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# taz.de -- Alltag in Coronazeiten: Matratzen, setzt doch uns vor die Tür!
> Die Polsterflächen sind die Gewinner und die Verlierer der Pandemie. Auf
> den Spuren einer verhängnisvollen Matratzisierung unseres Selbst.
Bild: Sie hilft uns, wenn wir müde sind, aber wer hilft ihr?
Es ist Mitte November, als ich coronabedingt mal wieder nichts Besseres zu
tun habe, als durch meinen Berliner Kiez zu spazieren. Ich denke noch
darüber nach, ob ich lieber links- oder rechtsherum gehe, da stolpere ich
fast über eine ausrangierte Matratze. Sie liegt da, ruhig und verlassen in
der Dämmerung. Ihre Oberfläche ist mit Herbstlaub bedeckt, die Blätter auf
ihr schimmern golden im Laternenlicht.
Erst freue ich mich, wie verträumt und poetisch sie aussieht, dann werde
ich mit einem Mal sehr müde. Was gäbe ich jetzt dafür, mich einfach
draufzulegen und von einer besseren, pandemiefreien Zukunft zu träumen!
Doch mein innerer Kritiker raunzt mich an: Viel zu kalt und eklig! Also
fotografiere ich die Matratze nur, um mich später an diesen Moment zu
erinnern. Nein, seien wir ehrlich, eigentlich ist dieses Foto bloß für
Instagram.
Und es wird nicht bei dieser einen hübschen, mit Herbstlaub verzierten
Matratze bleiben. In den darauffolgenden Wochen entdecke ich bei jedem
meiner Spaziergänge neue, mal 90, mal 140, mal 200 Zentimeter breite
Exemplare. Mal sind sie fast neu und prall, mal bis auf ihre Sprungfedern
ausgeweidet.
Sie lehnen an Stromkästen, Wänden oder Zäunen. Sie gammeln vor
Hauseingängen, Geschäften oder Restaurants herum, sie dürfen das ja noch.
Manchmal liegen sie sogar so sehr im Weg, dass mir nichts anderes übrig
bleibt, als über sie hinwegzutrampeln.
## „Lebst du im Matratzenland?“
Irgendwie fasziniert es mich, wie sie so ihrem Schicksal überlassen worden
sind und nun ohne Sinn und Zweck vor sich hin modern, bis sich vielleicht
doch noch eine Wohnungslose oder ein Müllmann ihrer annimmt.
Und irgendwie erinnern sie mich auch an Douglas Adams gutmütige
Matratzenwesen aus [1][„Per Anhalter durch die Galaxis“], die auf einem
unaussprechbaren Sumpfplaneten fröhlich vor sich hin-„flollopen“, weil sie
aufgrund der Tatsache, dass sie alle „Zem“ heißen, nie wirklich wissen, wer
von ihnen gerade getötet und zur Liegefläche umfunktioniert worden ist.
Und ich bin nicht die Einzige, die sich über ihr massenhaftes Auftauchen
auf Berlins Straßen wundert. „Lebst du im Matratzenland?“, postet ein
Bekannter unter meine Fotoserie bei Instagram, ein anderer unterstellt mir
scherzhaft, dass ich immer ein- und dieselbe Matratze von einem Ort zum
anderen schleppe, um sie in ständig neuen Settings zu fotografieren.
Aber zumindest in Prenzlauer Berg scheinen plötzlich viele Menschen
gleichzeitig ihre Schlafsituation optimieren zu wollen. Sie kaufen neue
Matratzen und werfen die alten vor die Tür.
Nur, ist meine Beobachtung wirklich mehr als bloß das Randphänomen eines
viel zu wohlhabenden, durchgentrifizierten Viertels? Ist sie, stelle ich
fest, als ich der Sache auf den Grund gehe. Bei meiner Recherche stoße ich
auf zahlreiche Berichte über illegale Mülldeponien, die seit der
Coronakrise noch mal mehr geworden sind.
Ob auf dem Land oder in der Stadt, [2][in Waldgebieten oder am
Straßenrand]: Überall stapeln sich alte Küchenschränke, Fernseher und eben
Matratzen, die zu allem Überfluss auch noch hin und wieder in Flammen
aufgehen.
Als Grund für diese sich bundesweit zuspitzende Vermüllung nennen
Expert:innen die neue, durch die Pandemie verursachte Häuslichkeit, die
bei uns Menschen mit einer Marie-Kondoesken Wegwerfwut einherzugehen
scheint.
Und die bringt nicht nur die zuständigen Wertstoffhöfe zunehmend an ihre
Belastungsgrenze, sie führt eben auch zu jenen Abfallhalden, die zwar mit
einem saftigen Bußgeld sanktioniert würden, doch dafür müssten die
Umweltsünder:innen ja erst einmal gefunden werden – und das passiert
noch viel zu selten.
Letztlich schaden die illegalen Müllhaufen der Umwelt und kosten Unsummen
an Geld wie beim [3][Aktionsprogramm „Sauberes Berlin“], bei dem nun 3,3
Millionen Euro für Präventionsmaßnahmen und fachgerechte Entsorgung
veranschlagt sind.
Die Profiteure der Ausmisthysterie sind auch nicht weit: Die Möbelindustrie
und der dazugehörige Handel sind, nun ja, nicht gerade geschwächt aus dem
ersten Pandemiejahr hervorgegangen. Auch wenn die Branche wegen der
aktuellen Ladenschließungen nach eigenen Angaben wieder mächtig zu kämpfen
hat. [4][Nach dem ersten Lockdown nahm die Nachfrage] nach neuen Sofas,
Einbauküchen und Matratzen dermaßen zu, dass sie die Einbußen der ersten
Monate, aufs Gesamtjahr betrachtet, fast wettmachte.
## Rekordumsätze im Bettengeschäft
„Die Menschen haben im vergangenen Jahr mehr Zeit als sonst zu Hause
verbracht (…) – und dabei den ein oder anderen Möblierungswunsch
entwickelt“, schreibt der Verband der Deutschen Möbelindustrie noch
einigermaßen nüchtern.
Wenn man aber mit Axel Augustin vom BTE Handelsverband Textil spricht,
klingt das schon fast euphorisch: „Wir haben, was unsere Fachgeschäfte
anbelangt, ein teilweise sehr gutes Jahr gehabt“, sagt er. „Die Leute sind
in die Geschäfte gekommen und haben tatsächlich gesagt, ‚Jetzt fahre ich
nicht in den Urlaub, jetzt gönne ich mir ein neues Bett.‘ “
Der Matratzenverband warnte zwischenzeitlich sogar vor Lieferengpässen,
[5][das Dänische Bettenlager] machte trotz Coronapandemie Rekordumsätze,
und das Frankfurter Matratzen-Start-up Emma schloss das Geschäftsjahr 2020
[6][mit einem niedrigen zweistelligen Millionengewinn].
Klar – in Lockdownzeiten müssen Matratzen, wie man so hört, recht viel
Bewegung aushalten. Ein weiterer Grund für diesen Erfolgskurs dürfte aber
die enorme Geschäftstüchtigkeit der Branche sein. So warb das Infoportal
des Matratzen-Onlineshops Bett1 während der Pandemie mit der
immunsystemstärkenden Wirkung von erholsamem Schlaf – pennen gegen die
Pandemie. Das Bettenmobil des Matratzenhändlers Kolbe kommt seit Kurzem
sogar mit einer kleinen Auswahl an Matratzen, Lattenrosten und Bettwäsche
bis zu einem nach Hause.
Und was machen wir gutgläubigen Konsument:innen? Wir klammern uns in
unserer Verzweiflung an jede noch so kleine Aussicht auf Verbesserung.
Können wir vor Sorge um die Liebsten oder den Job nicht mehr richtig
schlafen, ist bestimmt die Matratze schuld. Wobei: Hängt sie nicht wirklich
schon ein bisschen durch und müffelt streng?! Eben.
Doch auch wenn das Lebensalter der Matratze – sie wird maximal 10 Jahre
alt, das ist in Menschenjahren gerechnet etwa 100 – noch längst nicht
überschritten ist, wechseln sie gerade viele aus. Im Augenblick sind die
sogenannten smarten Matratzen der neueste Schrei. Sie sollen sich mithilfe
von künstlicher Intelligenz der jeweiligen Liegeposition des Körpers
anpassen und die Schlafqualität analysieren können, sodass man die
Ergebnisse am nächsten Morgen auf seinem Smartphone ablesen kann.
Schon die Römer wussten eine gute Liegeposition zu schätzen, und von
Churchill ist bekannt, dass er seine Amtsgeschäfte gern von der Matratze
aus erledigte. Ja, sogar Kanzlerin Angela Merkel soll laut Bild-Zeitung
nach ihrem Skiunfall 2014 eine Zeit lang vom Bett aus regiert haben.
## Rumlümmelnde Held:innen
Apropos Skifahren und Matratzen: Erst kürzlich regten sich manche mächtig
auf, dass die Skispringerinnen des Damen-Weltcups den Werbeslogan „Wir sind
Matratze“ auf der Brust tragen mussten. Unter sexistischen Gesichtspunkten
war das ja auch wirklich ein böser Fauxpas, unter denen der Pandemie jedoch
gar nicht so weit hergeholt. Denn sind wir Homeoffice-Privilegierten nicht
momentan alle ein bisschen „Matratze“ – wenn wir nicht aus beruflichen
Gründen stattdessen auf der Skischanze stehen oder als Ärzt:innen im OP
arbeiten?
Den Rest der Zeit lümmeln wir ja tatsächlich größtenteils als von der
Bundesregierung ernannte Coronaheld:innen auf unserer neuen
Premiummatratze herum. Einfach herrlich, wie sich von dort aus die
Geschicke unserer kleinen Welt weich gebettet lenken lassen: Da setzt man
seinen Namen unter eine Petition gegen Ausbeutung, bestellt sich aber
parallel eine Salamipizza bei Lieferando und fühlt sich mal mindestens wie
eine wichtige Aktivistin.
Doch wer rettet uns Prinzessinnen und Prinzen auf der Erbse jetzt aus der
lähmenden Matratzisierung unseres Selbst?
Zwei vielversprechende Optionen gibt es: [7][Der Berliner Graffitikünstler
Sozi 36] könnte mit seinen sozialkritischen Slogans auf ausrangierten
Matratzen, die er bei Instagram postet, zu uns durchdringen. Dann wären die
abgelegten Liegegelegenheiten wenigstens noch als Kommunikationsmedium
nütze. Oder aber es sind die zusammengequetschten Matratzen in unseren
Schlafzimmern, die sich nach monatelangem Herumliegen erheben und zur
Abwechslung mal uns vor die Tür setzen.
22 Feb 2021
## LINKS
[1] https://keinundaber.ch/de/autoren-regal/douglas-adams/
[2] https://www.sueddeutsche.de/wissen/abfall-munster-illegale-muellentsorgung-…
[3] https://www.tagesspiegel.de/berlin/millionen-gegen-den-muell-so-sollen-berl…
[4] https://www.moebelmarkt.de/beitrag/deutsche-moebelindustrie-weitere-erholung
[5] https://www.moebelmarkt.de/beitrag/daenisches-bettenlager-deutschland-rekor…
[6] https://www.businessinsider.de/gruenderszene/business/emma-umsatz-2020-r/
[7] https://www.instagram.com/sozi.36/?hl=de
## AUTOREN
Anna Fastabend
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