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# taz.de -- Spielfilm von Paul Thomas Anderson: Unbeherrschtes Kalifornien
> „Licorice Pizza“, das neue Werk von US-Regisseur Paul Thomas Anderson,
> ist ein unorthodoxer Liebesfilm. Er spielt im San Fernando Valley.
Bild: Alana (Alana Haym) und Gary (Cooper Hoffman) in „Licorice Pizza“
Die [1][Schriftstellerin Joan Didion] nannte Kalifornien einmal einen Ort,
an dem sich die Verheißung besserer Lebensumstände mit einem Tschechowschen
Verlustsinn vermengt. An dem es sich besser leben lasse, weil der
gebleichte Himmel so immens werde, der Kontinent hingegen und mit ihm alle
menschengemachten Minderwertigkeitsgefühle und Traumata enden.
Ein Ort, an dem alles Ständische und Stehende unter der kalifornischen
Sonne vaporisiert. Didions Schriftstellerkollegen Jack Kerouac galt die
kalifornische Metropolregion von Los Angeles derweil als einsamste und
brutalste Gegend der gesamten Vereinigten Staaten, ohne jene Kameraderie,
die er von New Yorker Straßen kannte, eine Gegend, in der alle Menschen wie
dekadente, aber gebrochene Schauspieler aussähen.
Das Kalifornien, das Paul Thomas Anderson in seinen Filmen entwirft,
existiert zwischen diesen beiden Einschätzungen, sowohl weltanschaulich als
auch geografisch. Denn es sind nicht die mondänen Hollywood Hills oder
Bel-Air, die als markante Exponenten des Californian Way of Life von
Anderson herangezogen werden, sondern die Hügelketten des San Fernando
Valley.
## Urbaner Kosmos
Ein urbaner Kosmos, den der Filmkritiker Tom Carson einst als kalifornische
Parodie des hart arbeitenden mittleren Westens der USA bezeichnete: wo sich
eher die Filmstudios der zweiten Garnitur ansiedelten, etwa die Republic
Pictures, in deren B-Filmen John Wayne seine ersten Gehversuche im Western
machte, ehe er von John Ford entdeckt wurde.
Wo sich bis heute die Pornofilmindustrie zentriert, deren goldenem,
durchaus von einem cinephilen Idealismus bestimmten Zeitalter der Siebziger
Andersons Film „Boogie Nights“ (1997) ein furioses Denkmal setzte. Die
Pornofilmer in „Boogie Nights“ sind allesamt gesellschaftliche Außenseiter,
ihre Arbeit betrachten sie aber als fundamentalen Dienst am Kino und ihr
Produktionsteam als eine Art Ersatzfamilie.
Das [2][San Fernando Valley] als kalifornische Quintessenz, als Heimat
all jener, die es (noch) nicht ganz geschafft haben. Deren Glamour sich
eher hemdsärmelig denn raffiniert ausnimmt, deren Wünsche und Hoffnungen
darum vielleicht aber umso intensiver, irrationaler, verzweifelter oder
auch himmelsklarer sind. Paul Thomas Anderson, von dessen neun Spielfilmen
immerhin fünf im San Fernando Valley und zwei in anderen Gegenden
Südkaliforniens situiert sind, ist ein unermüdlicher Prüfer des
kalifornischen Glücksversprechens.
## Nach Dekaden durchkämmen
Dabei geht der 51-Jährige, obgleich nicht in chronologischer Reihenfolge,
gewissermaßen Dekade für Dekade vor. Die kühle Einsamkeitsstudie „Magnolia…
(1999) zeigte ein Panoptikum verblichener TV-Sternchen und misogyner
Pick-up-Artists in Erwartung des Millenniums, denen zumindest die
filmischen Mittel der Parallelmontage momenthaft die transzendentale
Obdachlosigkeit austreiben konnte.
„Punch-Drunk Love“ (2002) wiederum reflektierte das labile
US-Selbstbewusstsein nach dem 11. September 2001 zwischen erpresserischen
Telefonsex-Hotlines und Preiscoupons auf Puddingbechern, zwischen strengen
Raumkompositionen und disparater Kommunikation, die Adam Sandlers
tänzerisches Timing schließlich unterläuft.
Andersons nachfolgende drei Filme waren ungleich pessimistischer, erfassten
die kalifornische Verheißung grundsätzlich als trügerische Ideologie und
entfernten sich geografisch kontinuierlich vom San Fernando Valley.
„[3][There Will Be Blood“ (2007)] zeichnete die im frühen 20. Jahrhundert
in den nördlichen Bergregionen des Valleys ihre Felder erschließende
Ölindustrie als mörderisches Amalgam aus freiem Unternehmertum und
protestantischem Arbeitsethos.
## Südkalifornische Subkultur
Die homoerotische Anziehung zweier ungleicher Männer in „The Master“ (2012)
wird einer an Scientology erinnernden Sektenlehre geopfert, die beide
nicht glücklich werden lässt. [4][„Inherent Vice“ (2014)] wiederum
registriert die südkalifornische Gegenkultur der Siebziger in ihrer
Verdrängung durch die ökonomischen Nachkommen der Ölbarone, die
Techkonzerne.
Mit „Licorice Pizza“ kehrt Anderson nun ins Valley zurück, es ist sein
jüngster Film und vielleicht sein zärtlichster. Wir schreiben das Jahr
1973, der 15-jährige Kinderschauspieler Gary Valentine (Cooper Hoffman, der
Sohn des großen Philip Seymour Hoffman) verliebt sich in die zehn Jahre
ältere Fotoassistentin, die israelisch-amerikanische Alana Kane (die
Musikerin Alana Haim).
Eine unwahrscheinliche Liebe, die der Film sich aber trotzdem anbahnen
lässt und deren Perspektive er zudem radikal verabsolutiert. Irgendwann
scheinen die Elternfiguren beinahe gänzlich aus dem Film verschwunden und
die Liebenden bewegen sich durch die sonnenflirrenden Nachmittage und
samtenen Abendhimmel mit einer Mischung aus traumwandlerischer Anziehung
und halb spielerischer, halb ernster Schroffheit.
## Lieber mit Wasserbetten handeln
Da sind das beiderseitig fehlende Eingeständnis ihrer Gefühle und die
provozierten Eifersüchteleien zwischen den beiden, zugleich aber auch ihre
Fähigkeit, am jeweils anderen zu wachsen. Gary, altklug und von wenig
zupackender Art, kehrt der Schauspielerei den Rücken und möchte lieber
Wasserbetten verkaufen. Alana mit ihrer praktischen Toughness hatte nie
über Karriereziele nachgedacht, nun zieht es sie zu Rollen-Vorsprechen,
sogar in die Lokalpolitik.
Hollywood ist im Umbruch und die gesellschaftspolitischen Turbulenzen der
frühen kalifornischen Siebziger treten zutage. Alana macht die
Bekanntschaft von Jack Holden (Sean Penn), ein an den konservativen William
Holden angelehnter Vertreter des untergegangenen Studiosystems, wie auch
von Jon Peters (Bradley Cooper) als progressivem, aber cholerischem
Pendant.
Dazu kommt der liberale Bürgermeisterkandidat Joel Wachs (Benny Safdie),
der nicht ganz ist, was er vorzugeben scheint. Es gibt zudem zwei Szenen,
die den Rassismus und Antisemitismus der damaligen
Unterhaltungsindustrie entlarven und folgerichtig mit den Mitteln der
Unterhaltung der Lächerlichkeit preisgeben.
## Unbedarft, aber nicht klebrig süß
Diese thematische Verflechtung hält sich wunderbar die Waage, ist bisweilen
jugendlich-unbedarft, aber nie zu klebrig süß. Das erinnert an eine
glücklichere Variation von Sydney Pollacks „The Way We Were“ mit Barbra
Streisand und Robert Redford, oder an eine Invertierung von Clint Eastwoods
nicht zufälligerweise mit William Holden in der Hauptrolle besetzter
Liebesgeschichte „Breezy“ zwischen einem älteren Mann und einer jüngeren
Frau, beide aus dem Jahr 1973.
Die gar nicht makellose Haut und die Zähne der beiden großartigen
Jungstars von Andersons Film lassen wiederum an Theodor W. Adornos
Anerkennung der ungeglätteten Schauspielergesichter der späten Sechziger
denken, „die ein Unbeherrschtes, Zufälliges tröstlich durchlassen. In ihnen
werden die Mängel des Teints eines schönen Mädchens zum Korrektiv des
fleckenlosen der approbierten Stars“. „Licorice Pizza“ ist in der Tat ein
unbeherrschter, unvorhersehbarer Liebesfilm.
Nicht bloß Fegefeuer der Eitelkeiten und Einsamkeiten, sondern auch ein
Lichtspiel der freieren, besseren Gemeinschaften. Der neuen
zwischenmenschlichen Verbindungen in Liebe, in Arbeit und Kunst, in denen
alle menschengemachten Minderwertigkeitsgefühle und Traumata abfallen. Wir
erzählen einander Geschichten, um zu überleben, hat Joan Didion einmal
festgehalten. Ein Statement, das kalifornischer nicht sein und auf die
Filme von Paul Thomas Anderson nicht besser zutreffen könnte.
27 Jan 2022
## LINKS
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[4] /Kinofilm-Inherent-Vice/!5020747
## AUTOREN
Daniel Moersener
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