| # taz.de -- Historischer Folter-Prozess in Koblenz: Lebenslang für Syrer | |
| > Erstmals wurde ein höherer Mitarbeiter des Assad-Regimes wegen Verbrechen | |
| > gegen die Menschlichkeit verurteilt. Über einen historischen Tag in | |
| > Koblenz. | |
| Bild: Lang ersehnte Gerechtigkeit: Eine Gruppe von Frauen am Donnerstag vor dem… | |
| Koblenz taz | Schon am frühen Morgen, es ist noch dunkel, hat sich vor dem | |
| Oberlandesgericht in Koblenz eine Schlange gebildet. Viele Exil-Syrer:innen | |
| wollen als Zuschauer:innen in den Saal 120, wo ab zehn Uhr ein | |
| historisches Urteil verkündet werden wird. Manche von haben ihnen Plakate | |
| dabei, auf denen auf Englisch steht „Wo sind sie?“ und „+130.000 sind in | |
| Syrien noch immer verschwunden“. Auch halten sie Fotos von Männer hoch, von | |
| denen sie nicht wissen, wo sie sind und ob sie noch leben. | |
| Als im Gerichtsaaal auch der letzte Platz besetzt ist, beginnt die | |
| Vorsitzende Richterin Anne Kerber das Urteil zu verlesen. Anwar R., 58, | |
| ehemaliger Oberst des syrischen Geheimdienstes, wird wegen Verbrechen gegen | |
| die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht sieht es | |
| als erwiesen an, dass R. von April 2011 bis September 2012, nur um diesen | |
| Zeitraum ging es im Prozess, für 27 Morde, Folter in mindestens 4.000 | |
| Fällen, für Körperverletzungen und sexualisierte Gewalt verantwortlich ist. | |
| R. hat nicht selbst gefoltert, aber als Verantwortlicher ist er Mittäter. | |
| Die Vorsitzende Richterin trägt das Urteil abschnittsweise vor, immer wenn | |
| sie pausiert, wird die arabische Übersetzung ihrer Worte in den | |
| Zuschauerraum übertragen. Dort sitzen in den ersten beiden Reihen | |
| zahlreiche Nebenkläger:innen, die das Grauen in Al Khatib überlebt und | |
| durch ihre Zeugenaussagen den Prozess erst möglich gemacht haben. Anwar R., | |
| der heute wie alle Prozessbeteiligten wegen des vollen Saals eine Maske | |
| trägt, macht sich Notizen. | |
| Kerber spricht zunächst nicht über den Angeklagten, sondern über das Regime | |
| von Syriens Machthaber Baschar al-Assad. Dieses führe seit März 2011 „einen | |
| systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung“ durch. Damit stellt sie – | |
| wie bereits [1][im ersten Urteil gegen R.s ehemaligen und niederrangigen | |
| Mitangeklagten] – fest: Die Gräueltaten, die das syrische Regime an der | |
| eigenen Bevölkerung begeht, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das | |
| Oberlandesgericht Koblenz ist das erste weltweit, das ein solches Urteil | |
| fällt. | |
| ## Rechtsgeschichte geschrieben | |
| Entsprechend fallen die Reaktionen aus: Der Generalsekretär von Amnesty | |
| International Deutschland, Markus N. Beeko, bezeichnete das Urteil als „ein | |
| historisches Signal im weltweiten Kampf gegen die Straflosigkeit“. Amnesty | |
| erwarte, dass in Deutschland und in weiteren Staaten auf diesen | |
| Erkenntnissen aufbauend weitere Prozesse nach dem Weltrechtsprinzip | |
| angestrengt werden. Dieses Prinzip ermöglicht die Strafverfolgung von | |
| schweren Verbrechen, unabhängig davon, wo sie begangen wurden. | |
| Der Generalsekretär der Berliner Menschenrechtsorganisation „European | |
| Center for Constitutional and Human Rights“ (ECCHR), Wolfgang Kaleck, | |
| erklärte: „Das Weltrechtsprinzip ist oft die letzte Hoffnung für Betroffene | |
| schwerster Verbrechen.“ Das heutige Urteil schaffe eine Basis für andere | |
| europäische Strafverfolger, weitere Verfahren zu betreiben. „Die | |
| Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien in Drittstaaten ist zwar nicht ideal | |
| – aber möglich, und eine Pflicht gegenüber den Betroffenen“, unterstrich | |
| er. | |
| Im Koblenzer Gerichtssaal betont Richterin Kerber, dass in Syriens | |
| Gefängnissen schon lange gefoltert wird, nicht erst seitdem die Menschen im | |
| März 2011 begannen, gegen das Regime auf die Straße zu gehen. Während | |
| zunächst Informationsgewinnung das Ziel gewesen sei, hätten nach Beginn der | |
| Proteste, spätestens seit 2012, die „Einschüchterung und psychische | |
| Vernichtung der Inhaftierten“ im Zentrum gestanden. Die Leichen der | |
| gestorbenen Gefangenen seien in Militärkrankenhäuser gebracht, dort | |
| fotografiert und registriert und in dann Massengräber außerhalb von | |
| Damaskus gekippt worden. | |
| Die Abteilung 251 sei für die Sicherheit in Damaskus und Umgebung | |
| zuständig, der Angeklagte sei hier bis September 2012 Ermittlungsleiter | |
| gewesen. 30 bis 40 Mitarbeiter seien im unterstellt gewesen, darunter | |
| Vernehmer und Wärter, die die Folter durchführten. Viele Exil-Syrer:innen | |
| wollen als Zuschauer:innen in den Saal 120, wo ab zehn Uhr die | |
| Vorsitzende Anne Kerber ein historisches Urteil verkündet. „Er bestimmte | |
| die Arbeitsabläufe, seine Weisungen wurden umgesetzt“, sagt Kerber. Der | |
| Angeklagte habe schon vor seinem Eintritt in den Geheimdienst gewusst, dass | |
| gefoltert wurde und Menschen ums Leben kamen. „Er entschied sich, das | |
| Regime zu unterstützen.“ Später habe R. den Sturz des Regimes verhindern | |
| wollen, auch weil seine Machtfülle und seine Privilegien auf dem Spiel | |
| gestanden hätten. | |
| ## Folter war gängige Praxis | |
| Schon die Haftbedingungen – die überfüllten und verdreckten Zellen, die | |
| unzureichende Ernährung, die zu schneller Gewichtsabnahme und Entkräftung | |
| geführt habe, die Ungewissheit und die ständigen Schreie der anderen | |
| Inhaftierten – sehe das Gericht als Folter an. Die diversen Foltermethoden | |
| seien gängige Praxis gewesen, Anweisungen dazu meist nicht mehr | |
| erforderlich. Anwar R.s Behauptungen, er sei schon seit April 2011 zur | |
| Desertion entschlossen gewesen und im Juni 2011 habe ihm sein Vorgesetzter | |
| seine Kompetenzen entzogen, seien durch glaubhafte Zeugen widerlegt, so die | |
| Richterin. | |
| Mit seinem Urteil bleibt das Gericht unter dem Plädoyer der | |
| Bundesanwaltschaft, die auch die Feststellung der besonderen Schwere der | |
| Schuld gefordert hatte. Das hätte eine Entlassung nach 15 Jahren sehr | |
| unwahrscheinlich gemacht. Für den Angeklagten habe gesprochen, dass die | |
| Taten lange zurücklagen, er nicht selbst Hand angelegt sowie ein | |
| Teilgeständnis abgelegt hatte, so Kerber. Hinzu komme, dass sich R., „wenn | |
| auch aus opportunistischen Gründen“, vom Regime abgewandt habe. Er hatte | |
| mit seiner Familie im Dezember 2012 Syrien verlassen und war erst nach | |
| Jordanien, dann nach Berlin geflohen. | |
| Die Bundesanwaltschaft ist mit dem Urteil „sehr zufrieden“, wie | |
| Oberstaatsanwalt Jasper Klinge nach der Urteilsverkündung sagt. Es sei ein | |
| wichtiges Signal für die Opfer, denn es zeige, dass diese Taten nicht | |
| ungesühnt bleiben – und auch eine guter Tag für das Völkerstrafrecht. Die | |
| deutschen Sicherheitsbehörden würden gemeinsam mit ihren europäischen | |
| Partnern alles tun, um weitere Täter zur Verantwortung zu ziehen. Die | |
| Verteidigung dagegen ist unzufrieden. R. sei stellvertretend für das Regime | |
| verurteilt worden, seine persönliche Schuld sehe man nicht, sagt R.s | |
| Rechtsanwalt Yorck Fratzky. Deshalb werde man vor dem Bundesgerichtshof in | |
| Revision gehen. | |
| „Dieser Tag, dieses Urteil ist wichtig für alle Syrer*innen, die unter den | |
| Verbrechen des Assad-Regimes gelitten haben und noch immer leiden“, sagte | |
| Ruham Hawash, syrische Überlebende der Al-Khatib-Abteilung und | |
| Nebenklägerin. „Es zeigt uns: Gerechtigkeit muss und darf kein Traum für | |
| uns bleiben.“ Sie betonte aber auch, dass das Urteil nur ein erster Schritt | |
| sei und weitere folgen müssten. | |
| ## Verteidigung geht in Revision | |
| Auch Patrick Kroker, Vertreter der Nebenklage und ECCHR-Partneranwalt, | |
| sagte: „Das Urteil heute ist nur ein erster Schritt zur Aufarbeitung der | |
| Verbrechen in Syrien – doch dieser erste Schritt ist oft der schwierigste. | |
| Es bleibt das Ziel, hochrangige Mitarbeiter von Assad für ihre Verbrechen | |
| vor Gericht zu bringen.“ | |
| Kenneth Roth, der Geschäftsführer von Human Rights Watch, betonte, wie | |
| wichtig dieses „historische Urteil“ sei. Folter und Mord seien zentrale | |
| Elemente des Assad-Regimes. Wegen der Blockade seitens Russlands und Chinas | |
| im UN-Sicherheitsrat könnten diese und andere Vorwürfe, wie etwa der | |
| Einsatz chemischer Waffen, nicht vom Internationalen Strafgerichtshof | |
| untersucht werden. | |
| 13 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine am Orde | |
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