| # taz.de -- Luft als Baustoff: Ein Hauch von Umsturz | |
| > Der Architekt Hans-Walter Müller erfindet aufblasbare Gebäude und rüttelt | |
| > damit an Gesetzen von Architektur und Besitz. Ein Buch stellt ihn nun | |
| > vor. | |
| Bild: Volumen Voliere in Saint Vrain, 1975, von Hans-Walter Müller | |
| Ein amüsantes Detail vorweg: Wohnte man in einem aufblasbaren Haus mit | |
| Wänden aus Polyvinylidenfluorid oder Polyurethan, so genügte es bei seiner | |
| Reinigung, den Schmutz lediglich zusammenzukehren. Sobald man nämlich die | |
| speziell angefertigte Festtür öffnet, wird aller Dreck vom hohen Luftdruck | |
| im Inneren flugs nach draußen gepustet. Der Erfinder, Architekt und | |
| Künstler Hans-Walter Müller lebt seit über fünfzig Jahren zwischen derart | |
| aufgeblasenen Kunststoffwänden – und stets im Überdruck. | |
| In Frankreich erprobt er auf dem alten Flugplatz La Ferté Alais unweit von | |
| Paris noch viele weitere Projekte einer „architecture gonflable“. Das | |
| eigene Wohnhaus auf dem Flugplatz ist dabei sogar das kühnste unter den | |
| eigenwilligen wie erstaunlichen Plastikvolumen des heute über | |
| Achtzigjährigen. Die einwandige Konstruktion beruht auf einer Rechteckform | |
| und nicht auf der eines Kreises, nach dem aufgepustete Gebäudehüllen | |
| eigentlich streben. | |
| Der Architekturforscher Robert Stürzl hat nun eine Monografie zu | |
| Hans-Walter Müller rausgebracht. Eine späte, aber notwendige Würdigung mit | |
| zahlreichen Abbildungen aus dem persönlichen Archiv des visionären | |
| Raumerkunders Müller, der allgemein nur wenig Bekanntheit, aber unter | |
| Kennern Kultstatus besitzt. | |
| 1970 entwarf er eine luftgetragene Bühne mit einem Szenenbild von Andy | |
| Warhol, 1971 entwickelte er für Jean Dubuffet ein aufblasbares Atelier, er | |
| arbeitete mit dem Architekten des Münchener Olympiastadions [1][Frei Otto] | |
| zusammen und kürzlich mit [2][Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal], deren | |
| Büro letztes Jahr den Pritzker Prize erhielt. | |
| ## Das lebendige Haus | |
| In den 1960er Jahren war Hans-Walter Müller nicht der einzige, der mit der | |
| Verheißung des damals neuartigen Materials Plastik auch die | |
| Konstruktionsweisen von Gebäuden umdenken wollte. Prominente Figuren wie | |
| Frei Otto oder Cedric Price arbeiteten ebenfalls an den Innovationen einer | |
| luftgetragenen Architektur. Die Euphorie für eine „architecture | |
| pneumatique“ hatte aber mit der Weltausstellung 1970 in Osaka bereits ihren | |
| Höhepunkt erreicht, schreibt Robert Stürzl. Sie hinterließ für uns so | |
| Spaßiges wie Hüpfburgen und aufblasbare Eventhallen. | |
| Müller hingegen arbeitete an seinen einwandigen, durch Überdruck | |
| aufgeblähten Kunststoffvolumen bis heute weiter. Und diese werfen jetzt, | |
| inmitten einer Diskussion um Wohnungsmangel und Bodenfrage einige – wenn | |
| auch eigenbrötlerische – Gedanken auf. | |
| Hans-Walter Müllers bunte Kuppeln, Bühnen, Hallen von messeartiger | |
| Dimension und Zellen in der Größe eines Schlafsacks sind und waren weltweit | |
| zu sehen. Zumeist nur kurzzeitig. Denn wird der Ventilator abgestellt, | |
| fällt das Gebäude zusammen. Wie zum Beispiel 1969, als er für einen Pfarrer | |
| in Montigny-lès-Cormeilles einen Kirchensaal für 200 Personen per | |
| Knopfdruck aufblies, der nach dem Gottesdienst nur noch ein | |
| zusammengeschnürtes Bündel von 39 Kilogramm war. | |
| „Meine Architektur lebt“ betont Hans-Walter Müller immer wieder in den | |
| Gesprächen, die Robert Stürzl neben eigenen Erläuterungen und | |
| programmatischen Essays von Müller in die Publikation streut. Sie lebt | |
| nicht nur, weil Bewegungen darin die Wände so ungewohnt in Schwingung | |
| versetzen und ihre elastische Membran bei Regen oder Wind reagieren kann | |
| wie unsere Haut. | |
| ## „Mein Haus muss vergehen“ | |
| Sie altert auch, bedarf einer Pflege, wie unsere Körper. „Wenn das Haus | |
| nach meinem Tod nicht zerstört wird, dann würde es einige Momente später | |
| sowieso zusammenbrechen“, sagt Müller zu seinem eigenen Wohnhaus. „Das ist | |
| auch eine neue Art zu denken und zu überlegen. Dass man eben nichts mehr | |
| vererbt. Alles vererben, das ist meistens ein vergiftetes Geschenk. […] | |
| Mein Haus muss vergehen.“ | |
| Diese einfachen Sätze sind geradezu umstürzlerisch: Weg mit den | |
| hundertjährigen Bauten, dem Immobilienerbe, der Kapitalanhäufung, den | |
| Kreditsicherheiten – und einem Stück Ungleichheit! Das ist natürlich auch | |
| sehr utopisch. Doch von der Utopie waren Hans-Walter Müllers aufblasbare | |
| Architekturen nie weit entfernt. | |
| Die Idee einer leichten Wohnhausarchitektur, die mit ihren | |
| Bewohner:innen kommt und wieder geht, lässt sich auch heute als ein | |
| Gedankenspiel heranziehen. Warum nicht temporär den Grund bewohnen? Und | |
| warum nicht dort, wo bereits kurzzeitiges Wohnen geplant wird, die schönen, | |
| bunten Kunststoffvolumen aufblasen anstelle etwa rostender Wohncontainer, | |
| die gerne als Unterbringung für Geflüchtete aufgestellt werden? | |
| ## Hilfe in der Wohnungsnot? | |
| Etwas Ähnliches hatte Hans-Walter Müller tatsächlich 1975 in den Straßen | |
| von Paris gemacht, als er für Obdachlose kleine Zellen an die | |
| Lüftungssysteme von Gebäuden anschloss. Sonst verpuffende Heizenergie | |
| nutzte er zugunsten seiner plastikumhüllten Schlafmöglichkeiten. Mit der | |
| Aktion machte er auch ein Wohnungsproblem in Paris sichtbar, vielleicht zu | |
| sichtbar in der repräsentativen Hauptstadtmetropole. | |
| Eine gewisse Subversion beinhaltet die „gehauchte Architektur“, wie | |
| Hans-Walter Müller in einer Fußnote des Buches seine einwandigen Volumen | |
| auch nennt („gehaucht wie bei einem Soufflé“), eigentlich immer. 1961 kam | |
| er von der TU-Darmstadt und der recht strengen modernen Schule von Ernst | |
| May oder [3][Ernst Neufert] nach Paris. Schnell begann er in Kreisen der | |
| Kinetischen Kunst an beweglichen Elementen zu arbeiten. Dabei stellte er | |
| etwas in der Architektur infrage, das eigentlich als unumstößlich statisch | |
| gilt: die Wand. | |
| Aus den Überlegungen zur beweglichen Wand entstanden schließlich jene | |
| ungewöhnlichen bunten Luftbauten, die in den letzten Jahrzehnten an | |
| Baulücken, Bahnhöfen oder Häfen wie urbane Interventionen per Knopfdruck | |
| auftauchen konnten. Für neun Jahre installierte Hans-Walter Müller während | |
| eines Musikfestivals in Calvi eine große gestreifte Kuppel auf einem | |
| mittelalterlichen Turm, um sie im zehnten Jahr – 2001 – vor dem Publikum in | |
| die Luft abheben zu lassen. Leichtigkeit und Vergänglichkeit entwickelt er | |
| bis heute zu einem wunderbaren Spektakel. Seine Architektur spricht dabei | |
| auch eine internationale Sprache, sie sitzt mitten in der Welt. | |
| 7 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
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