| # taz.de -- Vitra-Stühle im Bundestag: „Gemütlich und ergonomisch“ | |
| > Der Bundestag wächst erneut um 27 Sitze. Ein Gespräch über den legendären | |
| > „Figura“-Stuhl mit Vitra-Mitarbeiter Roman Ehrhardt. | |
| Bild: Die Farbe „Reichstags-Blue“ ließ sich Architekt Norman Foster patent… | |
| taz: Herr Ehrhardt, Ihre Firma Vitra stellt die Stühle im Plenarsaal des | |
| Deutschen Bundestags her. Hand aufs Herz: Wie enttäuscht waren Sie, als | |
| feststand, dass der neue Deutsche Bundestag nur um 27 Sitze, von 709 auf | |
| 736 Sitze, wachsen wird? | |
| Roman Ehrhardt: (lacht) Wollen Sie eine politische oder eine | |
| betriebswirtschaftliche Antwort? | |
| Gerne erst mal eine betriebswirtschaftliche. | |
| Ehrlich gesagt bringt uns ein größerer Bundestag nichts. Die haben dort | |
| ausreichend Stühle, auch für ein größeres Parlament. Das ist ja das Smarte, | |
| das Norman Foster damals gemacht hat. | |
| … der Architekt, der das Reichstagsgebäude in Berlin Ende der 1990er in ein | |
| modernes Parlamentsgebäude umgebaut hat. | |
| Genau. Vor dem Hintergrund, dass nie klar war, wie viele Fraktionen wir mal | |
| haben werden, hat Foster die gesamte Arithmetik im Plenarsaal sehr flexibel | |
| gestaltet. Auch dass einzelne Fraktionen wachsen oder schrumpfen können und | |
| natürlich auch der Bundestag als Ganzes größer werden kann, hat er in | |
| seinem Bestuhlungskonzept bedacht. Sprich: Der Deutsche Bundestag hat genug | |
| Stühle im Keller, um da 27 mehr Sitze anzuschrauben. | |
| Okay, aber einige Szenarien sahen einen um hundert oder mehr Mandate | |
| größeren Bundestag vor. Dann hätten Sie doch sicher einen Anruf aus der | |
| Bundestagsverwaltung bekommen. | |
| Nein, auch dann nicht. Die sind wirklich sehr gut ausgestattet mit unseren | |
| Stühlen. Denken Sie an die Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten | |
| wählt. Da müssen dann noch mal doppelt so viele Menschen im Raum sitzen | |
| können. Das bekommen die ja auch hin. Daher war uns von Anfang an klar, | |
| dass diese Wahl nicht zu einem erträglichen Geschäft für uns führen wird. | |
| Letzter Versuch: So ein Stuhl wird ja auch mal kaputtgehen, und dann muss | |
| ja sicher die Reserve aufgefüllt werden. Wie viele müssen Sie denn so im | |
| Schnitt nachliefern? | |
| Nach meinem Wissen keine. Den Bundestag in Bonn haben wir 1992 mit unseren | |
| Stühlen ausgestattet. Die sind heute immer noch da drin. Der Reichstag in | |
| Berlin ist 1999 bezugsfertig geworden, seitdem sind unsere Stühle auch dort | |
| im Einsatz und werden alle zwei, drei Jahre von unserem Serviceteam | |
| gewartet. Das ist für uns als Unternehmen natürlich ein schönes Statement | |
| hinsichtlich Qualität und Nachhaltigkeit. Sollte zwischendurch doch mal | |
| eine Armlehne abbrechen, ersetzen wir die. Ansonsten war die einzige | |
| größere Restaurierung im Jahr 2016, als wir einmal komplett die Bezüge des | |
| dänischen Herstellers Kvadrat ausgetauscht haben. | |
| Für stattliche 700.000 Euro, wie zu lesen ist. Was kostet denn so ein | |
| Bundestagsstuhl überhaupt? | |
| Als der Deutsche Bundestag 1999 von Bonn nach Berlin zog, hat der „Figura“, | |
| das ist das Modell, um das es geht, bei uns 1.644 DM gekostet. Man konnte | |
| ihn auch privat kaufen. Allerdings nicht mit dem Bezug. Dessen Farbe hat | |
| Norman Foster sich unter dem Namen „Reichstags-Blue“ patentieren lassen. | |
| Kann man den „Figura“ heute auch noch kaufen? | |
| Nein, der ist irgendwann in den 2000ern bei uns ausgelaufen beziehungsweise | |
| wurde weiterentwickelt. | |
| Ich muss also schon Bundestagsabgeordnete:r werden, um auf einem | |
| „Figura“ zu sitzen. Da die meisten von uns das wohl nicht mehr werden: | |
| Charakterisieren Sie doch mal den Stuhl, auf dem unsere Abgeordneten so | |
| viel Zeit verbringen. | |
| Der „Figura“ ist von der typischen Designgeschichte der Achtziger | |
| beeinflusst worden. Mario Bellini hat den Stuhl 1984 entworfen. Er war | |
| einer von den großen Industriedesignern in Italien. Die Formgebung ist | |
| bewusst so gestaltet, dass man das Gefühl hat, man ist zu Hause und nicht | |
| in einem Büro. Die Silhouette wirkt durch die Form und Polsterung sehr | |
| weich. Das soll ein gemütliches Sitzgefühl vermitteln unter Einhaltung der | |
| ergonomischen Erfordernisse, die nicht immer deckungsgleich mit dem | |
| subjektiven Gemütlichkeitsgefühl sind. Gleichzeitig soll der Eindruck | |
| vermieden werden, dass man auf einer Maschine sitzt. | |
| Eine Maschine? | |
| Ja, das war in der Welt der Task Chairs, also der ergonomischen Bürostühle, | |
| durchaus ein Trend. Schauen Sie sich mal den weltweit berühmtesten Task | |
| Chair an. Das ist der „Aeron“ von Herman Miller. Der sieht aus wie eine | |
| richtige Maschine, und es ist auch Teil der Idee, dass man die komplette | |
| Technik, die der Stuhl zu bieten hat, darstellt. Man hat das Gefühl, man | |
| sitzt auf einem Raumschiff. Das hat damals den Erfordernissen einer | |
| hochtechnisierten Bürowelt sehr gut entsprochen. Beim „Figura“ geht es um | |
| das Gegenteil. Bellini wollte einen ästhetischen Gegenpol zu diesem | |
| Hochtechnisierten schaffen. Dadurch, dass die Polsterung und nicht die | |
| Technik im Vordergrund steht, erinnert er eher an ein Möbelstück für zu | |
| Hause als an einen typischen Bürodrehstuhl. | |
| Die Features, die man so kennt, flexible Rückenlehne, Höher- und | |
| Tieferstellen, hat er aber trotzdem? | |
| Natürlich. Der „Figura“ war sogar ein Vorreiter in bestimmten Sachen. Im | |
| Endeffekt ist er eine Weiterentwicklung von unserem „Vitramat“ gewesen, dem | |
| ersten Bürostuhl mit einer integrierten Automatik. Die Rückenlehne passt | |
| sich automatisch dem Rückenwiderstand an, kann aber auch individuell | |
| angepasst werden. Darüber hinaus hat er eine stufenlose Mechanik, es kann | |
| arretiert, also festgestellt werden, und er hat eine integrierte | |
| Lumbalstütze [Vorrichtung zur Unterstützung des Lendenwirbelbereichs, Anm. | |
| d. Redaktion]. Das sind alles Dinge, die sind heute auch | |
| selbstverständlich. Damals galt das aber als technische Weiterentwicklung. | |
| Die Mehrheit der Bundestagsstühle sind im Boden festgeschraubt. Nur die in | |
| den ersten Reihen kann man vor- und zurückschieben. | |
| Ja, diese Schienentechnik war damals auch neuartig. Das hat man schon in | |
| Bonn gemacht, um der Bewegungsfreiheit der Abgeordneten in den ersten | |
| Reihen stärker Rechnung zu tragen. | |
| Wenn man genau hinschaut, fällt auch auf, dass zwei Stühle im Saal eine | |
| etwas höhere Rückenlehne haben. Der der Bundeskanzlerin und der des | |
| Bundestagspräsidenten. | |
| Ja, das wurde damals bei uns so bestellt. Über die Gründe hat man uns nicht | |
| aufgeklärt. (lacht) Da spielt wahrscheinlich eine gewisse Symbolik mit | |
| rein. | |
| Noch mal zurück zu Norman Foster: Stimmt es, dass er ursprünglich andere | |
| Stühle für den Plenarsaal vorgesehen hatte? | |
| Ja, er wollte gerne Stühle eines anderen Herstellers haben und hat diese in | |
| einem Modell auch vorgestellt. Das haben sich damals dann aber | |
| Bundeskanzler Helmut Kohl, die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und noch | |
| andere angeschaut und entschieden: Wir wollen wieder blaue „Figura“-Stühle. | |
| Klingt so, als ob Kohl und Süssmuth schon mal Mitarbeiter:innen des | |
| Monats bei Ihnen waren. | |
| Das ist natürlich eine schöne Geschichte für unser Unternehmen und auch | |
| eine schöne Referenz. Aber um auf ihre Eingangsfrage zurückzukommen: | |
| Betriebswirtschaftlich hatte das nicht den ganz großen Einfluss auf unser | |
| Geschäft. | |
| Apropos, Sie schulden mir noch die politische Antwort auf meine erste | |
| Frage: Wie enttäuscht waren Sie, als feststand, dass der neue Deutsche | |
| Bundestag „nur“ um 27 Sitze wächst? | |
| Als Demokrat und interessierter Bürger bin ich darüber ganz froh. Und ich | |
| hoffe tatsächlich auch, dass es in der nächsten Legislatur mit einer | |
| Wahlrechtsreform klappt, auch wenn der Bundestag dann kleiner werden | |
| sollte. | |
| 24 Oct 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Böldt | |
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