung an 168 schwedischen Probanden, die ein Team um die Stockholmer
Psychologin Hellen Vergoossen 2020 veröffentlichte, dass die Angst, in der
persönlichen Redefreiheit eingeschränkt zu werden, eine besonders
emotionale Ablehnung des Genderns hervorruft. Je mehr sich die einen über
die Rückständigkeit der Verweigerer empören, desto erbitterter keifen diese
zurück. Darüber gerät die Arbitrarität sprachlicher Zeichen aus dem Blick:
Die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist beliebig. Ob die
Lautfolge “Baum„, “tree„ oder “arbre„ große Gewächse meint, hat k…
tieferen Grund. Diese Wörter wurden im Lauf der Zeit gebräuchlich, doch im
Prinzip könnten es auch andere sein.
Diese Beliebigkeit anzuerkennen hilft, die Realität nicht mit ihrem
sprachlichen Ausdruck gleichzusetzen – ein Irrtum, dem rasch erliegt, wer
eine Sprechweise unmittelbar an das Denken und die Weltsicht des Sprechers
knüpft. Gendern allein verändert die Denkweise von Menschen oder die Rolle
von Frauen in der Gesellschaft noch nicht. Es birgt sogar umgekehrt die
Gefahr, dass eine „korrekte“ Sprechweise als Signal für Gleichberechtigung
dient, ohne dass diese wirklich gelebt wird.
Weshalb also werden grammatische Details zu Fragen von Wohl und Wehe
stilisiert? Nach dieser Logik dürfte es gar keine bedeutungslosen
Formalismen in der Sprache geben. Alles hätte eine tiefere Bedeutung,
verwiese auf eine Haltung. Rückt nicht das englische „How are you?“ das
Sein viel stärker in den Fokus als das deutsche „Wie geht es dir?“ Denken
Deutsche deshalb irgendwie „beweglicher“ als US-Amerikaner?
## Tabus wandeln sich, aber verschwinden nicht
Nichts Sprachliches dem Zufall zu überlassen, zeugt von einer
Hypersensibilität, die alles mit Bedeutung auflädt. Doch wir schreiben
Bedeutung zu; sie ist nicht einfach gegeben. Daher rührt auch die
vermeintliche Unfehlbarkeit sprachpolizeilicher Verdächtigungen: Sobald man
einen Ausdruck als inakzeptabel etikettiert, ist er das.
Man kann Redeweisen verändern, um auszudrücken, was einem wichtig ist. Nur
sollte man nicht glauben, die Veränderung bliebe dort stehen. Die Sprache
wandelt sich ständig weiter, durch Gewöhnung, Umdeutung, Ironisierung,
Übertragung auf neue Zusammenhänge. Begriffe wie „queer“ wurden von der so
einst verunglimpften Gruppen selbst zur stolzen Eigenbezeichnung
umfunktioniert. Ein Akt der Selbstermächtigung, der das Verletzende nicht
tilgt, sondern es benutzt, um sich nicht mehr verletzen zu lassen.
Redeweisen zu tabuisieren, unterbindet solche kreativen Verschiebungen.
Manche fragen: Gibt es überhaupt noch Tabus? Leben wir nicht in einer Zeit
totaler Enthemmung? Wie das Gendern offenbart, wandeln sich Tabus zwar,
aber sie verschwinden nicht. Sie dienen nicht mehr dem Machterhalt einer
Elite, sondern dem Versuch, eine Sparversion von Macht, die Deutungshoheit,
zu erringen. Nur sollte man nicht so blauäugig sein, zu glauben, dass die
Welt schon eine andere ist, weil man anders redet.
3 Aug 2022
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## AUTOREN
Steve Ayan
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