# taz.de -- Plädoyers in Koblenzer Folter-Prozess: „Die Helden dieses Verfah… | |
> Im Al-Khatib-Prozess wegen Staatsfolter in Syrien haben die Pladoyers der | |
> Nebenklage begonnen. Die Überlebenden ergreifen das Wort. | |
Bild: Anwar R. in Handschellen im Al-Khatib-Prozess in Koblenz | |
KOBLENZ taz | Am Mittwoch, es ist der 105. Verhandlungstag im sogenannten | |
Al-Khatib-Verfahren vor dem Koblenzer Oberlandesgericht, ergreift Hussein | |
Ghrer noch einmal das Wort. „Ich werde dich hinter die Sonne bringen und | |
selbst Fliegen werden dich dort nicht finden“, mit diesen Worten, sagt | |
Ghrer, hätten die Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes ihn und andere | |
bedroht. | |
Hinter der Sonne zu verschwinden bedeute, im Dunklen zu sein, ausgeliefert | |
mit unbekanntem Schicksal das Zeitgefühl zu verlieren – und zu wissen, dass | |
die Angehörigen keine Kenntnis darüber hätten, ob man tot oder lebendig | |
sei. Es bedeute, abgeschlossen zu sein an einem dunklen Ort. Zu vergessen, | |
wie das Laub von Bäumen aussieht und wie Blumen riechen. | |
Ghrer, der heute 41 Jahre alt ist, war einer der einflussreichsten Blogger | |
in Syrien, mit Klarnamen kritisierte er das Regime. Im Oktober 2011 wurde | |
er in einem Café in Damaskus verhaftet und in die Abteilung 251 des | |
syrischen Geheimdienstes gebracht, genauer: in das berüchtigte | |
Al-Khatib-Gefängnis. | |
Ghrer wurde dort schwer gefoltert, auch wurde ihm vorgespielt, dass seine | |
Frau ebenfalls verhaftet worden sei. Insgesamt hat er mehr als vier Jahre | |
seines Lebens in den Gefängnissen des syrischen Geheimdienstes verbracht. | |
## Folter in mindestens 4.000 Fällen | |
Nur gut zwei Meter entfernt von Ghrer sitzt Anwar R. auf der Anklagebank. | |
Seit April vergangenen Jahres steht er wegen Verbrechens gegen die | |
Menschlichkeit vor Gericht. R. hat 17 Jahre lang beim syrischen | |
Geheimdienst gearbeitet, in der Abteilung 251 hat er die | |
Ermittlungsabteilung geleitet. Al Khatib war ihm unterstellt. | |
Dort sollen allein von April 2011 bis September 2012, um diesen Zeitraum | |
geht es in dem Prozess, Tausende Menschen gefoltert worden sein. Selbst | |
misshandelt zu haben, wirft man Anwar R. nicht vor. Er soll verantwortlich | |
– und deshalb Mittäter sein. | |
Deshalb hat die Bundesanwaltschaft, die in der vergangenen Woche als Erste | |
plädiert hat, für R. wegen 30-fachen Mordes und Folter in mindestens 4.000 | |
Fällen, wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung [1][eine lebenslange | |
Freiheitsstrafe] und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld | |
gefordert. [2][In Deutschland können nach dem Weltrechtsprinzip] im | |
hiesigen Völkerstrafgesetzbuch Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch | |
dann verfolgt werden, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind. | |
An diesem Mittwoch nun beginnen die Plädoyers der 26 Nebenkläger:innen. | |
Hussein Ghrer ist einer von ihnen, an diesem Vormittag sprechen neben ihm | |
noch drei weitere Überlebende von Al Khatib. Später wird sie ihr Anwalt | |
Sebastian Scharmer als „die Helden dieses Verfahrens“ bezeichnen. Sie | |
hätten trotz der enormen Gefahr der Retraumatisierung diesen Prozess erst | |
ermöglicht. | |
## Der Glaube an Gerechtigkeit | |
Die vier Überlebenden machen noch einmal klar, wie wichtig dieser | |
[3][weltweit erste Prozess gegen Mitarbeiter des Assad-Regimes] sei – für | |
sie persönlich, aber auch für Syrerinnen und Syrer weltweit. Entscheidend | |
sei die Botschaft, sagt etwa Wassim Mukdad, dass die Verbrecher früher oder | |
später zur Rechenschaft gezogen würden. Er wolle Gerechtigkeit und eine | |
gerechte Strafe für den ehemaligen Oberst des Geheimdienstes, den | |
Angeklagten Anwar R. | |
„Ich will keine Rache und keine Vergeltung“, so Mukdad. Er betont wie die | |
anderen, dass die Verbrechen in Syrien weitergehen und dort täglich | |
Menschen in den Foltergefängnissen des Geheimdienstes all die Gräuel | |
erleiden müssen, die die vielen Opferzeug:innen hier im Saal 120 des | |
Koblenzer Oberlandesgerichts so detailliert beschrieben haben. | |
„Ich möchte nicht nur in der Position des Opfers sein und dieses Bild nicht | |
von mir haben“, sagt Nuoran Alghamian. Auch deshalb hat sie in Koblenz | |
ausgesagt. Sie wurde gemeinsam mit ihrer Mutter bei einer Demonstration im | |
Mai 2012 in Damaskus festgenommen, nach Al Khatib gebracht, dort geschlagen | |
und mit Elektroschocks malträtiert. Ein Wärter fasste ihr, als sie an den | |
Händen gefesselt an der Decke aufgehängt war, unter der Kleidung an die | |
Brust und in die Hose. „Zu jeder Zeit hatte sie panische Angst, | |
vergewaltigt zu werden“, hatte die Vertreterin der Anklage in ihrem | |
Plädoyer vergangene Woche über Alghamian gesagt. | |
Ruham Hawash, ebenfalls Überlebende von Al Khatib und Nebenklägerin, | |
erinnert daran, wie schwer es ihnen allen gefallen sei, auszusagen und vor | |
Gericht als Zeug:innen aufzutreten. „Ich habe eine Menge Erinnerungen | |
ausgraben müssen, die ich für immer vergraben wollte“, sagt sie. Das habe | |
schlimme Auswirkungen auf ihre körperliche und seelische Gesundheit gehabt. | |
Aber, auch das sei ein Effekt der Gerichtsverhandlung: „Mein Glaube an | |
Gerechtigkeit wird wiederhergestellt.“ Sie hoffe, so Hawash weiter, dass | |
das Verfahren und das anstehende Urteil „eine dringliche Aufforderung an | |
die deutsche und alle Regierungen“ sei, die zu retten, die in den | |
Gefängnissen des Assad-Regimes gefangen gehalten werden. | |
Am Mittwochnachmittag beginnen die Plädoyers der Rechtsanwält:innen, die | |
die Nebenkläger:innen vertreten. Sie werden an den kommenden | |
Verhandlungstagen fortgesetzt. Das Urteil gegen Anwar R. wird Mitte Januar | |
erwartet. | |
8 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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