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# taz.de -- Reform des Bundestagswahlrechts: Blick über den Tellerrand
> Der Bundestag ist aufgeblasen. Um das zu ändern, braucht es eine
> Wahlrechtsreform. Deutschland könnte sich an der Schweiz orientieren.
Bild: Wenig freie Stühle gibt es noch im übervollen Bundestag
Der größte Bundestag aller Zeiten ist gewählt. Die Debatte zur [1][Reform
des Bundestagswahlrechts] ist festgefahren. Warum blicken wir eigentlich
nicht über den Tellerrand? Die Schweiz, Irland, alle skandinavischen Länder
und Österreich sowie viele neue Demokratien zeigen, wie es geht: Ein
Persönlichkeitswahlrecht lässt sich mit einer strikten Proportionalität
verbinden – ohne dass Überhangmandate entstehen.
Immer wieder loben konservative Expert*innen das Wahlsystem in
Großbritannien und den USA. Dort wählen die Bürger*innen „ihre“
örtlichen Abgeordneten. Trotzdem werden auch dort fast immer
Vertreter*innen von Parteien gewählt. Warum? Nun – die Wähler*innen
wollen zwar Personen wählen, die sie kennen. Sie wollen aber auch wissen,
welches Programm diese Abgeordneten vertreten und wofür sie gegebenenfalls
stimmen werden. Allerdings hat dieses Wahlrecht einen gravierenden
Nachteil:
Minderheiten und kleine Parteien mit neuen Ideen sind so gut wie nie im
Parlament vertreten. Häufig reichen 40 Prozent der Stimmen für eine
Mehrheit im Parlament. Doch eine reine Verhältniswahl birgt auch erhebliche
Nachteile. Es gibt keine Personenwahl mehr und damit keinen persönlichen
Bezug zwischen Wähler*innen und Gewählten.
Und da nun viele kleine Parteien ins Parlament kommen, haben diese ein
großes Erpressungspotenzial und erzwingen die Berücksichtigung ihrer
Sonderwünsche – ein typisches Beispiel dafür ist die Situation in
[2][Israel]. Deshalb werden meist Sperrklauseln von 3 Prozent bis zu 10
Prozent eingeführt. Das deutsche Wahlsystem wurde als Kompromiss
konzipiert. Praktisch funktioniert dieses System jedoch nicht so wie
gedacht.
## Viel Macht für Kleinstparteien
Da die kleinen Parteien kaum Direktmandate gewinnen können, spielt für sie
nur der Listenplatz eine Rolle. Bei den großen Parteien dominieren dagegen
die Direktmandate. Das hat dazu geführt, dass die großen Parteien dazu
übergegangen sind, nur noch Direktkandidat*innen einen Listenplatz zu
geben. So wird auch hier die Wahlmöglichkeit der Wähler*innen weitgehend
ausgeschaltet.
Gibt es dazu aber eine Alternative? Hierzu lohnt sich ein Blick über den
Tellerrand. Bis 1919 gab es auch in der Schweiz das Mehrheitswahlsystem wie
in Großbritannien. Dann wurde in einem Volksentscheid eine
[3][Verhältniswahl] durchgesetzt – aber eben nicht für die gesamte Schweiz,
sondern für jeden Kanton. Außerdem können mehrere Stimmen für die einzelnen
Kandidat*innen abgegeben werden.
Im Ergebnis entstand ein Wahlsystem mit einer ganzen Reihe von Neuigkeiten:
Jeder Kanton wählte „seine“ Abgeordneten. Es handelt sich also wie in
Großbritannien um eine Persönlichkeitswahl. Da aber fast alle Kantone
mehrere Abgeordnete wählen, sind mehr oder weniger alle Parteien
entsprechend ihrer Stärke im Parlament vertreten. Neu „erfunden“ wurde
auch, dass man mehrere Stimmen für einzelne Kandidat*innen der
favorisierten Partei abgeben konnte, zu denen man besonders viel Vertrauen
hat.
Solche Wahlsysteme, bei denen jeweils mehrere Abgeordnete in einem
Wahlkreis gewählt werden – hier ist von Mehrpersonenwahlkreisen die Rede –,
sind zunehmend beliebt. Unter den 15 Staaten, die im [4][Demokratieindex
der Zeitschrift Economist] am besten abschneiden, praktizieren mittlerweile
die Hälfte ein solches Wahlsystem: Irland, Dänemark, Norwegen, Island,
Österreich, Finnland, Schweden und die Schweiz.
## Hauptstimme plus Ersatzstimme
Weltweit werden schon in über 70 Staaten die Abgeordneten überwiegend in
Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Ein Nachteil dieses Systems bestand darin,
dass die Chancen für kleine Parteien sehr ungleich sind, wenn die
Wahlkreise unterschiedlich groß sind. Aber auch dafür gibt es eine Lösung.
In sechs Schweizer Kantonen wird das Verfahren des Augsburger Professor
Friedrich Pukelsheim verwandt, das er im Auftrag von Zürich entwickelt hat.
Schweden und Norwegen haben eigene Verfahren, die sicherstellen, dass alle
Parteien proportional im Parlament vertreten sind. Ich verzichte hier auf
eine detaillierte Beschreibung – die kann man in Wikipedia nachlesen.
Wichtig für die aktuelle Diskussion in der Wahlrechtskommission des
Bundestages ist aber: Bei diesem System gibt es keine Überhangmandate. Der
Bundestag bliebe stets bei den in der Verfassung vorgesehenen 598
Abgeordneten!
Es bleibt daher festzuhalten: Es gibt ein Wahlsystem, das eine echte
Personenwahl mit maximalem Einfluss der Wähler*innen auf die Auswahl der
Kandidat*innen in ihrem Wahlkreis ermöglicht. Und das es ohne
Überhangmandate trotzdem möglich macht, dass die Parteien im Parlament
entsprechend ihrer Stimmenzahl proportional vertreten sind. Der Bundestag
sollte daher den Egoismus, mit dem sich die kleinen und großen Parteien
immer wieder an ein gegebenes Verfahren klammern, überwinden.
Denn ein gutes Wahlsystem wäre ein wichtiger Beitrag für die Demokratie in
Deutschland und könnte dazu beitragen, das Vertrauen in die Demokratie zu
stärken. Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl weiterer Ideen, die in
der Wahlrechtskommission diskutiert werden sollten: die Parität der
Geschlechter, das [5][Ausländerwahlrecht], das [6][Wahlrecht für
Jugendliche], die Proteststimme und, besonders interessant, die
Ersatzstimme:
Etwa 10 Prozent aller Stimmen gehen regelmäßig verloren, da die gewählten
Kleinparteien an der Sperrklausel scheitern. Man könnte aber den die
Wähler*innen ermöglichen, neben der Hauptstimme eine zweite
„Ersatzstimme“ zu vergeben. Die bekommt dann eine der Parteien, die mit
großer Wahrscheinlichkeit die Sperrklausel überwinden werden. So dürfte
kaum eine Stimme verlorengehen! Solche Ersatzstimmen gibt es schon in
vielen Ländern – zum Beispiel bei der Wahl des Bürgermeisters von London
und bei der Parlamentswahl in Neuseeland.
12 Jan 2022
## LINKS
[1] /Bundesverfassungsurteil-zur-Wahlreform/!5793642
[2] /Wahl-in-Israel/!5016453
[3] https://www.wahlrecht.de/ausland/schweiz.html
[4] https://www.eiu.com/n/campaigns/democracy-index-2020/#:~:text=Democracy%20w…
[5] /Hunderttausende-duerfen-nicht-waehlen/!5797714
[6] /Wahlalter/!5127475
## AUTOREN
Karl-Martin Hentschel
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