# taz.de -- Psychische Kriegsfolgen in Syrien: Die Wunden sind noch frisch | |
> In den meisten Teilen Syriens wird nicht mehr gekämpft. Doch viele | |
> Menschen leiden unter den psychischen Folgen von Gewalt und Vertreibung. | |
Bild: Im psychiatrischen Zentrum in Sarmada, Idlib | |
IDLIB taz | Der Krieg in Syrien ist entschieden und das Regime von | |
Präsident Baschar al-Assad herrscht wieder über die meisten Teile des | |
Landes. Doch die Wunden, welche die Gewalt und die massenhafte Vertreibung | |
innerhalb Syriens hinterlassen haben, sind gewaltig. Vor allem im | |
Nordwesten, wo viele Binnenflüchtlinge bis heute Schutz vor dem Assadregime | |
finden, warnen Hilfsorganisationen vor den psychischen Folgen des | |
Konflikts. | |
Im Wartezimmer eines psychiatrischen Zentrums in Sarmada in der [1][Region | |
Idlib] sitzt Samir al-Salim, ein Mann mit faltigem Gesicht und grauen | |
Haaren. Angst und Depression stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Seine | |
Verwandten, erzählt er, hätten gedacht, die Angst sei nur vorübergehend. | |
Doch sie hielt an, verstärkte sich sogar, bis sich Salim eines Tages vor | |
jedem lauten Geräusch zu fürchten begann. Er zog sich zurück, isolierte | |
sich. | |
Samirs Geschichte ist eine, der man im Nordwestsyrien in ähnlicher Form an | |
jeder Straßenecke begegnen kann. Der 54-Jährige wurde vertrieben, als | |
syrische Regimetruppen 2019 seine Heimatstadt Ma’arat al-Numan | |
bombardierten. Er floh einige Kilometer in Richtung Norden, weg von der | |
Front, und fand Zuflucht und Schutz vor den Bomben, inneren Frieden aber | |
fand er nicht. | |
Rund zwanzig Kilogramm habe er abgenommen, erzählt Samir. Er besuchte, | |
begleitet von seiner Familie, mehrere Ärzte, die ihm Beruhigungsmittel | |
verschrieben. Doch sie halfen nicht. Mittlerweile aber kehre Samir ins | |
Leben zurück, sagt der Psychiater Ahmed al-Othman. Und erklärt: „Samir | |
leidet an einem schweren Anfall als Folge der Bombardierung und Vertreibung | |
in der jüngsten Kampagne der Regimekräfte und Russlands, die die | |
Vertreibung von mehr als anderthalb Millionen Menschen zur Folge hatte.“ | |
## Stigmatisierung und Suizide | |
In einer [2][Studie] der Hilfsorganisation Syria Relief von vergangenem | |
März heißt es, 99 Prozent der Binnenflüchtlinge in Idlib wiesen Symptome | |
einer posttraumatischen Belastungsstörung auf. Fast jeder bräuchte also | |
Unterstützung, doch in vielen Fällen bleiben die Probleme untherapiert, was | |
nicht nur mit dem Gesundheitswesen in Nordwestsyrien zu tun hat, sondern | |
auch mit dem sozialen Stigma, das psychischen Erkrankungen in Syrien | |
anhängt. | |
„Die Angst vor sozialer Stigmatisierung führt zur Vernachlässigung der | |
psychischen Gesundheit“, erklärt Psychiater al-Othman. „Wer eine | |
psychiatrische Klinik besucht“, sagt Samir, „wird als verrückt und erbkrank | |
verspottet.“ Die Töchter hätten oftmals Probleme, einen Heiratspartner zu | |
finden, Söhne würden in der Schule schikaniert. „Meine Ängste vor diesen | |
Problemen sind jedoch nach Beginn der Behandlung verschwunden“, sagt Samir. | |
Auch Sarah al-Abdullah*, Psychologin in einer Einrichtung der | |
Hilfsorganisation UOSSM in Idlib, kennt die Probleme, die mit der | |
Stigmatisierung zusammenhängen. Sie erzählt von einer Patientin, die zu ihr | |
gekommen sei, aber ihren Namen nicht nennen wollte. Selbst ihre eigene | |
Familie hatte sie getäuscht, indem sie vorgab, eine Hebamme zu besuchen. | |
„Viele Familien sind sich des Zustands ihrer Kinder nicht bewusst und | |
denken nicht einmal daran, dass psychische Erkrankungen behandelt werden | |
müssen, bis sie auf einmal von deren Selbstmord überrascht werden“, sagt | |
al-Abdullah. Es sei daher unerlässlich, die syrische Gemeinschaft über die | |
Notwendigkeit von psychologischen und psychiatrischen Behandlungen | |
aufzuklären und sich um die Überlebenden des Kriegs zu kümmern. | |
## Häusliche Gewalt | |
Wie viele Menschen sich in Syrien tatsächlich suizidieren, ist schwer zu | |
beziffern. Save the Children [3][berichtet] von 246 Suiziden und mehr als | |
1.700 Versuchen in Nordwestsyrien, wo rund vier Millionen Menschen leben, | |
im vergangenen Jahr – knapp ein Viertel davon Menschen unter zwanzig | |
Jahren. Die Dunkelziffer dürfte jedoch um einiges höher liegen. | |
Die Organisation International Rescue Committee, die eine Umfrage in Idlib | |
durchgeführt hat unter psychologischen Fachkräften, | |
Gemeindevertreter*innen und Bekannten von Menschen, die einen | |
Selbstmordversuch unternommen haben, teilte der taz mit: „77 Prozent der | |
Personen, mit denen wir gesprochen haben, gaben an, dass der | |
Selbstmordversuch auf schwere Depressionen und psychische Probleme | |
zurückzuführen ist; 67 Prozent gaben an, dass er auf häusliche Gewalt | |
zurückzuführen ist.“ | |
(Mitarbeit: Jannis Hagmann) | |
* Name geändert | |
28 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /UN-Hilfe-fuer-Syrien/!5784780 | |
[2] https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/destruction-you-cant-see-… | |
[3] https://www.savethechildren.net/news/north-west-syria-number-suicide-attemp… | |
## AUTOREN | |
Muhammad Al Hosse | |
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