# taz.de -- Geschlechtergerechte Sprache: Ziemlich unsensibel | |
> Gendersternchen schaffen neue Hürden und schließen jene, die wenig oder | |
> nicht lesen können, aus. Sprache sollte nicht unnötig verkompliziert | |
> werden. | |
Bild: Viele blinde Menschen nutzen eine Sprachausgabesoftware, die Sonderzeiche… | |
Die Kanzlerkandidaten und die Kanzlerkandidatin stolpern sich im Wahlkampf | |
durch ihre Glaubenssätze zum Gendern. Obwohl die Gleichstellung von Männern | |
und Frauen mittlerweile gesellschaftlicher Konsens ist, herrscht ein | |
erbitterter Streit darum, ob und wie diese sprachlich abgebildet werden | |
soll. Vom Gesetzesentwurf im „generischen Femininum“ bis zu | |
[1][„Genderwahn“] und „Sprachpolizei“ – in der überhitzten Debatte | |
verlieren wir aus dem Blick, worum es wirklich geht: Inklusion. Es ist | |
Zeit, den ungelösten Widerspruch zwischen geschlechtergerechter Sprache und | |
Barrierefreiheit in den Fokus zu rücken. | |
Um gleich mit einem verbreiteten Irrtum aufzuräumen: Der Gender-Doppelpunkt | |
ist nicht barrierefrei, ebenso wenig wie das Sternchen. Gendersprache | |
schafft Irritationen, die teils sogar gewollt sind, um für geschlechtliche | |
Vielfalt zu sensibilisieren. Relativ unsensibel ist dieses Vorgehen jedoch | |
im Hinblick auf die Barrierefreiheit. Die angeblich „diskriminierungsfreie“ | |
Sprache schafft Hürden, die anderen Menschen die Teilhabe erschweren. | |
„Erschwert wird das Textverständnis für Menschen mit sehr geringen | |
Lesekompetenzen (Adressierte der Leichten Sprache) oder Leseungeübte | |
(Adressierte der Einfachen Sprache, etwa 40 Prozent der Bevölkerung). Wegen | |
der komplizierteren Rechtschreibung und Grammatik wird es schwieriger, die | |
Schriftsprache zu erlernen. „Bei geübten Lesenden sinkt die | |
Lesegeschwindigkeit, bei weniger geübten auch die Lesemotivation“, sagt der | |
[2][Soziologe Wolfgang Beywl]. | |
Barrierefreiheit ist im Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit | |
Behinderung verankert und soll in allen öffentlichen Einrichtungen | |
umgesetzt werden, das gilt auch für Information und Kommunikation. Jedoch | |
wird dem Thema weit weniger Beachtung geschenkt als der sprachlichen | |
Gleichstellung der Geschlechter. | |
Es bricht kein Shitstorm aus bei Texten, die für viele nicht zugänglich | |
sind, zum Beispiel für Menschen mit Lernschwierigkeiten, Seh- oder | |
Hörbehinderung, aber auch Autismus, Demenz oder Schlaganfall. Nicht zu | |
vergessen Kinder und Alte. Um Teilhabe für alle Menschen zu ermöglichen, | |
sollte die öffentliche Sprache einfach und verständlich sein. Aus diesem | |
Grund verbieten Sachsen und Schleswig-Holstein nicht das Gendern, sondern | |
das Sternchen an Schulen. Sie wollen geschlechterneutrale Sprache nach den | |
Regeln des Rates für deutsche Rechtschreibung. | |
Da sich die geschlechtergerechte Sprache in einer Experimentierphase | |
befindet, gibt es keine festen Regeln. [3][Sie ist uneinheitlich und | |
widersprüchlich], sie verschiebt die Bedeutung von Sonderzeichen und | |
grammatischen Formen. Wer ohnehin schon Schwierigkeiten mit dem Lesen oder | |
dem Sprachverständnis hat, braucht keine zusätzlichen Hürden. Domingos de | |
Oliveira, Dozent und Referent für Inklusion und digitale Barrierefreiheit, | |
ist weder für noch gegen eine gendergerechte Sprache. | |
Die bisher üblichen Formen hält er jedoch für ungeeignet: „Da jede | |
Gendervariante bei Text und Sprache gängige Konventionen verändern muss und | |
damit komplizierter macht, trägt keine davon in unserem Sinne zur | |
Barrierefreiheit bei. Es wäre wünschenswert, wenn sich die | |
Betroffenen-Gruppen auf eine für alle Seiten akzeptable Variante einigen.“ | |
Viele blinde und sehbeeinträchtigte Menschen nutzen eine | |
Sprachausgabesoftware, die Sonderzeichen vorliest, weil das Sternchen, der | |
Unterstrich und der Doppelpunkt noch andere Funktionen erfüllen müssen, als | |
auf geschlechtliche Vielfalt hinzuweisen. Dennoch können die Gendermarker | |
nicht einfach ausgeblendet werden, denn das würde die Sprache vom | |
Schriftbild entkoppeln und letztlich Blinde aus der politisch korrekten | |
Sprache ausschließen. | |
## Teinehmende und Abteilungsleitung | |
[4][Der deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) wünscht sich | |
deshalb eine gendersensible Sprache ohne Sonderzeichen]: „Damit klar wird, | |
wie ein Text von einer Assistenz oder einem Screenreader vorgelesen werden | |
soll, sollen Personenbezeichnungen ausformuliert werden. Gendern durch | |
Sonderzeichen und Typografie ist nicht zu empfehlen. Wir bemühen uns, | |
Textlösungen zu finden, die kein Geschlecht ausschließen.“ | |
Wie der DBSV bemühen sich viele Institutionen um ein Gleichgewicht zwischen | |
geschlechtergerechter und barrierefreier Sprache. So empfiehlt zum Beispiel | |
das Sozialministerium Baden-Württemberg: „Abteilungsleitung“ statt | |
„Abteilungsleiter“; „die antragstellende Person“ statt „der Antragste… | |
„die Teilnehmenden“ statt „die „Teilnehmer“, „die ausländische Del… | |
statt „die ausländischen Vertreterinnen und Vertreter“. | |
Dadurch wird die Sprache zwar lesbar im strengen Wortsinn, aber nicht | |
unbedingt verständlich. Verallgemeinerungen, Partizipkonstruktionen, | |
Doppelnennung und umständliche Umschreibungen erfordern ein höheres Maß an | |
Sprachkenntnis, Abstraktionsvermögen und Konzentrationsfähigkeit. Doch | |
diese Fähigkeiten sind nicht bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden. | |
[5][Cordula Schürmann, Prüferin bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe], | |
setzt sich für eine verständliche Sprache ein: „Jeder soll alles verstehen | |
können. Nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten brauchen Leichte | |
Sprache. Auch Menschen, die nicht so gut lesen können, ältere Menschen, | |
Menschen, für die Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Ich wünsche mir | |
mehr Leichte Sprache im Internet und bei allen Informationen, die wichtig | |
sind.“ | |
Zwar ist Leichte Sprache nicht immer und überall umsetzbar, aber zumindest | |
dürfen wir die Sprache nicht zusätzlich verkomplizieren. Die Blinden- und | |
Sehbehindertenverbände zeigen sich bemerkenswert solidarisch und | |
kompromissbereit in der Frage der gendergerechten Sprache. So eine Haltung | |
kann man sich umgekehrt vonseiten der Geschlechterkämpfer*innen nur | |
wünschen. | |
23 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/der-genderwahn-der-afd/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Beywl | |
[3] /Gendern-als-Ausschlusskriterium/!5782080 | |
[4] https://www.dbsv.org/gendern.html | |
[5] https://www.gemeinsam-einfach-machen.de/GEM/DE/AS/Leuchttuerme/Ratgeber/Rat… | |
## AUTOREN | |
Dörte Stein | |
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