# taz.de -- Rechte Anschläge: Es brennt in Neukölln | |
> Seit Jahren tobt eine rechte Terrorserie im Süden Berlins. Ein | |
> Untersuchungsausschuss soll nun Behördenverstrickungen aufklären. | |
Bild: Ausgebranntes Auto in der Hufeisensiedlung in Berlin-Neukölln | |
Der Besitzer des verbrannten Autos in der Hufeisensiedlung in | |
Berlin-Neukölln nimmt es mit Galgenhumor, als er vor den verkohlten Resten | |
seines Kombis steht. „Wollen Sie vielleicht ein Auto kaufen?“, fragt er, | |
während er das nach verbranntem Gummi stinkende Wrack fotografiert – für | |
die Versicherung, wie er sagt. Ob er sich vorstellen könne, warum jemand | |
sein Auto angezündet hat, ob die Tat möglicherweise sogar einen politischen | |
Hintergrund hat? „Nein“, sagt der Mann, „das ist vollkommen zufällig.“… | |
wohne gar nicht hier, sondern sei nur zu Besuch bei einem Freund gewesen. | |
Seinen Namen will der Mann nicht in der Zeitung lesen. | |
Was er nicht weiß: Tatsächlich wohnt ein israelisches Pärchen in dem Haus, | |
vor dem sein Auto am vergangenen Wochenende angezündet wurde. Und laut | |
Polizei gab es dort vor Kurzem einen Anschlag: Am 4. Oktober sprühte jemand | |
mutmaßlich mit einem Reizstoffsprühgerät durch die Hecke des Gartens und | |
traf dabei eine Frau. Am 9. November 2021 schmierte jemand an das Haus ein | |
Hakenkreuz, sicher nicht zufällig am Jahrestag der Reichspogromnacht. | |
Die Polizei schließt nach dem Fahrzeugbrand vergangenen Samstag dennoch | |
zunächst ein politisches Motiv aus. Erst nachdem ein von einer Anwohnerin | |
gefilmtes Video des brennenden Autos viral geht und viel öffentlichen Druck | |
erzeugt, übernimmt der für Rechtsextremismus zuständige Staatsschutz den | |
aktuellen Fall. Die Nachbarin filmte das Geschehen sprachlos aus ihrem | |
Fenster, postete das Video auf Twitter und schrieb dazu: „Der 13. | |
Brandanschlag seit Oktober. Rechtsterror. Kein Zufall!“ Die Flammen auf dem | |
Video schlagen meterhoch und greifen auf die Äste einer Kiefer über, die | |
direkt am Haus steht. Mehrere Anwohner sprachen der taz gegenüber von | |
Glück, dass sich das Feuer nicht ausbreitete. | |
Es sind diese Bilder, die bei vielen in der Gegend böse Erinnerungen | |
wecken. Im südlichen Teil des Bezirks Neukölln, im eher | |
bürgerlich-beschaulichen Ortsteil Britz, terrorisiert ein Netzwerk | |
militanter Neonazis seit über 12 Jahren systematisch Anwohnenende, die sich | |
demokratisch engagieren oder öffentlich gegen Rechtsextremismus | |
positionieren. Sie sprühten Morddrohungen, Hakenkreuze und NS-Parolen, | |
sprengten Briefkästen, klauten Stolpersteine, zerstörten Fenster von | |
Häusern, Cafés und Läden und verübten Brandanschläge auf zahlreiche Autos | |
sowie auf ein Haus der linken Jugendorganisation „Die Falken“. | |
Ihre Opfer hatten die Neonazis zuvor oftmals systematisch ausgespäht. Nach | |
Hausdurchsuchungen fand die Polizei [1][Feindeslisten mit detaillierten | |
Personendaten] – über 500 Namen mit Angaben zu Adressen, | |
Familienmitgliedern, Mitgliedschaften, Berufen, Autokennzeichen. Vereinzelt | |
gibt es in den Daten gar Überschneidungen mit einer Liste des | |
NSU-Kerntrios. | |
## Das Vertrauen in den Staat ist zerstört | |
Aber trotz eines über Jahre erheblichen Personalaufwands mit mehreren | |
Sonderermittlungsgruppen und -kommissionen sind Polizei und Behörden in | |
Berlin weit davon entfernt, die Anschlagsserien mit den Höhepunkten | |
2011/2012 und 2016 bis 2018 aufzuklären. Das Vertrauen in den Staat ist bei | |
vielen Betroffenen zerstört – zumal neben Ermittlungsversäumnissen zuletzt | |
rechte Verstrickungen von Polizei und Staatsanwaltschaft bekannt wurden. | |
Warum die Ermittlungen im Neukölln-Komplex lange so erfolglos blieben, soll | |
ab dem 3. Juni nun ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im | |
[2][Berliner Abgeordnetenhaus aufklären]. Fragwürdiges gibt es genug: So | |
wurden der für die Ermittlungen verantwortliche Oberstaatsanwalt F. sowie | |
ein weiterer Staatsanwalt wegen des Verdachts auf Befangenheit | |
zwangsversetzt. Einer der beschuldigten Neonazis hatte sie in einem Chat | |
als AfD-Wähler eingeschätzt, sie hätten angedeutet, auf der Seite der | |
Hauptverdächtigen zu stehen, man habe also von den Ermittlungen [3][nicht | |
allzu viel zu befürchten]. | |
Nachdem daraufhin die Berliner Generalstaatsanwaltschaft den Fall an sich | |
zog, nahmen die Ermittlungen an Fahrt auf. Nach [4][einem zunächst | |
verfehlten Anlauf] wurde mittlerweile eine hauptsächlich auf Indizien | |
gestützte Anklage gegen fünf Personen eingereicht. Sie fokussiert sich auf | |
die beiden hauptverdächtigen Neonazis Tilo P., ehemals Funktionär der AfD | |
Neukölln, sowie Sebastian T., Ex-Vorstand der NPD Neukölln und mittlerweile | |
bei der rechtsextremen Kleinpartei III. Weg aktiv. Neben zwei | |
Brandstiftungen auf Autos werden ihnen Propagandadelikte vorgeworfen sowie | |
im Fall von T. erschlichene Coronahilfen und Sozialleistungen. | |
Der Großteil des Neukölln-Komplexes bleibt dennoch unaufgeklärt – dabei | |
rechnen Behörden der rechtsextremen Anschlagsserie allein von 2016 bis 2018 | |
über 70 Straftaten zu, davon 23 Brandstiftungen. | |
## Zu viele Ungereimtheiten | |
Mehrere Betroffene, mit denen die taz sprach, sind nach dem jüngsten | |
Brandanschlag verängstigt und fühlen sich aufgrund fehlender Aufklärung | |
nicht ausreichend geschützt. Der betroffene Linken-Politiker Ferat Koçak | |
sagte der taz, dass er nach den Bildern vom brennenden Auto nicht schlafen | |
konnte: „Ich habe das Gefühl, der Objektschutz im Bezirk hat wieder | |
nachgelassen. Das war ab 2014 auch schon mal so, danach gingen die | |
Anschläge wieder los. Dass die Polizei nicht von Beginn an nach rechts | |
ermittelt, kritisieren wir seit Jahren. Es gibt noch immer eine | |
Aufklärungsrate von null Prozent.“ | |
Insbesondere Koçak hat allen Grund, misstrauisch zu sein: Der | |
Verfassungsschutz wusste durch Telefonüberwachungen, dass die Neonazis T. | |
und P. den Linken-Politiker systematisch ausspähten und [5][einen Anschlag | |
planten]. Obwohl der Geheimdienst seine Erkenntnisse mit der Polizei | |
teilte, warnte diese Koçak nicht. Kurz danach brannte am 1. Februar 2018 | |
nachts dessen Auto. Beinahe griff das Feuer auf das Haus über, in dem er | |
und seine Eltern schliefen. | |
Und die Liste der Ungereimtheiten lässt sich fast beliebig verlängern: Der | |
Polizist Detlef M. war über die AfD per Telegram-Chat und Mail [6][mit | |
einem der Hauptverdächtigen vernetzt] und zudem Mitglied einer | |
[7][rechtsextremen Polizei-Chatgruppe]. Der bis 2016 im Neukölln-Komplex | |
ermittelnde Polizist Stefan K. wurde kürzlich zu einer Geldstrafe | |
verurteilt, weil er in seiner Freizeit aus rassistischen Motiven [8][einen | |
Afghanen krankenhausreif prügelte]. Und der LKA-Beamte W. wird verdächtigt, | |
einen [9][führenden Neuköllner Neonazi in einer Kneipe getroffen zu haben]. | |
Seit über 10 Jahren unaufgeklärt ist auch der [10][Mord am 22-jährigen | |
Neuköllner Burak Bektaş], der in der Nacht des 5. April 2012 auf offener | |
Straße ohne Vorwarnung von einem Unbekannten erschossen wurde. Das Denkmal | |
einer Aufklärungsinitiative, das an den Mord erinnert, wurde mehrfach | |
beschmiert, zuletzt im Juni mit einem Hakenkreuz und „AFD“. | |
## Die Polizei sieht keine Veränderung | |
Das am vergangenen Samstag angezündete Auto ist Teil einer neuen Serie von | |
Brandanschlägen in Süd-Neukölln. Laut Polizei gab es in Britz seit Oktober | |
18 Brandanschläge auf Mülltonnen, Altkleidercontainer, eine | |
Bushaltestelle, ein Transparent an einer Schule und vier Autos. Ob Neonazis | |
dahinterstecken, ist unklar. Doch im selben Zeitraum zählte die Polizei | |
auch [11][25 rechte Straftaten]: antisemitische und rassistische | |
Bedrohungen und Propagandadelikte wie Hakenkreuz-Schmierereien und | |
strafbare Parolen. Für die Polizei scheint das in Britz normal zu sein. | |
Zwar sei die rechte Szene hier „in Vergangenheit stark vertreten gewesen“. | |
Aber: „Eine Erhöhung der Aktivitäten der rechten Szene in Neukölln konnte | |
in der letzten Zeit nicht festgestellt werden“, wie es auf taz-Anfrage | |
heißt. Es gäbe keine Hinweise auf einen Zusammenhang mit der | |
„rechtsextremen Straftatenserie in Neukölln“. | |
Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin sagte | |
zu den jüngsten Brandanschlägen: „Es ist verständlich, dass es massive | |
Verunsicherung und Verängstigung bei Betroffenen gibt.“ Das sei Alltag für | |
Betroffene, solange die Täter nicht verurteilt seien. Gleichzeitig sei es | |
zu früh, die jüngsten Ereignisse der rechtsextremen Anschlagsserie | |
zuzurechnen. Man müsse abwarten, was Ermittlungen und Recherchen ergäben, | |
zumal sich die Tatzeitpunkte von bisherigen Anschlagswellen unterschieden | |
und unklar sei, warum die Betroffenen Zielscheibe der Angriffe wurden. | |
Gleichwohl müsse man die Sorgen sehr ernst nehmen und rechte Motive | |
sorgfältig prüfen. „Neonazis verüben Anschläge, um Menschen in Angst zu | |
versetzen, damit Engagierte ihre Aktivitäten einschränken oder einstellen.“ | |
Detlef Fendt will nicht klein beigeben. Der frühere Metallarbeiter lebt | |
seit 1963 in der Britzer Hufeisensiedlung, er ist Rentner, | |
Gewerkschaftsmitglied und Teil der Anwohnerinitiative „Hufeisern gegen | |
Rechts“. An seinem Garten hängt ein Schild, auf dem „Kein Platz für | |
Rassismus“ steht, immer wieder wird es mit Nazi-Stickern überklebt, die er | |
dann abreißt. | |
Fendts Auto zündeten Neonazis vor fünf Jahren an, wohl auch, weil darauf | |
ein IG-Metall-Sticker klebte. Auf seinem neuen Wagen prangt jetzt wieder so | |
ein Aufkleber. Es stand nur wenige Meter von dem Auto entfernt, das vor ein | |
paar Tagen in Flammen aufging. Für Fendt ist das kein Grund, den Aufkleber | |
zu entfernen. Er sagt, viele Betroffene blieben jetzt erst recht aktiv. Die | |
Solidarität hier sei ungebrochen groß, sagt Fendt: „Und von Neonazis lasse | |
ich mich schon gar nicht einschüchtern.“ | |
29 May 2022 | |
## LINKS | |
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[8] /Rassistische-Gewalt-gegen-Gefluechteten/!5853152 | |
[9] https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/berlin-lka-kontakte-101.ht… | |
[10] /Tatmotiv-Rassismus/!5843092 | |
[11] https://plus.tagesspiegel.de/berlin/18-brandanschlage-in-neukollner-hufeis… | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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