Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Zeitenwende“ von Kanzler Scholz: Vor allem Rhetorik
> Kanzler Scholz will sich von einer Welt lösen, die er selbst
> mitgeschaffen hat – und bleibt in ihr gefangen. Seiner Zeitenwende fehlt
> die Substanz.
Bild: Olaf Scholz im Dienstwagen unterwegs
Jeder Kanzler und jede Kanzlerin, so scheint es, leistet sich eine Wende.
[1][Angela Merkel hatte ihre Energiewende], Olaf Scholz hat seine
[2][Zeitenwende], und für Helmut Kohl – den Gierigen – waren es gleich
zwei: eine geistig-moralische und eine wiedervereinigende. Nur Altkanzler
Gerhard Schröder war schnittig, mittig, wendefrei.
Die Wende, so könnte man sagen, ist ein deutsches Geistesphänomen,
verbunden mit einem speziellen Blick auf die Welt und die Geschichte und
wie sie sich entfaltet: nicht linear, als Fortschrittserzählung gedacht,
oder kreisförmig – diese Vorstellung haben wir trotz Nietzsche hinter uns
gelassen, der Fortschritt für eine kindliche Idee hielt und stattdessen die
ewige Wiederkehr des Gleichen proklamierte, was durchaus als Drohung
gemeint war.
Die Rede von der Wende sieht dagegen eine Ruptur im Band der Zeit, einen
radikalen Wechsel der Perspektive, der entweder selbst produziert wird, wie
es die geistig-moralische Wende impliziert, oder häufiger vollzogen wird,
angeschoben von größeren und oft diffusen Kräften, die von außen regieren;
eine Art Schicksal. Diese Leseweise, und das mag das speziell Deutsche
daran sein, hat den Vorteil, dass sie dem Einzelnen die Bürde abnimmt,
verantwortlich zu sein für das, was er oder sie getan hat oder eben nicht.
Bei Angela Merkel war das so, als sie 2011 die Energiewende ausrief, als
Reaktion auf das [3][Reaktorunglück von Fukushima]. Jahre und Jahrzehnte
von Kritik an der Atomindustrie und -energie – einfach weggewischt mit
voluntaristischem Flair, ohne parlamentarischen Prozess, eine Entscheidung,
die Realität schuf. Und die Merkel selbst, und das ist wichtig bei der
größeren Psychologie des Wendediskurses, ins Recht setzte, die sie als
Aktive zeigte, mit dem Signum der Macht versehen.
## Nur nicht zurückschauen
Es ist also eine fragile Konstruktion, die Sache mit der Wende – denn dort,
wo man langsam und opportunistisch wirken könnte, will man ja als jemand
erscheinen, der oder die den Gang der Geschichte steuert. Die Rede von der
Wende ist damit verbunden mit einem politischen Topos, der dieser Tage auch
wieder viel verwendet wird, um die Entscheidungsfindung und die Wirkweise
der veränderten Demokratien der Spätmoderne zu benennen: der
Ausnahmezustand, vom bösen Carl Schmitt effektiv theoretisiert.
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, sagt Schmitt –
was natürlich sehr vielversprechend ist für Herrschende, die sich durch
ihre eigene Entscheidung im Gefüge der Macht ganz an die Spitze setzen
können. Das Volk wiederum, oder die Bevölkerung, als eigentlicher Souverän,
so wie es die Verfassung vorsieht, bleibt dabei eher in der
Zuschauerposition.
Das ist das Anti- oder Undemokratische dieser Praxis, so wie sie etwa
Emmanuel Macron in Frankreich über einen weiten Teil seiner Regierungszeit
vollzogen hat – 46 von 78 Monaten regierte er mit einer
Notstandsgesetzgebung, die er dann teilweise ins geltende Recht überführte.
Olaf Scholz fügt sich also sehr gut ein in diesen Zeitgeist mit seiner Rede
von der Zeitenwende – die sehr technokratisch und weniger inhaltlich
gedacht ist, extrem nach vorne orientiert. Auch da ist Scholz ganz
Merkelianer: Denn wenn er zurückschauen würde, was ja eigentlich auch Teil
der Wende sein könnte oder sogar müsste, dann würde er eigenes Versagen
sehen und die Widersprüche eines Systems, das erst die Verstrickungen
geschaffen hat, aus denen Scholz sich nun befreien will.
## Handwerklich schlecht gearbeitet
Denn die Welt, in der diese Wende nun stattfindet, ist sehr wesentlich
seine oder die seiner Generation. In den 1990ern wurde diese Welt
geschaffen, mit dem Vorrang der Wirtschaft vor der Demokratie, so wie sie
explizit Doktrin wurde in der „Schocktherapie“, die etwa die Sowjetunion in
die schöne neue Welt des Kapitalismus katapultieren sollte – und doch vor
allem einige sehr reiche Männer produzierte und sehr viel soziale
Ungleichheit – ein Staat als wirtschaftlich ausgehöhlte Rumpfdemokratie.
Scholz löst sich noch immer nicht von diesem Denken, wenn er wieder und
wieder „profit before people“ setzt, also [4][wirtschaftliche Argumente] in
Bezug auf den Krieg in der Ukraine militärischen oder menschlichen
Überlegungen vorzieht und gegen ein Öl- und Gasembargo entscheidet, weil es
der deutschen Wirtschaft schaden würde. Die Abhängigkeit bleibt. Scholz
schafft damit eine neue Miniaturausgabe von Wendediskurs, weil sich aus der
Entscheidung keine Handlungsoption ergibt. Ein kleines Kunststück der
taktischen Selbstverstrickung.
Seine Rede von der Zeitenwende – auch das zeigt sich damit mehr und mehr –
ist vor allem Rhetorik gewesen, schnell formuliert und wenig durchdacht,
mit einer Zahl versehen: 100 Milliarden, die langsam auch zerfällt, weil so
unklar ist, wie und wofür das Geld genau zu verwenden ist. Scholz’
Zeitenwende ist ähnlich wenig durchdacht wie Merkels Energiewende, was erst
einmal nichts mit der Notwendigkeit zu tun hat, die Prämissen des eigenen
Handelns zu überdenken, im Gegenteil – es zeigt nur, dass hier handwerklich
schlecht gearbeitet wird.
Wenn sich also Wirklichkeit in Worte verwandelt – oder, wie es [5][Peter
Pomerantsev] mit Blick auf Putin ausdrückt, alles möglich ist und nichts
wahr –, dann fehlt Scholz’ Zeitenwende die Substanz, der Antrieb, die
Begründung in der Realität. Die Prämissen oder Prinzipien, auf denen sie
beruht, bleiben offen, ohne Ambition, diese Leere zu füllen. Die
Entscheidung allein soll reichen. Es ist ein trauriges Schauspiel von
demokratischer Verkümmerung, letztlich ganz im Geiste der technokratischen
Vollzugszwänge.
Von Schmitt zu Scholz: Der deutsche Wendediskurs dieser Tage ist die
Sozialdemokratisierung der Rede vom Ausnahmezustand.
13 Apr 2022
## LINKS
[1] /Ausstieg-aus-der-Atomkraft/!5119619
[2] /Aufruestung-in-Deutschland/!5838517
[3] /10-Jahre-Fukushima/!5751324
[4] /Gewerkschafter-ueber-Sanktionen/!5843373
[5] https://www.publicaffairsbooks.com/titles/peter-pomerantsev/nothing-is-true…
## AUTOREN
Georg Diez
## TAGS
Schlagloch
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Olaf Scholz
Aufrüstung
IG
wochentaz
Schlagloch
Floskeln
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kolumne Poetical Correctness
Bundestag
## ARTIKEL ZUM THEMA
Rhetorik des Olaf Scholz: Was Fakt ist, bestimme ich
Olaf Scholz benutzt in seinen Reden immer wieder die Formulierung „Klar
ist“. Dabei steht seine Regierung eher fürs Rumeiern, statt fürs Klartext
reden.
Das Konzept Nationalstaat: Ein Volk ist kein Zuhause
Der deutsche und andere Nationalstaaten sind in einer Welt globaler Krisen
überholt. Warum keine kosmopolitische Alternative?
Eine Floskelkritik: Ohne Ende am Ende des Tages
Schon vor zehn Jahren wurde über das gehäufte „am Ende des Tages“
geschrieben. Was das Wiederauftauchen einer Floskel über unsere Gegenwart
erzählt.
Krieg in der Ukraine: Biden spricht von „Völkermord“
US-Präsident Biden verschärft seine Vorwürfe gegen Russland. Die Kämpfe im
Osten der Ukraine nehmen zu.
Bundeswehr-Sondervermögen im Bundesrat: Konfuse Signale
Bundeskanzler Scholz will das „Sondervermögen Bundeswehr“ im Grundgesetz
verankern. Bei der ersten Beratung im Bundesrat gab es keine klare
Zustimmung.
Deutschland und der Ukrainekrieg: Wir schaffen das nicht, wir verwalten das
Organisieren, strukturieren, managen. Darin ist Deutschland gut. Warum
finden diese Leute jetzt nicht den richtigen Weg, um den Krieg zu beenden?
Bundestag debattiert um Haushalt: „Krise als Anstoß zum Aufbruch“
Kanzler Scholz verteidigt die Aufrüstung der Bundeswehr und tadelt Lindners
Tankrabatt. Friedrich Merz wirft Scholz Zögern im Ukraine-Krieg vor.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.