| # taz.de -- Vor Urteil im Koblenzer Folterprozess: Die Schuld des Anwar R. | |
| > Der Angeklagte soll Folter in Syrien verantwortet haben. Die | |
| > Zeugenaussagen sind kaum erträglich. Es ist das weltweit erste solche | |
| > Verfahren. | |
| Bild: Ausstellung der aus Syrien geschmuggelten Fotos des Militärfotografen �… | |
| Koblenz taz | Anwar R. ist in einen dunkelgrünen Parka gehüllt, dabei ist | |
| es warm im Saal. Die Heizung, die vor Weihnachten ausgefallen war, | |
| funktioniert wieder. Seinen Kopf hat der 58-jährige Syrer auf den linken | |
| Arm gestützt, anders als sonst scheint sein Blick ins Leere zu gehen. Über | |
| den Kopfhörer hört er das, was man die letzten Worte nennt, mit denen sich | |
| Angeklagte kurz vor dem Urteil noch einmal an das Gericht wenden können. Es | |
| sind seine Worte. | |
| Der Dolmetscher, der wenige Meter entfernt am Redepult steht, trägt auf | |
| Deutsch vor, was Anwar R. zuvor auf Arabisch formuliert hat, der Angeklagte | |
| selbst hört eine arabische Übersetzung. Es ist Donnerstagmittag in der | |
| vergangenen Woche, draußen kämpft sich die Sonne langsam durch den grauen | |
| Winterhimmel. Im Saal sieht man das nicht. Vor den großen Fenstern in Saal | |
| 120 des Koblenzer Oberlandesgerichts sind die Stoffrollos heruntergelassen. | |
| „Ich erteilte keinen Befehl zur Folter“, liest der Dolmetscher vor. „Das | |
| Gegenteil ist der Fall. Ich half, so gut ich konnte.“ Er habe getan, was | |
| unter den Umständen möglich gewesen sei. | |
| Die Umstände, damit ist das Terrorregime von Syriens Präsident Baschar | |
| al-Assad gemeint. Das sind tödliche Schüsse auf Demonstrant:innen und | |
| Massaker an der Zivilbevölkerung, das sind Willkür und Folter und Menschen, | |
| die einfach verschwinden. Das alles ist so brutal und grausam, dass selbst | |
| die Schilderungen im Gerichtssaal schwer zu ertragen sind. | |
| Eine gute Dreiviertelstunde lang trägt der Dolmetscher Anwar R.s letzte | |
| Worte vor. Und je länger er spricht, desto klarer wird: R. bleibt nicht nur | |
| bei der Darstellung, dass er [1][unschuldig] ist. Er zählt sich selbst zu | |
| den Opfern des Regimes. Dabei steht er als mutmaßlicher Täter vor Gericht – | |
| seit mehr als anderthalb Jahren. | |
| ## Die Foltermethoden | |
| Ende April 2020 begann der Prozess, in dem Anwar R. wegen Verbrechen gegen | |
| die Menschlichkeit angeklagt ist. 17 Jahre lang, das ist unstrittig, hat er | |
| beim syrischen Geheimdienst gearbeitet, unter anderem als Ermittlungsleiter | |
| in der Abteilung 251, die für die Sicherheit in Damaskus und Umgebung | |
| zuständig ist. Untergebracht ist sie in zwei mehrstöckigen Gebäuden in | |
| einem Wohngebiet im Zentrum von Damaskus. Ein Gefängnis, das nach dem | |
| Stadtviertel Al Khatib genannt wird, gehört dazu. Dort sollen allein | |
| zwischen April 2011 bis September 2012, um diesem Zeitraum geht es im | |
| Prozess, systematisch Tausende Menschen [2][inhaftiert und gefoltert] | |
| worden sein. Manche sind an den Folgen gestorben. | |
| Überlebende berichten von sogenannten Willkommenspartys im Innenhof von Al | |
| Khatib, bei denen neue Gefangene getreten und geschlagen wurden, mit | |
| Fäusten, aber auch mit Gürteln und Schläuchen. Manche wurden so hart mit | |
| dem Kopf an die Wand gestoßen, dass sie ohnmächtig wurden. | |
| Sie erzählen von überfüllten Zellen, in denen man nur im Stehen schlafen | |
| konnte, und von Einzelhaft in so kleinen Räumen, in denen man selbst | |
| zusammengerollt wie ein Embryo an die Wände stieß. Von Gestank, Ungeziefer, | |
| fehlendem Sauerstoff. Von ungenießbarem und nicht ausreichendem Essen und | |
| verweigerter medizinischer Hilfe. | |
| Sie berichten, wie sie mit Augenbinde und auf dem Rücken gefesselten Händen | |
| zu den Verhören gebracht wurden, von Elektroschocks, Verbrennungen, | |
| Übergüssen mit Wasser und heißem Kunststoff, mit denen sie dann malträtiert | |
| wurden. Davon, dass die Gefangenen an den Händen gefesselt an der Decke | |
| aufgehängt werden, so dass nur die Zehenspitzen den Boden berühren. | |
| Von Foltermethoden wie „Falaka“, bei der das Opfer immer wieder auf die | |
| besonders empfindlichen Fußsohlen geschlagen wird. Oder dem „deutschen | |
| Stuhl“, dessen Lehne so weit nach hinten gebogen werden, dass der Rücken | |
| des Häftlings überstreckt und die Wirbelsäule brechen kann. Die Methode | |
| sollen geflüchtete Altnazis nach dem Zweiten Weltkrieg nach Syrien gebracht | |
| haben. | |
| ## Der „Mann des Regimes“ | |
| Anwar R., der es bis zum Rang eines Obersts gebracht hat, war laut Anklage | |
| für das Gefängnis verantwortlich. Deshalb ist er wegen 58-fachen Mordes und | |
| Folter in mindestens 4.000 Fällen, wegen Vergewaltigung und sexueller | |
| Nötigung angeklagt. Er wird nicht beschuldigt, selbst gefoltert zu haben. | |
| R. soll aber dafür die Verantwortung tragen und so Mittäter sein. | |
| „Der Angeklagte war ein Mann des Regimes“, sagt Staatsanwältin Claudia Polz | |
| im [3][Plädoyer der Bundesanwaltschaft]. Es ist kurz vor Weihnachten, im | |
| Saal ist es kalt. R. habe die Gefängnismitarbeiter eingeteilt und ihre | |
| Arbeit überwacht, auch die systematische Folter. Er habe vom Ausmaß der | |
| Gewalt gewusst, auch dass Häftlinge an den Folgen starben. Das habe er | |
| zumindest billigend in Kauf genommen. R. sei die Schaltstelle zwischen | |
| Befehlserteilung und Befehlserfüllung gewesen, eine Schlüsselposition. Die | |
| Bundesanwaltschaft fordert deshalb eine lebenslange Haftstrafe mit der | |
| Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Die Höchststrafe. | |
| Die Verteidigung hat auf [4][Freispruch] plädiert. Zwar zweifele man die | |
| Verbrechen des Assad-Regimes und auch die Folter in Al Khatib nicht an, | |
| führt Rechtsanwalt Yorck Fratzky aus, kurz bevor die letzten Worte seines | |
| Mandanten verlesen werden. Doch Anwar R. sei nicht der Leiter des | |
| Gefängnisses gewesen, auch habe sein Vorgesetzter ihn entmachtet. R. habe | |
| „keine Organisationsherrschaft“ gehabt und könne deshalb für die Taten | |
| nicht verantwortlich gemacht werden. R. habe Inhaftierten geholfen und | |
| misshandelnde Soldaten bestraft, er sei desertiert und habe sich im Ausland | |
| der Opposition angeschlossen. | |
| Das Gericht muss nun darüber entscheiden, ob das Assad-Regime in Syrien | |
| „einen ausgedehnten und systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung“, | |
| also Völkerrechtsverbrechen, begangen hat. Nur dann kann es urteilen – was | |
| es im Fall des inzwischen verurteilten Mitangeklagten Eyad A. bereits getan | |
| hat. Und das Gericht muss bewerten, ob Anwar R. im Sinne der Anklage | |
| schuldig ist. | |
| ## Der erste solche Prozess weltweit | |
| R. und A. sind die ersten Mitarbeiter des [5][Assad-Regimes], die sich vor | |
| einem Gericht verantworten müssen, nicht nur in Deutschland, sondern | |
| weltweit. Dass dies in Deutschland möglich ist, liegt am Weltrechtsprinzip | |
| im deutschen Völkerstrafgesetzbuch. Demnach können hier auch Straftaten | |
| verfolgt werden, wenn Täter und Opfer keine Deutschen sind. Eigentlich | |
| gehören die Verbrechen in Syrien vor den Internationalen Strafgerichtshof. | |
| Doch dessen Tätigkeit haben Russland und China durch ein Veto im | |
| UN-Sicherheitsrat verhindert. Deshalb bleibt nur die nationale Justiz. | |
| Das Bundeskriminalamt ermittelt bereits seit gut zehn Jahren im Auftrag der | |
| Bundesanwaltschaft zu Syrien, zunächst in einem sogenannten | |
| Strukturverfahren, dann auch gegen einzelne Personen. Gegen Jamil Hassan, | |
| den ehemaligen Leiter des syrischen Luftwaffengeheimdienstes, hat der | |
| Bundesgerichtshof 2018 einen internationalen Haftbefehl erlassen. Hassan | |
| hält sich weiter in Syrien auf, doch er konnte sich mehrfach unbehelligt im | |
| Libanon medizinisch behandeln lassen. Anwar R. dagegen wurde verhaftet, | |
| weil er desertierte und nach Deutschland kam und die Polizei ihn an seiner | |
| Meldeadresse in Berlin antraf. | |
| Dass endlich ein Prozess stattfindet, empfinden viele in der syrischen | |
| Exilcommunity als einen ersten Schritt in Richtung Gerechtigkeit. | |
| Entscheidend sei die Botschaft, dass die Verbrecher früher oder später zur | |
| Rechenschaft gezogen würden, sagt einer der Al-Khatib-Überlebenden. Eine | |
| andere sagt: „Mein Glaube an Gerechtigkeit wird wiederhergestellt.“ | |
| ## Ein Opfer als Nebenkläger | |
| [6][Feras Fayyad] ist der erste Überlebende, der vor Gericht aussagt, an | |
| einem Mittwoch Anfang Juni 2020. Fayyad, heute 37 Jahre alt, ist | |
| Filmregisseur und einer der Nebenkläger. Als im März 2011 auch in Syrien | |
| die Demonstrationen gegen das Regime beginnen, filmt Fayyad sie – und auch | |
| die brutale Reaktion der Sicherheitsbehörden. Zweimal wird er verhaftet und | |
| landet in Al Khatib. Schon bei der Ankunft sei er geschlagen worden und | |
| habe Schreie anderer Inhaftierter gehört. „Das waren Schreie, die waren | |
| nicht normal“, übersetzt der Dolmetscher. „Ich hatte große Angst.“ Von … | |
| Schreien, die Tag und Nacht durch das Gefängnis schallten, berichten fast | |
| alle Al-Khatib-Überlebenden. Furchteinflößende Schreie, die manchmal abrupt | |
| verstummten. | |
| Feras Fayyad beschreibt vor Gericht, wie er gedemütigt und geschlagen und | |
| an der Decke aufgehängt wurde. Und wie einer der Wärter dann versuchte, | |
| einen Stock in seinen After einzuführen. „Haben Sie den Stock in sich | |
| gefühlt?“, fragt Richterin Anne Kerber, das ist entscheidend für den | |
| Vorwurf der Vergewaltigung. „Einmal, mit einem Stoß“, antwortet Fayyad. | |
| Nach seiner Flucht musste er deshalb operiert werden, Albträume und Ängste | |
| verfolgen ihn bis heute. | |
| An einem Mittwoch Mitte August 2020 tritt der Zeuge, der nur [7][Z | |
| 28/07/16] genannt wird, mit Perücke, angeklebtem Bart und dickem | |
| Brillengestell im Gerichtssaal auf. Weil seine Familie in Syrien vom | |
| Geheimdienst bedroht wird, bleibt er anonym. Z 28/07/16 hat 21 Jahre lang | |
| für den Allgemeinen Geheimdienst gearbeitet, viel mehr erfährt man über | |
| seine Tätigkeit nicht. Er berichtet, wie sich die Lage nach dem Ausbruch | |
| der Proteste im Frühling 2011 zugespitzt hat. Folter, sagt er, sei Routine | |
| gewesen, es habe nun praktisch keine Vernehmung mehr ohne gegeben. Tote | |
| habe man dabei in Kauf genommen. | |
| Einen Monat später ist Zeuge [8][Z 30/07/90] geladen, auch er bleibt | |
| anonym. Er hat für die Bestattungsbehörde in Damaskus gearbeitet, bis er | |
| 2011 vom Geheimdienst verpflichtet wird, Laster voller Leichen zu | |
| Massengräbern außerhalb der Stadt zu fahren. „Sobald die Laster ihre Türen | |
| öffneten, verbreitete sich der Gestank“, sagt er. Blut und Maden seien von | |
| den Ladeflächen getropft, die Gesichter der Leichen mitunter nicht mehr | |
| erkennbar gewesen. Die Massengräber, sagt Z 30/07/9, seien teilweise über | |
| 100 Meter lang und sechs Meter tief gewesen. Er musste die Anzahl der | |
| Leichen registrieren, dazu die Namen und Nummern der | |
| Geheimdienstabteilungen, aus der sie kamen. Etwa viermal pro Woche ist er | |
| gefahren, mit bis zu 700 Leichen pro Laster, jahrelang. | |
| ## Der Sachverständige | |
| Anfang November 2020 wirft der Sachverständige [9][Markus Rothschild] ein | |
| Bild nach dem anderen im Gerichtssaal an die Wand. Rothschild leitet die | |
| Rechtsmedizin der Universität Köln, im Auftrag der Bundesanwaltschaft hat | |
| er die sogenannten Caesar-Fotos forensisch untersucht. Ein ehemaliger | |
| syrischer Militärfotograf mit dem Decknamen „Caesar“ hat diese bei seiner | |
| Arbeit für Assads Regime heimlich kopiert und im Ausland veröffentlicht. | |
| Insgesamt sind es über 50.000 Bilder, fast 30.000 zeigen die Leichen von | |
| Menschen, die in Gefängnissen der syrischen Geheimdienste gestorben sind. | |
| Es sind Fotos von 6.787 Personen. | |
| Die Leichen sehen ausgemergelt aus, manche sind voller Striemen, | |
| Blutflecken und Verletzungen. Sie sind mit Nummern markiert, oft direkt auf | |
| der Haut. Anne Kerber, die Vorsitzende Richterin, wird später sagen: „Diese | |
| Bilder werde ich nicht vergessen.“ | |
| Was Anwar R. bei solchen Berichten empfindet, ist schwer zu sagen. Der Mann | |
| mit der hohen Stirn und dem Schnauzer macht sich während des Prozesses | |
| akribisch Notizen auf kleine Zettel, die er dann in einen Umschlag steckt. | |
| Manchmal setzt er seine Brille auf, ganz selten schüttelt er den Kopf. | |
| Seine Gesichtszüge bleiben meist unverändert. | |
| ## Die Karriere beim syrischen Geheimdienst | |
| Anwar R. ist im Februar 1963 in Hula in der Nähe von Homs in Zentralsyrien | |
| geboren worden, hat Jura studiert und die Polizeiakademie besucht, wurde | |
| dort Ausbilder. Wegen seiner guten Leistungen wechselte er 1995 zum | |
| Allgemeinen Geheimdienst, 2008 wurde er Ermittlungsleiter in der Abteilung | |
| 251. Anwar R. hat im Assad-Regime Karriere gemacht, Beförderung folgte auf | |
| Beförderung, zuletzt wurde er zum 1. Januar 2011 zum Oberst ernannt. Was | |
| besonders bemerkenswert ist, weil seine Loyalität wohl unter besonderer | |
| Beobachtung stand. Denn anders als Assad und seine mächtigsten Schergen ist | |
| Anwar R. nicht alawitischen Glaubens, er ist Sunnit. | |
| Anwar R. hat im Prozess stets geschwiegen, auch eine Stimmprobe hat er | |
| abgelehnt, wohl aus Angst, jemand könnte ihn erkennen. Am fünften | |
| Prozesstag, einem Montag Mitte Mai 2020, verlesen seine Anwälte eine | |
| Einlassung, 45 Seiten lang. Anwar R. streitet darin alle Vorwürfe ab. „Ich | |
| habe niemanden geschlagen noch gefoltert, ich habe auch niemals einen | |
| Befehl dazu erteilt“, liest sein Verteidiger vor. Die Vernehmungen seien | |
| „gewaltlos und respektvoll“ abgelaufen, systematische Folter streitet er | |
| ab. Misshandlungen habe es nur in anderen Abteilungen gegeben. | |
| Lange hat R. sich wohl weitgehend mit dem Regime identifiziert. Folgt man | |
| seinen Worten, änderte sich das im März 2011, als in Syrien die Menschen | |
| gegen ihre Unterdrückung auf die Straße gingen. Das Regime reagierte | |
| brutal, die Gefängnisse waren schnell überfüllt. „Das Chaos brach aus“, | |
| liest R.s Verteidiger vor. | |
| Folter, das haben zahlreiche Zeugen und Sachverständige im Prozess | |
| ausgesagt, gab es schon vor den Demonstrationen, auch in Al Khatib. Jetzt | |
| aber eskalierte die Gewalt. Auch dass jeder Demonstrant im Gefängnis landen | |
| konnte und nun häufig aus seiner Sicht professionelle Verhöre unmöglich | |
| waren, scheint nicht zu R.s Selbstverständnis als Ermittlungsleiter gepasst | |
| zu haben. Es ging nicht mehr darum, das sagen viele Zeugen, Informationen | |
| zu erlangen. Es ging um Zerstörung und Rache. | |
| Seit April 2011 sei er entschlossen gewesen zu desertieren, heißt es in R.s | |
| Einlassung, im Juni 2011 habe ihm sein Vorgesetzter seine Kompetenzen | |
| entzogen, weil er Inhaftierten geholfen habe. Formal aber sei er auf seinem | |
| Posten geblieben. Kurz vor Weihnachten sei er mit seiner Familie nach | |
| Jordanien geflohen, die Opposition habe dabei geholfen. Anfang 2014 nahm er | |
| als Teil der Delegation der syrischen Opposition an den Friedensgesprächen | |
| in Genf teil. Eine Mitarbeiterin des Auswärtigen Amts hat dies bestätigt. | |
| Anfangs feierte die Opposition R.s Desertion. Nur wenige so hochrangige | |
| Geheimdienstler waren übergelaufen. Riad Seif, einer der prominentesten | |
| Regimekritiker, der in Berlin im Exil lebt, sagt dem Gericht: „Wir wollten | |
| die Unterstützung der Abtrünnigen und Informationen über das System.“ Von | |
| dem hochrangigen Überläufer habe man sich viel erhofft. „Aber da kam | |
| nichts, kein Wort.“ Auch zahlreiche Zeugen haben R. während des Prozesses | |
| angefleht, endlich sein Wissen über Inhaftierte zu offenbaren. Doch R. | |
| schweigt. In Syrien werden noch immer Zehntausende Menschen vermisst. | |
| Durch eine Empfehlung Seifs kam R. in ein Aufnahmeprogramm für besonders | |
| schutzbedürftige Syrer. Im Juli 2014 reiste er mit seiner Familie von Amman | |
| nach Berlin. | |
| Dort wandte sich R. an die Polizei, weil er sich vom syrischen Geheimdienst | |
| bedroht fühlte. Als er später in einem Verfahren gegen einen anderen Syrer | |
| beim Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg ausführlich aussagte, | |
| leiteten die Beamten den Fall an das BKA weiter, das 2017 Ermittlungen | |
| gegen ihn aufnimmt. Im Februar 2019 wird er verhaftet. | |
| Grundsätzlich moralische Bedenken gegen Folter hat Anwar R. an keiner | |
| Stelle formuliert. Abgestoßen scheint ihn ihr exzessiver Einsatz zu haben. | |
| Bei seiner Aussage beim LKA hat er bestätigt, dass er persönlich an | |
| Vernehmungen von Regimegegner:innen beteiligt war. Die Vernehmungen | |
| seien sowohl mit Gewalt als auch friedlich durchgeführt worden. Insgesamt | |
| seien es „hunderte Vernehmungen täglich“ gewesen, dabei habe man „nicht | |
| immer höflich bleiben können“. Es habe auch „strenge Vernehmungen“ gege… | |
| Zeuge [10][Z 28/07/16], der im August 2020 maskiert im Gerichtssaal | |
| aufgetreten war, hatte auf eine Frage nach den Codewörtern, von denen er | |
| bei Vernehmungen berichtet hatte, gesagt: „Mit ‚strengen Vernehmungen‘ ist | |
| gemeint, dass alle Mittel angewendet werden, auch wenn der Gefangene dabei | |
| verstirbt.“ Von einer Entmachtung hatte R. weder beim Stuttgarter LKA noch | |
| bei anderen Vernehmungen berichtet. Die Bundesanwaltschaft nennt dies in | |
| ihrem Plädoyer „eine leicht zu widerlegende Schutzbehauptung“ und führt | |
| zahlreiche Belege dafür an, dass Anwar R. auch nach dem Juni 2011 weiter | |
| fest im Sattel saß. Dass R. entmachtet worden sei, aber offiziell weiter | |
| Oberst und Leiter der Unterabteilung „Ermittlungen“ geblieben sei, hält | |
| Zeuge Z 28/07/16 für „unvorstellbar“. | |
| Vor wenigen Wochen, kurz vor Weihnachten, bevor die Anwälte der Nebenklage | |
| ihre Plädoyers vortragen, ergreifen in Koblenzer Gerichtssaal 120 noch | |
| einmal Überlebende das Wort. Hussein Ghrer, einer von ihnen, sagt: „Ich | |
| hätte dem Angeklagten seine gegen mich begangenen Verbrechen möglicherweise | |
| verzeihen können.“ Er sei nicht auf persönliche Rache aus, sondern wolle | |
| Gerechtigkeit. Aber Anwar R. zeige keine Reue, übernehme keine | |
| Verantwortung für die Verbrechen, die er begangen oder zu denen er | |
| beigetragen habe. Und er behaupte bis heute, dass es in der | |
| Al-Khatib-Abteilung überhaupt keine systematische Folter gab. | |
| Vergebung scheint so nicht möglich zu sein. Umso mehr hoffen die | |
| Überlebenden auf ein angemessenes Urteil. Am Donnerstag wird Anne Kerber, | |
| die Vorsitzende Richterin der Koblenzer Strafschutzkammer, das weltweit | |
| erste Urteil gegen einen Oberst des syrischen Geheimdienstes verkünden. | |
| 12 Jan 2022 | |
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