# taz.de -- Prozess zu Kriegsverbrechen in Syrien: „Schreie, die waren nicht … | |
> Anwar R. soll in Damaskus ein Foltergefängnis geleitet haben. Er steht in | |
> Koblenz vor Gericht. Am Mittwoch hat das erste Folteropfer ausgesagt. | |
Bild: Jede Menge Material: Prozessakten im Gerichtssaal in Koblenz | |
KOBLENZ taz | An das Muttermal im Gesicht des Mannes, der ihn verhört hat, | |
meint Firas Fayyad sich gut zu erinnern. Es sei auffällig gewesen, sagt | |
er. Und er habe an seine Mutter denken müssen, die ihm als kleiner Junge | |
über ihre eigenen Leberflecken erzählt habe: Jeder stehe für einen Wunsch, | |
der nicht in Erfüllung gegangen sei. Fayyad sitzt auf der Zeugenbank in | |
Saal 128 im Koblenzer Oberlandesgericht – und was er erzählt, hat mit | |
unerfüllten Wünschen wenig zu tun. Und viel mit dem, was man auf keinen | |
Fall erleben will: mit Schlägen, Folter, Vergewaltigung. | |
Verantwortlich dafür soll der Mann mit dem auffälligen Muttermal unter dem | |
Auge sein, der im Gerichtsaal nur wenige Meter von Fayyad entfernt sitzt: | |
Anwar R., den Fayyad nur „den Verhörenden“ nennt. Seit Ende April steht R. | |
vor dem Koblenzer Oberlandesgericht. Er ist angeklagt wegen Verbrechens | |
gegen die Menschlichkeit, 58-fachen Mords, Folter in mindestens 4.000 | |
Fällen, Vergewaltigung und sexueller Nötigung. | |
R. soll in Damaskus „Al Khatib“ geleitet haben, das berüchtigte | |
Foltergefängnis des Syrischen Geheimdiensts, und zudem die Ermittlungen in | |
der Abteilung 251. Mit Anwar R. und einem Mitangeklagten müssen sich | |
erstmals weltweit mutmaßliche Folterknechte des Regimes von [1][Syriens | |
Machthaber Baschar al-Assad] vor Gericht verantworten. | |
Fayyad, 35, Filmemacher, ist das erste Folteropfer, das in Koblenz aussagt. | |
Er tritt auch als Nebenkläger in dem Prozess auf. Als in Syrien im März | |
2011 die Demonstrationen gegen das Regime beginnen, schnappt er sich seine | |
Kamera, geht auf die Straße, filmt [2][die Demonstrationen und die brutale | |
Reaktion der Sicherheitskräfte] darauf, so berichtet Fayyad es am Mittwoch | |
vor Gericht. | |
## Folter mindestens an jedem zweiten Tag | |
Zweimal wird er verhaftet, beim zweiten Mal ist er schon am Flughafen, um | |
sich und sein Filmmaterial bei Verwandten in Dubai in Sicherheit zu | |
bringen. Er landet in Al Khatib. Schon bei der Ankunft, berichtet er, sei | |
er geschlagen worden und habe Schreie anderer Inhaftierter gehört. „Das | |
waren Schreie, die waren nicht normal“, sagt der Dolmetscher, der neben | |
Fayyad sitzt und dessen Aussage aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt. | |
„Ich hatte große Angst.“ | |
Dann berichtet Fayyad von Tritten und Schlägen mit Kabeln und Stöcken, | |
darüber, wie er an der Decke aufgehängt wurde, so dass nur die Zehen den | |
Fußboden berührten, dass die Zelle so klein war, dass er, wenn er sich zum | |
Schlafen auf dem Boden wie ein Embryo zusammenrollte, trotzdem an den | |
Wänden anstieß. Und darüber, dass einer der Folterer mehrmals versuchte, | |
einen Stock in seinen After einzuführen. | |
„Haben Sie den Stock in sich gefühlt?“, fragt die Richterin, es geht um den | |
Vorwurf der Vergewaltigung. „Einmal, mit einem Stoß“, antwortet Fayyad. | |
Wegen der Verletzungen, die er sich dadurch zugezogen hat, sei er später | |
operiert worden. Auch mit Füßen und Händen hat er gesundheitliche | |
Schwierigkeiten, Albträume und Ängste verfolgen ihn. Die psychologische | |
Behandlung ist wegen Corona gerade unterbrochen. | |
Zwei oder drei Monate sei er in Al Khatib inhaftiert gewesen, genau wisse | |
er das nicht mehr, sagt Fayyad. Gefoltert worden sei er fast jeden Tag, | |
zumindest jeden zweiten. Immer wieder wollte man wissen, mit wem er | |
zusammenarbeite, für wen das Filmmaterial betimmt sei und ob er vielleicht | |
als Spion für die Franzosen oder die US-Amerikaner tätig sei. | |
## Widersprüche in der Zeugenaussage | |
Fayyad widerspricht sich manchmal. Auch stimmt nicht alles mit seiner | |
Aussage überein, die er im vergangenen Jahr bei der Polizei machte. Darauf | |
macht die Vorsitzende Richterin aufmerksam. Bei der Polizei habe er das | |
Muttermal des „Verhörenden“ nicht erwähnt, sagt sie etwa. Das aber ist | |
wichtig, weil es Anwar R. identifiziert. „Wie war das genau?“, fragt sie | |
nach. | |
Zu „dem Verhörenden“ sei er schon am zweiten oder dritten Tag gebracht | |
worden, berichtet Fayyad. Er habe sich, wie alle Gefangenen in Al Khatib | |
nur mit einer Unterhose bekleidet, hinknien müssen. Ihm gegenüber habe ein | |
Mann auf einem Stuhl gesessen, in Anzug und weißem Hemd, die Beine | |
übereinander geschlagen. All das, so Fayyad, habe er als weitere | |
Erniedrigungen empfunden. | |
Die Augenbinde, die er tragen musste, sei ihm zwar nicht abgenommen worden. | |
Der Verhörende habe Angst gehabt, dass er ihn später wiedererkenne. Doch er | |
habe den Kopf gehoben und unter der Binde durchgeschaut. „Ich habe sein | |
Gesicht gesehen“, übersetzt der Dolmetscher. An das Muttermal erinnere er | |
sich. | |
Ob Anwar R. konkrete Anweisungen zu seiner Folter gegeben habe und ob | |
dieser bei Misshandlungen anwesend war, kann Fayyad nicht genau sagen. Wohl | |
aber erinnert er sich an Äußerungen, in denen Drohungen mitschwangen. Etwa | |
dass der Verhörende die Macht habe, Antworten zu bekommen. Nach der | |
Vernehmnung wurde Fayyad zur Folter weggebracht. | |
## Fast ein Oscar | |
Anwar R. habe als Leiter des Gefängnisses die systematischen Folterungen | |
überwacht und bestimmt, steht in der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft. | |
„Ich wäre durchaus gewillt, Anwar R. zu verzeihen, wenn er zugeben würde, | |
dass es Folter gab“, sagt Fayyad am Nachmittag. | |
R. aber hat alle Vorwürfe zurückgewiesen. Er habe niemanden gefoltert und | |
auch keinen Befehl dazu erteilt, hieß es in seiner Einlassung, die sein | |
Verteidiger vor zwei Wochen verlas. Im Gefängnis gebe es keine Mittel, um | |
Menschen an der Decke aufzuhängen, so Anwar R. unter anderem. Und | |
Vergewaltigung sei „gegen unser Wertesystem, unsere Religion und unsere | |
Moral“. | |
Wenige Monate, nachdem Feras Fayyad entlassen wurde, floh er nach Jordanien | |
und von dort weiter nach Istanbul. Inzwischen ist er in Deutschland als | |
Flüchtling anerkannt. In der Türkei sei er „immer wieder nach Syrien | |
gefahren, um dort zu filmen“, sagt Fayyad. Aus dem Material ist der | |
Dokumentarfilm „Die letzten Männer von Aleppo“ über die Weißhelme | |
entstanden. | |
Der Film wurde, als erster syrischer Beitrag überhaupt, 2018 für einen | |
Oscar als bester Dokumentrafilm nominiert, und erhielt den Friedenspreis | |
des Deutschen Films. 2019 erschien ein weiterer Film: „The Cave“ berichtet | |
vom Alltag syrischer ÄrztInnen während des Krieges. Die Befragung Fayyads | |
wird am Donnerstag fortgesetzt. | |
3 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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