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# taz.de -- Die Kunst der Woche für Berlin: Mit politischer Aufgabe betraut
> Blasphemische Fabelwesen von Gert & Uwe Tobias, Blicke auf einen
> Grenzfluss bei Capitain Petzel und das Werk der Berliner Künstlerin Irene
> Wedell.
Bild: Ausstellungsansicht, Zoe Leonard, A View from the Levee, Capitain Petzel,…
Schon das Format von 200 x 168 cm ist ungewöhnlich für einen Holzschnitt,
ganz zu schweigen von der raffinierten bunten Farbigkeit. Sind Holzschnitte
normalerweise nicht eher klein? Und wenn sie bei der Plakatgestaltung zum
Zug kommen, nicht eher schwarzweiß?
Die Holzschnitte, die Contemporary Fine Arts [1][derzeit ausstellt, sind
all das nicht]. Sie stammen von Gert & Uwe Tobias, die ihre Druckstöcke
schon immer auf die große Leinwand hin konzipierten, auf die sie drucken
und dabei die Grafik in die Grandiosität des Tafelbilds überführen.
Tierische Fabelwesen, man meint darunter speiende Hühner zu erkennen,
wundersame Raupen im blauen Frack, dazu schicke Kröten und wilde Hummeln,
treiben da in einem von Farbflächen simulierten Raum ihr undurchsichtiges,
womöglich böses Spiel. Und natürlich darf die Fledermaus nicht fehlen.
Denn das Szenario dieses wilden Traums, der sich einem Film gleich über
zehn Leinwände abspult, verdankt sich auch der Mythologie und Folklore
[2][ihres transsilvanischen, also rumänischen Herkunftslandes]. Die
Zwillinge wurden 1973 in Brasov (Kronstadt) geboren. Lange schon leben sie
aber in Köln, und so scheint mit den prachtvollen Bischofsmützen, die ihre
Kreaturen bekrönen, den Heiligenscheinen und Engelsflügeln, eine dezidiert
katholische Ikonografie in ihre Bilder Eingang gefunden zu haben.
Besonders die übergroßen Hände der Phantasiegestalten glaubt man aus der
Kirchenmalerei zu kennen. Gerne erheben sie bedeutungsvoll den Zeigefinger,
wobei die restlichen Finger der Hand schier unglaubliche Verrenkungen
veranstalten. In ihrem dekorativen Spiel zwischen Abstraktion und
Figuration zeigen Gert & Uwe Tobias’ Leinwände eine erfrischend
blasphemische Note, nicht nur was die christliche, sondern auch, was die
zeitgenössische Kunst betrifft (bis 23. 4., [3][Contemporary Fine Arts],
Grolmanstr.32/33, Mo-Fr 10-18, Sa 11-17 Uhr).
Die Farbaufnahmen des gurgelnden Wassers des Rio Grande/Rio Bravo kenne ich
aus dem Mudam in Luxemburg. Sie bilden den Prolog der Ausstellung „Al
rio/To the River“ von Zoe Leonard, [4][die noch bis zum 6. Juni läuft].
Danach wandert die Ausstellung nach Paris. Deutsche Kunstinstitutionen
scheinen sich für die Arbeit der zweimaligen documenta-Teilnehmerin nicht
zu interessieren.
Man darf sich also glücklich schätzen, in Berlin zu leben. Hier finden sich
immerhin die Galerien, die die Aufgabe wahrnehmen, kunstinteressierte
Menschen über das relevante zeitgenössische Kunstgeschehen auf dem
Laufenden zu halten. Und so queren nun die [5][40 Aufnahmen des Prologs]
auf Stellwänden den Hauptraum der Galerie Capitain Petzel.
An den Seitenwänden finden sich die Ansichten vom Deich, die der Schau in
Berlin ihren Titel „A View from the Levee“ geben. Seit 2016 fotografiert
Zoe Leonard den Rio Grande entlang der 2000 Kilometer, auf denen er die
Grenze zwischen Mexiko, wo der Fluss Rio Bravo heißt, und den USA bildet.
Hier kommt es zu dem Paradox wie Leonard sagt, „ein natürliches Element mit
einer politischen Aufgabe zu betrauen“. Wie sich das gestaltet ist dann im
Unter- und Obergeschoß zu verfolgen. Von öffentlich zugänglichen Standorten
beobachtet Zoe Leonard eine [6][zunehmend militarisierte Flusslandschaft
voller Grenzzäune, Kontrollpunkte und uniformierten Patrouillen].
Mit der Aufnahme „From the Puente Colombia, looking downstream“ (2017/2022)
ist dann aber auch ein scheinbar unberührter Flusslauf zu beobachten. An
ihm weiden wie die Ansicht „From the levee, Ojinaga“ (2017/2022) zeigt,
friedlich die Kühe. Erfolgreich unternimmt Zoe Leonard die Anstrengung, den
Konflikt zwischen Natur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wie er sich
exemplarisch am Rio Grande/Rio Bravo abspielt, in seinen vielfältigen
Facetten festzuhalten, statt ihn plakativ im Bild zuzuspitzen.
Tatsächlich ist es ihr von Anfang an ein Anliegen gewesen, [7][die
Bedingungen der Bildproduktion und die Rolle der Fotografie] bei der
Konstruktion des Selbstbildes von Gesellschaften und deren historischen
Horizonts kritisch zu reflektieren. Es lohnt sich, die gurgelnden Wasser zu
studieren (bis 16. 4., [8][Capitain Petzel], Karl-Marx-Allee 45, Di-Sa
11-18 Uhr).
Martin Beyer erzählt in seinen Romanen gerne von realen Personen, deren
Lebensgeschichte ihn inspiriert, sie in literarischer Form zu verhandeln.
Nicht immer ist die Literaturkritik damit einverstanden – etwa mit dem
Aufritt der Geschwister Scholl in seinem Roman von 2019 „Und ich war da“.
In seiner aktuellen Neuerscheinung „Tante Helene und das Buch der Kreise“
(Ullstein 2022, 416 Seiten, 23,- Euro) allerdings gelingt es ihm, eine
kluge Analyse der Lebensgeschichte der Berliner Künstlerin Irene Wedell
(1939-2017) in die eindringliche Erzählung der komplexen, weil
komplizierten Selbstfindung als Künstlerin und Frau in der deutschen
Nachkriegszeit zu überführen.
Die Realien mit der Fiktion abzugleichen, mit Gewinn für beide
Perspektiven, [9][dazu besteht nun die Gelegenheit] in der Galerie Under
the Mango Tree, die eine Auswahl von Irene Wedells künstlerischem Werk
zeigt. Wedell arbeitete bevorzugt auf Papier, mit Malerei, Zeichnung,
Collage, Druck oder Nähfaden.
Das heißt sie applizierte Pflanzen- und Blütenteile auf Papier, indem sie
sie aufnähte. Die so entstanden Arbeiten sind ihrer Natur gemäß extrem
empfindlich, was gleichzeitig ihre ästhetische Qualität ausmacht. Das Spiel
von Brüchigkeit und Widerstand der Texturen wie vom Verblassen und Bestand
der Farben fesselt den Blick.
Selbstgefertigte Kästchen voll gesammeltem Pflanzenmaterial zeigen dann,
dass sie dessen Haltbarkeit und dessen Veränderungen von Struktur und
Textur bei der Trocknung genau studierte. Und so konnte sie es dann auch
wagen, mit Blumen und Pflanzen auf großen transparenten Papieren zu
arbeiten, wo sie und die Aquarellfarben oft eher wie gedruckt erscheinen
oder dann wieder an chinesische Tuschzeichnungen erinnern.
Dass Irene Wedell auch ihre Künstlerbücher gerne dreidimensional
ausstattete, erscheint nur folgerichtig. Mit ihren vielen Schichten Papier
und Folien, mit ihren Gräsern, Knospen, Ästchen und Blättern, erweitern sie
die Collage zur Assemblage. Allerdings im kleinen intimen Format, was
besonders faszinierend erscheint (bis 30. 4., [10][Under the Mango Tree],
Merseburger Str. 14, Di-Fr 15.30 – 18.30 Uhr, Sa, So 13-16.30 Uhr).
5 Apr 2022
## LINKS
[1] https://cfa-berlin.de/exhibitions/41437/not-a-drop-left/works/
[2] /Ausstellung-Gert-und-Uwe-Tobias/!5100652
[3] http://Contemporary%20Fine%20Arts
[4] https://www.mudam.com/de/ausstellungen/al-rio-to-the-river
[5] https://www.capitainpetzel.de/exhibitions/94-zoe-leonard-a-view-from-the-le…
[6] /Gefluechtete-an-der-US-Grenze/!5803174
[7] /!3204893/
[8] https://www.capitainpetzel.de/exhibitions/94-zoe-leonard-a-view-from-the-le…
[9] http://www.utmt.net/
[10] http://www.utmt.net/
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
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