# taz.de -- Anne Helm über NSU 2.0 und Neukölln: „Ich bin eine Reizfigur f�… | |
> Anne Helm ist neue Chefin der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. | |
> Im Interview spricht sie über ihre Schulzeit, Nazi-Drohungen und die | |
> Zukunft von R2G. | |
Bild: „Wir ruhen uns auf dem Mietendeckel nicht aus“, sagt Anne Helm, Polit… | |
taz: Frau Helm, als neue Fraktionschefin der Linken wollen Sie sicher über | |
Ihre politischen Anliegen sprechen. Derzeit stehen Sie aber bundesweit im | |
Fokus, weil Sie von Rechten bedroht werden. Stört es Sie sehr, wenn wir | |
jetzt dennoch damit anfangen? | |
Anne Helm: Ja. Aber wir können das trotzdem gern machen. Natürlich sind die | |
Drohungen nervenzehrend und rauben Energie. Aber das Thema | |
Rechtsextremismus ist ja gleichzeitig ein politischer Schwerpunkt von mir. | |
Ich gehe davon aus, dass das auch der Grund ist, warum ich im Fokus von | |
Rechten und rechtsterroristischen Strukturen stehe. | |
Wie ist denn die aktuelle Bedrohungslage? | |
Das Landeskriminalamt sagt, dass sich mit den [1][NSU-2.0-Drohschreiben] | |
nichts an der Situation geändert hat. Ich muss davon ausgehen, dass | |
diejenigen, die mir diese E-Mails schreiben, Kontakte zu Personen haben, | |
die auch persönliche Observationen in Berlin betreiben – auch in meinem | |
Wohnumfeld. Aber das ist auch nicht neu für mich, aber natürlich belastend. | |
Die Drohmails kommen alle paar Nächte. Ich schaue morgens direkt, ob wieder | |
was reingekommen ist. | |
Was ist Ihre Erklärung dafür, dass vor allem öffentlich bekannte Frauen zur | |
Zielscheibe werden? | |
Aus den E-Mails geht sowohl ein ideologischer Antifeminismus, als auch ganz | |
direkte Frauenfeindlichkeit hervor. Frauen haben im völkischen Weltbild dem | |
Volkserhalt zu dienen. Meinungsstarke Frauen stehen diesem Weltbild | |
entgegen. Neonazis sehen Migrantinnen zudem als Gefahr für den Erhalt eines | |
imaginierten Volkskörpers. Wir betroffenen Frauen müssen herhalten für | |
sexualisierte Gewaltfantasien, die die Täter in ihren Formulierungen gern | |
Geflüchtete oder People of Colour ausführen lassen. Diese Kombination von | |
Rassismus und Sexismus erleben engagierte Frauen ganz oft. | |
In verschiedenen Fällen wurden Daten von hessischen Polizeicomputern | |
benutzt, um Informationen über Betroffene herauszufinden. Inwiefern ist das | |
auch in Berlin Thema? | |
Datenabfischung aus Polizeicomputern oder auch das Durchstechen von | |
Informationen an rechte bis rechtsterroristische Kreise müsste noch mal | |
größer behandelt werden. In Berlin hatten wir mehrere ähnliche Fälle. | |
Schlaglichter fielen darauf aber immer nur, wenn etwas herauskam: Wir | |
hatten Drohschreiben von Polizisten in die linke Szene oder zuletzt den | |
Fall eines Polizisten, der mutmaßlich Informationen an eine Chatgruppe | |
weitergab, in der auch einer der Hauptverdächtigen der rechten | |
Anschlagsserie in Neukölln war. Wir müssen das Problem mal strukturiert | |
anschauen und uns vorlegen lassen, wie bei der Polizeidatenbank Poliks | |
überhaupt die Kontrollmechanismen sind und welche Möglichkeiten zum | |
Missbrauch es dort gibt. | |
Sollte der Generalbundesanwalt zum Komplex NSU 2.0 ermitteln? | |
Laut hessischem LKA sind mehrere Bundesländer betroffen und es sollen | |
mehrere Täter sein – wir haben es also mit einem Netzwerk zu tun. Die | |
Staatsanwaltschaft in Hessen hat den Generalbundesanwalt dazu aufgefordert, | |
den Fall zu übernehmen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum der sich nicht | |
zuständig fühlt. | |
Wurde Polizeiwissen auch benutzt, um Sie zu bedrohen? | |
Meine persönlichen Daten aus dem Drohschreiben kommen nicht von | |
Polizeicomputern. Diese Art von Informationen sind nicht in solchen | |
Systemen hinterlegt. Das haben sie wohl eher aus Observationen meines | |
Wohnumfelds. | |
Inwiefern? | |
Es gab schon früher Situationen, wo sich morgens zwei mir bekannte Neonazis | |
an der Bushaltestelle links und rechts neben mich gesetzt haben und mir | |
ruhig gesagt haben, dass sie wissen, in welchen Bus ich einsteige und wohin | |
ich zur Arbeit fahre. Sie haben mich wissen lassen, dass sie ein | |
Bewegungsprofil von mir erstellen. Außerdem wurde mein Briefkasten mal | |
aufgesprengt und Post geklaut. Das wurde von der Polizei aber nicht | |
politisch bewertet, sondern nur als Sachbeschädigung und Diebstahl. Das | |
gehört alles zu den Einschüchterungstaktiken, die ganz gezielt gegen | |
politisch Aktive in Neukölln gerichtet sind. | |
Fühlen Sie sich von der Polizei ausreichend informiert und beschützt? | |
Mir geht es sicherlich besser als Betroffenen in Hessen, bei denen es | |
überhaupt kein Sicherheitsgefühl mehr gegenüber der Polizei gibt. Ich bin | |
auch in einer anderen Situation als Menschen, die Morddrohungen an ihre | |
Familienmitglieder erhalten. Aber klar ist da ein Misstrauen. Erst recht, | |
wenn sich das Gefühl aufdrängt, dass das Vertrauen der Polizisten in die | |
hessischen Kollegen teilweise selbst gering ist. Deswegen wurde mir | |
empfohlen, meine Telefonnummer nicht in der Anzeige wegen des | |
Drohschreibens anzugeben. | |
Wie bewerten Sie die Ermittlungen der Polizei zum Neukölln-Komplex? | |
Mindestens sind sehr viele Ermittlungsansätze verpasst worden. Es gibt aber | |
auch Polizeibeamte, die das frustrierend finden. Der Zwischenbericht der | |
Ermittlungsgruppe Fokus, die eingesetzt worden ist, um alles noch mal | |
aufzurollen, war hauptsächlich ein Tätigkeitsnachweis. Das ärgert mich | |
sehr. Es sind dann etwa Verbindungen zum Terroristen von Halle oder zum | |
Mörder von Lübcke überprüft worden, um aufzuschreiben, dass man keine | |
Verbindungen gefunden hat. Danach hat aber auch niemand gefragt. | |
Wonach denn? | |
Nach Verbindungen zu anderen Neonazi-Strukturen, die für Betroffene und | |
Beobachterinnen auf der Hand liegen, aber nicht überprüft wurden. Es gab | |
etwa keine Untersuchungen von Verbindungen zu Anschlägen auf | |
Asylunterkünfte oder andere Taten, die wir dem Komplex zuordnen. Zudem muss | |
mindestens die auch öffentlich debattierte Situation aufgearbeitet werden, | |
in der man hätte zugreifen können und es dann doch nicht getan hat. Der | |
nicht verhinderte Anschlag auf Ferat Kocak war Versagen auf ganzer Linie. | |
Braucht es zur Aufklärung einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss? | |
Ich glaube, es braucht so oder so externe Revision der Polizei. Aber man | |
sollte hier vorsichtig sein mit den Erwartungen: Ein Untersuchungsausschuss | |
kann keine polizeilichen Ermittlungen übernehmen. Aber er kann beleuchten, | |
ob es ein strukturelles Problem bei der Polizei gibt und warum | |
Ermittlungsansätze verpasst worden sind. Das kann man der Polizei nicht | |
selbst überlassen. Und dafür fordern wir einen Untersuchungsausschuss oder | |
als ersten Schritt zumindest einen Sonderermittler. | |
Wieso ist es so schwierig, in Deutschland eine ehrliche Debatte über | |
Probleme bei der Polizei zu führen? | |
Legitime Kritik wird immer als Angriff auf die Institution gewertet. Das | |
halte ich für einen Fehler. Gerade zur Rechtfertigung der Institution und | |
um das Vertrauen wiederherzustellen, wäre es notwendig, solche | |
strukturellen Probleme aufzuarbeiten. Immerhin gibt es ja mittlerweile auch | |
aus der sogenannten Polizeifamilie Stimmen, die strukturelle Diskussionen | |
einfordern – vom Bund deutscher Kriminalbeamter zum Beispiel. | |
Gibt es ein strukturelles Rassismusproblem in der Polizei? | |
Ja, selbstverständlich gibt es ein strukturelles Rassismusproblem in der | |
Polizei. Und das ist nicht die einzige Institution, in der das so ist. Und | |
da war nach der Selbstenttarnung des NSU der Stand der gesellschaftlichen | |
Debatte schon mal sehr viel weiter. Aber damals wurden daraus die falschen | |
Schlüsse gezogen – etwa indem die Ermittlungsbehörden noch mehr Kompetenzen | |
erhalten haben. | |
Hat die Bedrohungslage für Sie mit der Bomber-Harris-Protestaktion 2014 | |
begonnen, bei der sie dem britischen Luftwaffengeneral für die | |
Bombardierung Dresdens mit einem Schriftzug auf ihrem nackten Oberkörper | |
dankten? | |
Nein, das gab es schon vorher. Aber es hat stark zugenommen. Seitdem bin | |
ich im deutschsprachigen Raum eine Reizfigur in rechten Netzwerken. Aber | |
für die Neuköllner Nazi-Clique hat es auch davor schon gereicht, dass ich | |
mich vor Ort engagiert habe. Die haben mich seit 2011 auf dem Schirm, wie | |
Feindeslisten zeigen. Auch vor der Aktion in Dresden kannte ich | |
rechtsmotivierte antifeministische Angriffe, Veröffentlichungen von | |
privaten Informationen sowie koordinierte rechte Shitstorms. | |
Wie gehen Sie damit um, dass diese Aktion immer wieder von Rechten für | |
koordinierte Shitstorms hervorgekramt wird – wie zum Beispiel zuletzt vom | |
AfD-Fraktionschef Georg Pazderski? | |
Es gehört eben zu meiner Biografie. Im Umgang damit habe ich viel über | |
politische Kommunikation gelernt. Die Aktion sollte provozieren und | |
wahrgenommen werden. Wir wollten dem Geschichtsrevisionismus der damaligen | |
Nazi-Demo in Dresden ein deutliches Zeichen entgegensetzen und klarmachen, | |
wer die Opfer dieses Krieges und wer die Täter waren. Aber ich habe | |
gelernt, dass man nicht kontrollieren kann, in welchem Kontext etwas | |
gelesen wird – und dass antifaschistische Gedenkpolitik nicht zynisch sein | |
sollte. | |
Sie sind in Südneukölln, in Britz zur Schule gegangen. Nazis sind dort seit | |
Jahren präsent. War das damals auch schon so? | |
Ja. Die Nazi-Clique in Britz und Rudow kenne ich schon lange. Einer der | |
Hauptverdächtigen der rechten Anschlagsserie kenne ich noch von damals: Wir | |
haben uns als Schülerinnen die Gesichter von denen eingeprägt, um uns | |
selbst zu schützen. Das ist wie auf dem Dorf: Man muss die örtlichen | |
Nazi-Strukturen kennen, um sich zu schützen und im Zweifelsfall erkennen zu | |
können, wer gefährlich ist. | |
Hat Antifaschismus Sie politisiert? | |
Ja, aber meine Perspektive darauf war eher Ungleichheit: Ich habe erlebt, | |
wie von Rassismus betroffene Klassenkameradinnen schlechtere Chancen hatten | |
als ich, obwohl sie bessere Noten hatten. Vielen Mädchen, mit denen ich | |
befreundet war, wurde zu Hause eingebläut, nicht wütend sein zu dürfen und | |
nie zu fordernd zu sein. Sie sollten sich zurückhalten, auch wenn sie | |
Rassismus erfahren. Das hat mich extrem geprägt. | |
Nun aber mal genug von Rassismus und Nazis: Was sind die zentralen Dinge, | |
die die Linke noch in dieser Legislatur erreichen will? | |
Uns geht es primär darum, Investitionen zu sichern. Man darf der Krise | |
nicht hinterhersparen. Das ist die Lehre, die wir als Partei aus den | |
letzten Krisen gezogen haben. Gerade jetzt müssen wir investieren, allein | |
um den Arbeitsmarkt und die öffentliche Infrastruktur zu sichern und um sie | |
für die Zukunft krisensicher zu machen. | |
Das alles klingt ja jetzt nicht nach großen Visionen oder | |
Leuchtturmprojekten. | |
Ja, das klingt vielleicht ein bisschen dröge. Und das sind vielleicht nicht | |
die Lieblingsprojekte, mit denen wir gerne werben würden. Aber es ist | |
entscheidend. Jetzt darf auf keinen Fall zulasten der sozialen | |
Sicherungssysteme gespart werden, damit nicht die Menschen, die am ärgsten | |
von der Krise betroffen sind, diejenigen sind, die am Ende die Zeche | |
zahlen. | |
Ziehen SPD und Grüne da mit? | |
Ich glaube, wir werden diesen Kampf gemeinsam führen. Hier sind die | |
Konfrontationslinien anders gelagert: Als Parlamentarier und | |
Haushaltsgesetzgeber müssen wir uns mit der Senatsverwaltung für Finanzen | |
auseinandersetzen. Aber das werden wir. Wir haben als Parlament die Hoheit | |
über den Haushalt. Ohne die Linke wäre dieser Kampf wahrscheinlich unter | |
ganz anderen Voraussetzungen zu führen. Das ist die höchste Priorität für | |
uns im Moment und auch die grundsätzliche Debatte in dieser Stadt. | |
In was für einer Gesellschaft möchten Sie leben, was ist Ihre politische | |
Utopie? | |
In einer Gesellschaft, in der Menschen emanzipiert von sozialen und | |
ökonomischen Zwängen leben können. Wo sie eine tatsächliche | |
Entscheidungsfreiheit haben, was ihre Lebensentwürfe sind. Zum Beispiel, | |
wie und wo sie arbeiten, ob sie Familien gründen wollen. Das ist in der | |
Realität gerade nicht der Fall. | |
Verbessert Rot-Rot-Grün etwas daran? | |
Wir müssen Voraussetzungen schaffen, unter denen das möglich ist. Ich habe | |
dann meinen Job gemacht, wenn es den Menschen besser geht und sie mehr | |
Handlungsspielräume haben. Ganz konkret: Wenn Menschen aus einer beengenden | |
Lebenssituation oder einer gewalttätigen Partnerschaft nicht rauskommen, | |
weil sie es sich nicht leisten können, auszuziehen und versuchen müssen, | |
den zehn Jahre alten Mietvertrag zu halten, ist das ein unerträglicher | |
Zustand. Wenn wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen sich | |
freier entscheiden können, unter welchen Umständen sie leben wollen, dann | |
haben wir was richtig gemacht. | |
Kommt Ihre Utopie ohne Schlagwörter wie etwa Sozialismus aus? | |
Das habe ich ja gerade versucht. Aber es gibt Vordenker und Ideen, auf die | |
wir uns beziehen, und dazu gehören selbstverständlich auch Sozialistinnen | |
und Sozialisten, auf deren Schultern wir stehen. | |
Wollten Sie eigentlich schon immer Politikerin werden? | |
Nein. Nein! | |
Wie kam es dann dazu? | |
Das kam erst beim Machen. Politisch war ich schon sehr früh. Aber ohne die | |
Piratenpartei, bei der ich das Gefühl hatte, Teil einer Bewegung zu sein, | |
mit der man tatsächlich etwas erreichen kann, wäre ich nicht in die | |
Parteipolitik gegangen. Als ich dann aber in der Kommunalpolitik in | |
Neukölln war, habe ich gemerkt, dass mich der parlamentarische Rahmen mehr | |
interessiert hat, als ich dachte. Der erste Aha-Moment war, als wir auf | |
Bezirksebene Milieuschutzgebiete eingeführt haben. Das war ein langer, | |
zäher Kampf, den ich damals schon gemeinsam mit der Linken im Bezirk | |
geführt habe, aber als es geschafft war, haben wir eine reale Verbesserung | |
für die Nachbarschaft erreicht. Das war einfach ein gutes Gefühl. | |
Als Synchronsprecherin waren Sie gut im Geschäft, nun sind sie | |
Fraktionsvorsitzende. Fällt es Ihnen schwer, ihre Arbeit aufzugeben? | |
Über den Sommer muss ich noch ein paar Serien vernünftig zum Abschluss | |
bringen. Ich liebe diesen Job und werde ihn vermissen, weil er | |
abwechslungsreich ist und Spaß macht. Man kann als Synchronsprecherin sehr | |
emotional sein, was man in der Politik lieber nicht sein sollte. Deswegen | |
war das immer ein guter Ausgleich. | |
Wie gut hat Sie das Synchronsprechen darauf vorbereitet, als Politikerin | |
Reden zu halten? | |
Leute sagen mir, dass ich eine schöne Stimme habe, aber ansonsten | |
erstaunlich wenig. Es ist etwas ganz anderes, eigene Überzeugungen auf | |
einer Demo oder im Parlament zu artikulieren. Was ich aber gelernt habe, | |
ist zuhören und verstehen, wie Menschen Bedürfnisse artikulieren. Diese | |
Nuancen wahrzunehmen ist ein großer Teil der Arbeit als Synchronsprecherin. | |
Wie war es, im Alter von neun Jahren ein „Schweinchen namens Babe“ zu | |
sprechen? | |
Das war natürlich geil. Das war ein sehr süßer Film. Da hatte ich auch, | |
anders als sonst, wo ich versuche, der Originalschauspielerin möglichst | |
nahe zu kommen, sehr viel kreative Freiheit. Im australischen Original wird | |
Babe von einer erwachsenen Frau und nicht von einem Kind gesprochen. Die | |
Mimik des Schweins war auch nicht übermäßig computeranimiert, es war | |
größtenteils einfach nur ein Schwein. Insofern hat die Stimme eine ganze | |
Menge vom Charakter dieser Figur ausgemacht. | |
Sie sind die ersten Jahre in Treptow aufgewachsen, nach der Wende dann in | |
Neukölln. Ist diese Ost-West-Vergangenheit irgendwie wichtig für Sie? | |
Das ist biografisch prägend. Meine Mutter war Buchhändlerin und erlebte in | |
ihrem Freundeskreis zahlreiche staatliche Repressionen. Insofern gab es | |
eine große Skepsis, Vorbehalte und Verletzungen gegenüber der Partei – auch | |
wenn wir ein linker Haushalt waren. Entsprechend war es für mich zunächst | |
nicht naheliegend, zur Linken zu gehen, obwohl ich linke Ideen und Ziele | |
hatte. Ebenso sind mir Erfahrungen von Menschen bewusst, die nach der Wende | |
das Gefühl hatten, dass ihre Lebensleistung nicht anerkannt wird. Sie | |
mussten erleben, dass das, was gestern richtig war, auf einmal falsch ist, | |
und hatten keine Zukunftsperspektiven mehr. Auch kenne ich etwa das Konzept | |
Hausfrau überhaupt nicht – mit dieser Option bin ich einfach nicht | |
aufgewachsen. | |
Die Piraten hatten ein besonderes Demokratieverständnis. Sie und Carsten | |
Schatz sind von der bisherigen Fraktionsführung als Nachfolger auserkoren | |
worden. Können Sie die Kritik daran nachvollziehen? | |
Kann ich, aber ich glaube das Gegenteil wäre ihnen auch zum Vorwurf gemacht | |
worden. Gerade in dieser schwierigen Lage, mitten in der Pandemie, war es | |
verantwortungsvoll, Vorschläge zu machen, wie es weitergeht. In der | |
Kommunikation ist da ein bisschen was schiefgegangen, was sich im | |
Nachhinein schwierig heilen lässt. Aber die Fraktion zeichnet offenen | |
Austausch und Miteinander aus, das werden wir fortsetzen. | |
Haben Sie beide sich selber beworben? | |
Wir sind angesprochen worden und auch ziemlich kurzfristig. | |
Sie sind am Ende [2][mit 16:9 Stimmen gewählt] worden. War das eine | |
Enttäuschung? | |
Nein, das interpretiere ich nicht so. Ich hatte eine Gegenkandidatin, und | |
das Ergebnis ist klar genug, dass ich eine Unterstützung habe. Ich verstehe | |
auch, dass ich nicht von allen Vorschussvertrauen bekomme, schließlich war | |
es auch nicht die naheliegendste Option, dass ich in meiner ersten | |
Legislaturperiode so einen Job übernehme. Damit kann ich umgehen. | |
Bislang waren Sie Sprecherin für Strategien gegen Rechts und Medien. Müssen | |
Sie als Fraktionsvorsitzende jetzt Generalistin sein? | |
Ja. Ich versuche mir gerade in allen Bereichen einen Überblick zu | |
verschaffen. Wir treffen gerade möglichst viele relevante Akteure in der | |
Stadt, ich lasse mich aus den Fachbereichen beraten und schaue, welche | |
Entscheidungen anstehen. Niemand erwartet von mir, dass ich eine | |
Spezialistin in jedem Gebiet werde, aber die großen Linien müssen stimmen. | |
Gelingt es Ihnen als junge Fraktionsvorsitzende, sich gegen die | |
Schwergewichte aus der Regierung oder den erfahrenden anderen | |
Fraktionschefs durchzusetzen? | |
Es erwartet niemand, dass Carsten Schatz und ich Udo Wolf und Carola Bluhm | |
ersetzen oder im gleichen Stil weitermachen. Wir sind andere Personen. Ich | |
wundere mich aber über die Frage, ob ich mich durchsetzungsfähig in der | |
Koalition fühle, weil ich das gar nicht als Problem sehe. Ich fühle mich | |
durchaus gewappnet, auf Augenhöhe mitzureden. | |
Wie ist das Verhältnis zu den Fraktionsvorsitzenden der SPD und Grünen? | |
Ganz gut. Das ist eine vernünftige Arbeitsatmosphäre. Wir haben uns auch | |
erst mal Zeit für eine Kurzklausur genommen. Uns ist auch bewusst, dass es | |
bald in den Vorwahlkampf geht und das Bedürfnis, sich abzugrenzen, steigen | |
wird. Aber es ist auch klar, dass wir ein gemeinsames Zeugnis ausgestellt | |
bekommen. Deswegen kann sich niemand freuen, wenn eine Senatorin oder ein | |
Senator mit einem Projekt scheitert. | |
Und nach der Wahl soll es mit R2G weitergehen? | |
Ich glaube, dass wir unsere Arbeit fortsetzen müssen. Interessant wird, wie | |
sich die Koalition verändern wird. Selbstverständlich haben wir den | |
Anspruch, den Regierenden Bürgermeister zu stellen. Das ist das, wofür wir | |
kämpfen werden. | |
Wird es zum Knackpunkt bei der Wahl, ob der Mietendeckel bis dahin noch | |
besteht? | |
Das ist ein relevanter Punkt. Der Mietendeckel ist ein Stimmungsbarometer | |
für linke Mehrheiten in dieser Stadt, gesellschaftlich und parlamentarisch. | |
Aber man darf nicht alles nur auf diese eine Karte setzen. Der Deckel ist | |
erst mal eine Verschnaufpause, um Handlungsspielräume zu gewinnen. Wir | |
ruhen uns auf dem Mietendeckel nicht aus: Andere Instrumente zur | |
Regulierung des Mietmarktes, auch bei Gewerbemieten, müssen wir trotzdem | |
vorantreiben. Eines davon kann auch die Vergesellschaftung großer | |
Wohnungskonzerne sein. Sollte der Mietendeckel nur in Teilen halten, wird | |
sich die Debatte ohnehin stärker darauf fokussieren, und das auch zu Recht. | |
Damit ist man auf einer ganz anderen Gesprächsebene über die Frage, wie ein | |
fairer Mietmarkt aussieht. | |
1 Aug 2020 | |
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