# taz.de -- Folter-Prozess in Koblenz: „Ein Mann des Regimes“ | |
> Im Prozess gegen einen ehemaligen Oberst des syrischen Geheimdienstes in | |
> Koblenz haben die Plädoyers begonnen. Die Anklage fordert lebenslänglich. | |
Bild: Der Angeklagte Anwar R. zu Beginn der Verhandlung am 2. Dezember im Oberl… | |
KOBLENZ taz | Zu Beginn seines Plädoyers zitiert Oberstaatsanwalt Jasper | |
Klinge den österreichischen Widerstandskämpfer und Schriftsteller Jean | |
Améry. „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“, | |
sagt Klinge [1][und erinnert daran, dass Améry, den die SS misshandelt | |
hatte], sich 1978 das Leben nahm. Da schaut Anwar R. kurz zu Klinge | |
herüber. Folteropfer, so der Oberstaatsanwalt weiter, seien für immer | |
gezeichnet. Deshalb sei wichtig, dass diese wissen, dass sie nicht alleine | |
seien. Und dass die Welt nicht bereit sei, ihre Misshandlungen hinzunehmen. | |
Seine Hoffnung sei, dass zumindest einige der Folteropfer, um die es in | |
diesem Prozess geht, wieder heimisch würden in der Welt. | |
Schräg gegenüber vom Oberstaatsanwalt sitzt am Donnerstag Anwar R. auf der | |
Anklagebank im Saal 120 des Koblenzer Oberlandesgerichts. Der Syrer soll | |
für die Folter, um die es in diesem Prozess geht, mitverantwortlich sein. | |
R., 58, hohe Stirn, Schnauzer, ist in eine dicke olivfarbene Jacke gehüllt, | |
im Gerichtssaal ist die Heizung ausgefallen. Deshalb hat die Vorsitzende | |
Richterin allen Prozessbeteiligten gestattet, ihre Jacken zu tragen. R. hat | |
einen Kopfhörer auf, damit hört er die arabische Übersetzung des Plädoyers, | |
das Klinge und seine Kollegin Claudia Polz nun abwechselnd verlesen. | |
[2][R. steht seit April vergangenen Jahres wegen Verbrechens gegen die | |
Menschlichkeit vor Gericht.] Er hat 17 Jahre lang beim syrischen | |
Geheimdienst gearbeitet, bei der Abteilung 251 hat er die | |
Ermittlungsabteilung geleitet. Al-Khatib, das berüchtigte Gefängnis im | |
Zentrum von Damaskus, war ihm unterstellt. Dort sollen allein von April | |
2011 bis September 2012, um diesen Zeitraum geht es in diesem Prozess, | |
systematisch Tausende Menschen gefoltert worden sein. Manche sind an den | |
Folgen gestorben. Deshalb hat die Bundesanwaltschaft Anwar R. wegen | |
58-fachen Mordes und Folter in mindestens 4.000 Fällen, wegen | |
Vergewaltigung und sexueller Nötigung angeklagt. | |
Selbst gefoltert zu haben wirft man Anwar R. nicht vor. Vielmehr soll er | |
verantwortlich – und deshalb Mittäter sein. Klinge und seine Kollegin | |
machen an diesem trüben Dezembermorgen klar, dass sie die erhobenen | |
Vorwürfe gegen Anwar R. fast vollständig als bestätigt ansehen. Die Anzahl | |
der aus ihrer Sicht sicher nachgewiesenen Todesfälle beziffern sie mit | |
mindestens 30. Das liegt daran, dass sich einige Zeug:innen nicht mehr | |
ganz sicher waren. Doch bevor sich die Ankläger:innen R. und seiner | |
individuellen Schuld zuwenden, [3][klagen sie das syrische Regime von | |
Baschar al-Assad an.] | |
## Grausame Foltermethoden | |
Klinge beginnt im März 2011, als in Syrien die Menschen gegen ihre | |
Unterdrückung durch die Regierung auf die Straße gingen. Der Machtapparat | |
habe „schnell und brutal“ reagiert und mit aller Härte versucht, die | |
Demokratiebewegung niederzuschlagen. Die Gefängnisse wären schnell „aus | |
allen Nähten geplatzt“. In al-Khatib, eigentlich für 200 Inhaftierte | |
ausgelegt, seien nun immer mindestens 1.000 Menschen gefangen gewesen. In | |
dem Gefängnis, das berichteten während des Prozesses sowohl Opferzeugen als | |
auch Experten, wird seit Jahrzehnten gefoltert. Doch nach Beginn der | |
Proteste hätten Brutalität und Willkür eine neue Dimension erreicht. Es | |
habe quasi kein Verhör mehr ohne Folter gegeben, so Klinge. | |
Dann beschreibt er die überfüllten Zellen, in denen die Gefangenen zum Teil | |
nur im Stehen schlafen konnten, wo es stank und es kaum Sauerstoff gab, | |
aber jede Menge Ungeziefer und wo der kondensierte Schweiß von der Decke | |
tropfte. Er berichtet von dem nicht ausreichenden und ungenießbaren Essen | |
und verweigerter medizinischer Hilfe. Von „Willkommenspartys“, bei denen | |
ankommende Gefangene getreten und geschlagen wurden, mit Fäusten, aber auch | |
mit Gürteln und Schläuchen, manche wurden so hart mit dem Kopf an die Wand | |
gestoßen, dass sie ohnmächtig wurden. Nicht alle überlebten diesen Empfang. | |
Klinge berichtet von Elektroschocks, von Übergüssen mit Wasser und wie | |
Inhaftierte an den Händen gefesselt an der Decke aufgehängt wurden, sodass | |
ihre Fußspitzen gerade noch den Boden berührten. Zu den | |
Standardfoltermethoden habe auch „Falaka“ gehört, bei der das Opfer immer | |
wieder auf die Fußsohlen geschlagen wird. Und „Dulab“. Dabei zwängt man d… | |
Häftling in einen Autoreifen und prügelt dann auf ihn ein. | |
All das hatten die Ankläger bereits Anfang des Jahres aufgeführt, in ihrem | |
Plädoyer gegen den einstigen Mitangeklagten von R., [4][Eyad A., der | |
inzwischen verurteilt ist.] Der Prozess gegen die beiden Männer ist eine | |
internationale Premiere: Erstmals wird weltweit zwei mutmaßlichen | |
Folterknechten des Assad-Regimes der Prozess gemacht. | |
## Das Weltrechtsprinzip gilt | |
Eigentlich gehören Fälle wie diese vor den Internationalen | |
Strafgerichtshof. Doch dass dieser im Fall von Syrien tätig wird, haben | |
Russland und China durch ein Veto im UN-Sicherheitsrat verhindert. So | |
bleibt nur die nationale Justiz: [5][In Deutschland können nach dem | |
Weltrechtsprinzip] im hiesigen Völkerstrafgesetzbuch Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit auch dann verfolgt werden, wenn weder Täter noch Opfer | |
Deutsche sind. | |
Weil das Gericht in seinem Urteil über Eyad A. schon anerkannt habe, dass | |
es sich bei den Vergehen um einen ausgedehnten und systematischen Angriff | |
des syrischen Staates auf die eigene Bevölkerung und damit um Verbrechen | |
gegen die Menschlichkeit handele, könne er sich hier nun etwas kürzer | |
fassen, so Klinge. | |
Dann liest seine Kollegin die Namen der Nebenkläger.innen vor, die diese | |
Brutalität und Gewalt erleiden mussten und durch ihre Aussagen den Prozess | |
erst möglich machten, obwohl dabei die Gefahr einer Retraumatisierung | |
droht. Sie führt in jedem Einzelfall aus, was die 24 Opferzeug:innen | |
über das Erlebte aussagten. Darunter ist der Regisseur Feras Fayyat. | |
Zwei Monate saß Fayyat in einer winzigen, überfüllten Zelle in al-Khatib | |
ein, wurde geschlagen und an der Decke aufgehängt, ein Wärter führte einen | |
Stock gewaltsam in seinen Anus ein. „Die psychischen Folgen sind bis heute | |
vorhanden“, sagt Polz. Mitunter seien aber gar nicht die eigenen Schmerzen | |
das Schlimmste für die Inhaftierten gewesen, sondern die Schreie der | |
gefolterten Mithäftlinge, die sie Tag und Nacht anhören mussten. | |
## Die Anklage hält Anwar R. für verantwortlich | |
Anwar R., der aus der Nähe von Homs im Westen Syriens stammt, kam nach | |
seinem Studium der Rechtswissenschaften 1995 mit 32 Jahren zum Allgemeinen | |
Geheimdienst. Zunächst war er in Damaskus für Patrouillen zuständig, doch | |
er stieg schnell auf bis zum Ermittlungsleiter, erst in Abteilung 285, dann | |
in Abteilung 251, die für die Sicherheit in Damaskus und Umgebung zuständig | |
ist. Dort unterstanden ihm 30 bis 40 Mitarbeiter, darunter | |
Vernehmungsbeamte und Gefängniswärter von al-Khatib. Anfang 2011 wurde R. | |
zum Oberst befördert, drei Monate später gingen die Menschen gegen das | |
Regime von Baschar al-Assad auf die Straße. | |
Anwar R., führt Anklägerin Polz jetzt aus, sei verantwortlich für al-Khatib | |
gewesen, er habe die Mitarbeiter eingeteilt und ihre Arbeit überwacht, auch | |
die systematische Folter. Diese sei so selbstverständlich gewesen, dass es | |
nicht dafür eines Befehls bedurft hätte, sondern dafür, wenn ein Gefangener | |
nicht misshandelt werden sollte. R. habe vom Ausmaß der Gewalt gewusst, | |
auch sei ihm bekannt gewesen, dass Häftlinge an den Folgen starben. Das | |
habe er zumindest billigend in Kauf genommen. „Der Angeklagte war ein Mann | |
des Regimes“, sagt Polz. R. habe an der Schnittstelle zwischen | |
Befehlserteilung und Befehlserfüllung und damit an einer Schlüsselposition | |
gesessen. | |
## Besondere Schwere der Schuld | |
Anwar R. hat im Prozess geschwiegen. Im Mai 2020, kurz nach Prozessbeginn, | |
aber haben seine Anwälte eine Einlassung verlesen. Anwar R. hat darin alle | |
Vorwürfe bestritten. Er habe weder geschlagen noch gefoltert – und er habe | |
auch keinen Befehl dazu erteilt. R. bestreitet auch, dass es in der | |
Abteilung 251 überhaupt systematische Folter gegeben habe, Misshandlungen | |
seien nur in anderen Abteilungen vorgefallen. | |
Schon seit April 2011 sei er entschlossen gewesen zu desertieren, im Juni | |
2011 habe ihm sein Vorgesetzter seine Kompetenzen entzogen, weil er | |
Inhaftierten geholfen habe. Im September 2012, so heißt es in Anwar R.s | |
Einlassung, sei er in eine andere Abteilung versetzt worden. Im Dezember | |
desertierte er und floh mit seiner Familie nach Jordanien, im Sommer 2014 | |
kam er als Flüchtling nach Berlin, ein Jahr später wurde er als | |
Asylberechtigter anerkannt. | |
Dass R. entmachtet worden sei, nennt Oberstaatsanwalt Klinge „eine leicht | |
zu widerlegende Schutzbehauptung“. Zahlreiche Zeugen, darunter auch sein | |
ehemaliger Mitangeklagter Eyad A., hätten glaubhaft deutlich gemacht, dass | |
R. auch später noch über Einfluss und Machtfülle verfügt habe und seine | |
Arbeit voll ausgeübt habe. Auch habe R. nach seiner angeblichen Entmachtung | |
noch als Vertreter des Allgemeinen Geheimdienstes an hochrangigen Treffen | |
teilgenommen und in seinen Aussagen vor Prozessbeginn auch nie von einer | |
solchen gesprochen. | |
Für die Ankläger:innen ist deshalb klar: Anwar R. hat sich Verbrechen | |
gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht. Sie fordern eine lebenslange | |
Strafe und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Sollte er | |
entsprechend verurteilt werden, wofür vieles spricht, wird die Strafe nicht | |
nach 15 Jahren automatisch ausgesetzt. | |
Der Prozess wird am kommenden Mittwoch mit den Plädoyers der | |
Nebenklagevertreter fortgesetzt, auch einige Nebenkläger wollen noch das | |
Wort ergreifen. Das Urteil wird Anfang Januar erwartet. | |
2 Dec 2021 | |
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