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# taz.de -- Schlafen ist politisch: Träumt weiter!
> Schlaf gilt als privat. Gleichzeitig wird er durch Arbeit eingegrenzt,
> von Familie strukturiert, mit Apps optimiert. Aber der Schlaf hat
> Potenzial.
Bild: Guter Schlaf ist für viele ein Privileg: Ein Träger in Dhaka, Banglades…
Es gibt zwei Abschnitte im Leben: Beim ersten soll man so oft und lang wie
möglich schlafen, will aber nicht. Da ist man meistens noch ein Kleinkind.
Beim zweiten will man oft schlafen, kann aber nicht, weil man erwachsen ist
und irgendwie mit der ganzen Lebensladung zurechtkommen muss: mit Arbeit,
Verantwortung, Stress.
Etwa ein Drittel aller deutschen Erwachsenen ist [1][laut dem
Robert-Koch-Institut] von klinisch relevanten Schlafstörungen betroffen,
[2][bei einer Umfrage der Krankenversicherung DAK] gaben 80 Prozent der
Befragten an, selbst unter Schlafproblemen zu leiden. Für Unternehmen wird
Schlaf so zum Geschäft, für Schlafende zum Stressfaktor.
Wie wir schlafen, ist keine individuelle Frage. Es ist eine politische
Frage der Verteilung, eine strukturelle Frage der Gerechtigkeit. Wer
schläft, bewegt sich in einem Spannungsfeld: Einerseits soll Schlaf ein
erholsamer Rückzugsort sein, getrennt von Arbeit, Familie,
gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen. Gleichzeitig hängt Schlaf mit
all diesen Dingen zusammen, weil sie bestimmen, wann und wie wir schlafen.
Fragen des Schlafs sind moralisch aufgeladen: Wer mittags schläft, ist
faul. Wer wegen der Arbeit wenig schläft, wird, je nach Job, bewundert. Wer
wegen Kindern müde ist, muss da halt die paar Jahre lang durch; eine
Denkweise, die während der Pandemie besonders sichtbar wird. Guter Schlaf
meint dann meistens, so bewusst und diszipliniert zu leben, dass man zu den
richtigen Zeiten effizient schläft, um danach möglichst wach und möglichst
produktiv zu sein. Gut zu schlafen bedeutet, das eigene Leben im Griff zu
haben. Nur: Einen guten Schlaf muss man sich leisten können.
## Mit Croissantgeruch geweckt
Der Kapitalismus, der den Schlaf maßregelt, unterbreitet zahlreiche
Angebote, mit denen sich dieser optimieren lässt. Mit Schlaf- und
Beruhigungsmitteln, der richtigen Diät. Mit Tageslichtlampen, teuren
Matratzen oder internetfähigen Bettdecken, die App-gesteuert wärmen oder
kühlen. Mit Weckern, die Sonnenaufgänge simulieren oder mit wohlriechenden
Düften wecken, beispielsweise, das ist kein Scherz, mit Croissantgeruch.
Bewusstes Schlafen gliedert sich in eine Welt von Yoga, Meditation und
Minimalismus ein, in der sich Selbstoptimierung derzeit unter dem
Sammelbegriff Achtsamkeit erfolgreich verkauft. Diese Welt bewohnt vor
allem das großstädtische, akademische Milieu, das nicht nur das nötige Geld
hat, um in die eigene Optimierung zu investieren, sondern auch die Zeit,
sich darüber überhaupt so viele Gedanken zu machen – und dabei
selbstgefällig auf diejenigen zu blicken, die weniger von beidem haben und
auch einfach nur funktionieren müssen.
Auf diese startuppige Lebenswelt gibt es häufig zwei Reaktionen: Auf der
einen Seite stehen diejenigen, die Konsumkritik üben. Sie gehen davon aus,
dass Änderungen des individuellen Konsumverhaltens zu gesellschaftlichem
Wandel führen. Sie sagen: Löse dich von diesem Optimierungswahn, hör auf,
deine Erholung zu maximieren. Schlaf muss nicht effektiv sein. Schlaf, wann
du willst, wie du willst, dein Schlaf gehört dir.
Die andere Seite entgegnet, dass Konsumkritik naiv ist, weil sie davon
ausgeht, dass man sich frei und individuell entscheiden kann, sich selbst
nicht zu optimieren. Dabei muss man sich den Verzicht ja leisten können:
Wessen finanzielle Sicherheit von der unmittelbaren Performance abhängt,
muss in einer Konkurrenzgesellschaft eben ausgeruht sein, um Leistung
erbringen zu können.
## Zeiten und Räume
Hannah Ahlheim, Historikerin an der Universität Gießen, zeichnet in „Der
Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert“ die jüngere Geschichte des Schlafs im
globalen Norden nach. Sie beschreibt Schlaf als soziale Praxis, die nur
vermeintlich in geschützten Räumen stattfindet: „Politische und
ideologische Entscheidungen wirken auf den Schlaf des Menschen, der Krieg
stört den Schlaf, die Arbeit setzt ihm Grenzen, gesellschaftliche
Institutionen weisen ihm Zeiten zu“, so Ahlheim. „Die Zeiten und Räume, die
für das Schlafen zur Verfügung gestellt werden, sind abhängig von der
sozialen Position des Schlafenden, von seiner Arbeit und von den
allgemeinen ökonomischen Strukturen der Gesellschaft.“
Vor etwa 100 Jahren setzte die Arbeitendenbewegung in Deutschland den
Achtstundentag durch. Ahlheim zitiert Schlafratgeber, die etwa zur selben
Zeit der bürgerlichen Welt erklärten, wie man schläft: Wie das Schlafzimmer
einzurichten ist, wie zu lüften ist, welche Schlafrhythmen gut sind (Schlaf
vor Mitternacht ist essenziell, Mittagsschlaf ganz schlecht).
Diese Kunst des Schlafes, so Ahlheim, habe nur wenig mit der
Schlafzimmerrealität der proletarischen Klasse zu tun. Über die Arbeitenden
merkten die Schlafratgeber an, dass sie sich gar keine Gedanken über den
Schlaf zu machen bräuchten, weil sie davon ohnehin nicht viel benötigten.
Der Geist erfordere schließlich mehr Schlaf als die Muskeln.
Fragen rund um den Schlaf [3][haben die Künstlerin Tricia Hersey dazu
veranlasst, „The Nap Ministry“zu gründen]. Das US-amerikanische,
künstlerisch-aktivistische Projekt untersucht die befreiende Kraft von
„naps“ für BIPoC. Das Projekt ist vor allem über den Auftritt in sozialen
Netzwerken bekannt, bietet aber auch Aktivitäten an: kollektive
Schlaferfahrungen in safer spaces, also geschützten Räumen. Oder jetzt,
während der Pandemie, virtuelle Sitzungen über Zoom, in denen sich die
Teilnehmenden austauschen, ausruhen und schweigen.
## Schlafen heißt sich entziehen
Stellenweise mutet der Ansatz esoterisch an, etwa wenn Hersey, die auch
Theologin ist und Beiträge auf dem Blog mit „Your Faithful Nap Bishop“
unterzeichnet, Schlaf als spirituelle Praxis beschreibt. Aber The Nap
Ministry „ist kein Trend“, [4][erklärt Hersey auf Twitter]. Es gehe nicht
um Selfcare, nicht bloß um ein Nickerchen.
Das Projekt ist ein radikal politisches, weil es die Möglichkeit, sich
auszuruhen, als ein ungleich verteiltes Recht versteht – und Schlaf als
Instrument nutzt, um Ungerechtigkeit sichtbar zu machen. Weil verschiedene
Formen der Ausbeutung den Tagesablauf und damit auch den Schlaf
durchdringen, ist es eine Form von Widerstand, sich dem zu entziehen. Das
US-amerikanische Projekt Nap Ministry richtet sich an Schwarze Menschen und
Personen of Color, [5][die besonders häufig unter prekären Umständen
arbeiten und seit Jahrhunderten Rassismus ausgesetzt sind.] Die
Möglichkeit, sich auszuruhen, wird deshalb auch als eine Form von
Reparation verstanden.
Damit antwortet das Projekt sowohl auf die Frage, wie politisch Schlaf sein
kann, als auch auf die Frage, wie die Optimierung von Schlaf kritisch
einzuordnen ist: Und das hängt davon ab, wer schläft.
Für den deutschen Raum verdeutlicht das [6][eine Studie der Universität
Leipzig]. Sie zeigt: dass Frauen im Vergleich zu Männern deutlich häufiger
unter Schlafstörungen leiden; dass Menschen besser schlafen, wenn sie
Abitur haben; dass Berufstätige besser schlafen als Arbeitslose. Was
wiederum weitere Folgen hat, etwa weil Schlaflosigkeit als Risikofaktor für
viele Erkrankungen gilt.
## Ein anderer Schlaf ist möglich
Mit der Frage, wie Schlaf organisiert wird, beschäftigen sich die
[7][critical sleep studies], die kritischen Schlafwissenschaften, eine
Nischendisziplin. Diese Disziplin geht davon aus, dass Schlaf konstruiert
ist, also Normen und Konventionen, die Schlaf regeln, historisch nicht
konstant sind. Ein Beispiel dafür ist der achtstündige Nachtschlaf:
Menschen haben nicht immer die ganze Nacht, sondern in Etappen geschlafen.
Der achtstündige Nachtschlaf ist damit ein vergleichsweise junges Modell,
bedingt durch Industrialisierung und moderne Arbeit.
Das zeigt: Wie wir heute schlafen, ist nur eine von vielen Arten, wie man
ruhen kann. Über die Organisation von Schlaf nachzudenken bedeutet auch,
Arbeit, Pflege, Freizeit und Gesundheit miteinzubeziehen. Ein anderer
Schlaf könnte der Beginn einer gerechteren Gesellschaft sein.
14 Feb 2021
## LINKS
[1] https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/1502/280M9cgqeFQY.pdf?sequence=…
[2] https://www.dak.de/dak/bundesthemen/muedes-deutschland-schlafstoerungen-ste…
[3] https://thenapministry.wordpress.com/
[4] https://twitter.com/TheNapMinistry/status/1347739764724805634
[5] /Kulturwissenschaftlerin-ueber-Sklaverei/!5728681
[6] https://www.uni-leipzig.de/newsdetail/artikel/leipziger-studie-frauen-schla…
[7] https://lareviewofbooks.org/article/sleeps-hidden-histories
## AUTOREN
Simon Sales Prado
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