# taz.de -- Rechte Anschlagserie in Berlin-Neukölln: Der überfällige Ausschu… | |
> Am Donnerstag nimmt der Untersuchungsausschuss die Arbeit auf. Betroffene | |
> fordern seit langem Antworten – und ziehen Parallelen zum NSU. | |
Bild: Auch linke Kiezläden in Neukölln wurden angegriffen, hier der Allende-K… | |
BERLIN taz | 13 Kartons voller Akten allein aus den Jahren 2016 bis 2019 | |
haben sich bei der Berliner Justiz zur rechtsextremen Neuköllner | |
Terrorserie angesammelt. Mit der Zulassung der [1][Anklage gegen die beiden | |
hauptverdächtigen Neonazis Sebastian T. und Tilo P.] durch das Amtsgericht | |
Tiergarten in dieser Woche ist die juristische Aufarbeitung einen | |
entscheidenden Schritt weiter. Parallel dazu beginnt nun endlich auch die | |
[2][politische Aufarbeitung des Neukölln-Komplexes]. | |
An diesem Donnerstag konstituiert sich der parlamentarische | |
Untersuchungsausschuss Neukölln. Die 13 Abgeordneten um den Vorsitzenden | |
Florian Dörstelmann (SPD) werden über die Sommerpause einige Unterlagen zu | |
wälzen haben, denn sie haben sich mit einem ambitionierten Fragenkatalog | |
einiges vorgenommen. | |
Die Abgeordneten wollen das Behördenversagen im Zusammenhang mit der | |
„rechtsextremistischen Straftatenserie im Zeitraum von 2009 bis 2021 in | |
Neukölln“ – so der offizielle Ausschusstitel – beleuchten. Dabei müssen… | |
sich mit möglichen rechten Netzwerken in den Behörden, aber auch | |
Ermittlungsfehlern sowie langfristigen Entwicklungen in der rechten Szene | |
beschäftigen und sogar nach Verbindungen bis ins NSU-Umfeld fragen. | |
Nicht von ungefähr sagen einige Betroffene, dass die schon lange von ihnen | |
geforderte Aufklärung im Grunde der NSU-Untersuchungsausschuss ist, den es | |
nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios 2011 dringend gebraucht hätte. | |
Denn bereits damals hätte es angesichts regionaler Neonazi-Aktivitäten | |
genügend Anlass gegeben, mit parlamentarischen Mitteln rechte Strukturen zu | |
durchleuchten, überregionale Vernetzungen der lokalen Neonazi-Szene | |
anzuschauen und sich mit Verstrickungen von Behörden im Zusammenhang mit | |
Rechtsextremismus zu beschäftigen – und immer wieder mit der Rolle des | |
Berliner Verfassungsschutzes. | |
Und so tauchen nun im Untersuchungsausschuss wieder die Namen der | |
rechtsextremen Organisationen und Netzwerke auf, die bis heute in Berlin | |
fortwirken: Freie Kräfte Neukölln, Nationaler Widerstand Berlin, NPD | |
Neukölln. Mit Blick auf die jüngeren Ereignisse in Neukölln lassen sich | |
ergänzen: AfD und III. Weg. Und es gibt sogar sehr lange deutliche Hinweise | |
auf überregionale Überschneidungen der Szenen: Ein späterer | |
[3][NSU-Unterstützer und enttarnter V-Mann „Piatto“ aus Neukölln], Carsten | |
Szepanski, zündete bereits 1991 einen Bus der Neuköllner sozialistischen | |
Jugendorganisation Die Falken an. | |
Die Neuköllner Nazi-Netzwerke sammelten über Jahrzehnte Daten ihrer | |
politischen Feinde, übten neben lokalem rassistischen Alltagsterror | |
Anschläge und Sachbeschädigungen aus. Es ist kein Zufall, dass viele in dem | |
Brandanschlag auf das Jugendhaus der Falken 2011 den Anfangspunkt der | |
Neonazi-Anschlagsserie sehen. | |
Es lässt sich der Bogen spannen bis [4][zu Morddrohungen an die | |
Linken-Fraktionsvorsitzende Anne Helm], die 2020 mit der Unterschrift „NSU | |
2.0“ unterschrieben waren. Heute sitzt Helm für die Linke mit im | |
Untersuchungsausschuss. Neonazis erstellten Bewegungsprofile von ihr, | |
klauten ihre Post, sprengten ihren Briefkasten. | |
Engagierten in Neukölln wurden die Autos angezündet, Scheiben | |
eingeschmissen, Todesdrohungen an Hauswände gesprüht sowie die Kinder und | |
Familien von Betroffenen bedroht. Der [5][Mord an Burak Bektaş], dessen | |
Ablauf teilweise an die NSU-Morde erinnert, ist ebenso unaufgeklärt wie | |
zahlreiche andere rechtsextreme Straftaten in Neukölln. | |
Und wenn wieder wie jüngst Autos in der Neuköllner Hufseisensiedlung | |
brennen, weckt das bei Opfern meist böse Erinnerungen. Es gibt Betroffene, | |
die es nicht mehr aushielten und weg gezogen sind – auch weil die | |
Sicherheitsbehörde durch Nicht-Aufklärung versagten. | |
## Grundrauschen an offenen Fragen | |
Denn es gib ein Grundrauschen an offenen Fragen, die den Verdacht eines | |
rechten Netzwerks in den Behörden füttern: Polizist, AfD-Mitglied und | |
Anwohner [6][Detlef M., der sich mit einem Hauptverdächtigen per Mail und | |
Telegram-Gruppe austauschte] und mit weiteren Polizist*innen in einer | |
rechten Chatgruppe unter anderem rassistische Inhalte teilte; der ehemals | |
mit dem Neukölln-Komplex befasste [7][Ermittler Stefan K., der zusammen mit | |
zwei Neonazis aus rassistischen Motiven einen Afghanen in Karlshorst] | |
zusammenschlug und früher „Ansprechpartner“ für Betroffene in der Soko | |
Rechtsextremismus war; der [8][Oberstaatsanwalt F. und Staatsanwalt S., die | |
wegen Verdachts auf AfD-Nähe] vom Fall abgezogen und in andere Abteilungen | |
versetzt wurden; schließlich der [9][LKA-Beamte Pit W., der sich mit einem | |
der Hauptverdächtigen in einer Kneipe] getroffen haben soll. | |
Was der Neukölln-Komplex aber auch ist: Vernetzung und Widerstand gegen die | |
extreme Rechte. Während die Neonazis ihre Anschläge heimlich im Dunkeln | |
begehen, solidarisieren sich Betroffene und Engagierte in Vereinen und auf | |
der Straße. Sie verlegen zerstörte und gestohlene Stolpersteine neu und | |
[10][demonstrieren seit mehr als drei Jahren fast jeden Donnerstag vor dem | |
LKA Berlin] für Aufklärung der vielen offenen Fragen in dem Komplex. Sie | |
organisieren ein jährliches Erich-Mühsam Stadtteilfest, engagierten sich | |
2015 und 2016 wie selbstverständlich für Geflüchtete. Und sie demonstrieren | |
trotz Bedrohungen und Anschlägen auch danach immer wieder gegen den | |
gesellschaftlichen Rechtsruck. Auch dieser Druck hat dazu beigetragen, dass | |
die Aufklärung nun endlich beginnen kann. | |
Die Chronologie der rechten Anschlagserie | |
2009/2010 Immer häufiger kommt es nicht nur in Südneukölln, sondern auch im | |
Norden des Bezirks zu Propagandadelikten, oft an Parteienbüros oder bei | |
alternativen Einrichtungen: Aufkleber werden verklebt, NS-Symbole gesprüht, | |
mitunter auch Fenster eingeworfen. Als verantwortlich zeichnen sich | |
wiederholt die Neonazigruppierungen Aktionsgruppe Rudow, Nationale | |
Sozialisten Berlin und Nationaler Widerstand Berlin. | |
2011 Serie von Attacken und Brandanschlägen auf alternative und | |
antifaschistische Projekte. Das Jugendzentrum Anton-Schmaus-Haus der Falken | |
wird angezündet. In der Hufeisensiedlung werden Fenster einer Wohnung | |
eingeworfen, deren Bewohner:innen zuvor die Annahme von NPD-Wahlwerbung | |
verweiger hatten. | |
2012 Am 5. April wird Burak Bektaş erschossen als ein Unbekannter mehrfach | |
und gezielt in eine Gruppe Jugendlicher schießt. Zwei werden schwer | |
verletzt. Die Hinterbliebenen und die Burak-Initiative vermuten den Täter | |
im Neonazi-Milieu. Sebastian T. gilt als möglicher Verantwortlicher der | |
Internetseite des NW Berlin, auf der Bilder von Farbschmiereien bei | |
politischen Gegnern veröffentlicht werden. | |
2013/14/15 Weiter hohe Zahl von Propagandadelikten und Bedrohungen: Vor den | |
Bundestagswahlen 2013 und der Europawahl 2014 gibt es nahezu wöchentliche | |
NPD-Infostände. Am 20.9.15 wird der englische Staatsbürger Luke Holland aus | |
nächster Nähe vom Nazi Rolf Zielezinski auf offener Straße erschossen. | |
2016 Ab Mai, kurz nach der Entlassung von Sebastian T. aus dem Gefängnis, | |
kommt es zu mehreren Brandanschlägen auf die Autos von Nazigegnern. Zum | |
Jahresende werden das linke Café K-Fetisch und die Buchhandlung Leporello | |
Ziel von Angriffen. Bei einer Reihe von Antifaschist:innen werden an | |
ihrem Wohnadressen Beleidigungen gesprüht. | |
2017 Innerhalb von zehn Tagen im Januar brennen die Autos der | |
SPD-Bezirksverordneten Mirjam Blumenthal und des Buchhändlers Heinz | |
Ostermann. Weitere Autobrandstiftungen bei Personen, die sich im Bezirk | |
gegen rechts engagieren, folgen. Wieder werden linke Aktivist:innen | |
zuhause durch Sprühereien beleidigt. Stolpersteine werden gestohlen. | |
2018 Am 1. Februar kommt es zum nächtlichen Brandanschlag auf das Auto von | |
Ferat Kocak. Nur mit Glück springt das Feuer nicht auf das Wohnhaus über. | |
In der selben Nacht wird auch Ostermanns Auto angezündet – zum dritten Mal. | |
Im August wird Sebastian T. nach einem Brandanschlag festgenommen, aber | |
nach der Vernehmung wieder entlassen. | |
2019 Der Generalbundesanwalt lehnt die Übernahme der Ermittlungen ab. Beim | |
LKA wird die EG Resin („Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus in Neukölln“) | |
aufgelöst und die BAO Fokus („Besondere Aufbaugruppe“) gegründet. Die | |
Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Sebastian T. und Tilo P. wegen | |
Sachbeschädigungen und Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen. | |
2020 Der Polizist Detlef M. soll in einer AfD-Chatgruppe Interna zu den | |
Ermittlungen auch an einen der Verdächtigen weitergegeben haben. Zwei | |
Staatsanwälte werden wegen möglicher Befangenheit versetzt; die Berliner | |
Generalstaatsanwaltschaft zieht die Ermittlungen an sich. Die BAO Fokus | |
legt ihren Abschlussbericht vor. Migrantische Läden werden mit NS-Symbolen | |
besprüht. | |
2021 Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin erhebt gegen die zwei | |
Hauptverdächtigen Sebastian T. und Tilo P. Anklage wegen gemeinschaftlicher | |
schwerer Brandstiftung an den Autos von Ferat Kocak und Heinz Ostermann. | |
Außerdem sollen die beiden Neonazis im März 2019 mehrere Hauseingänge | |
vermeintlicher politischer Gegner:innen mit Drohungen wie „9 mm für …“ | |
besprüht haben. | |
15 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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