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# taz.de -- Die Wahrheit: Vom Reichtum der Ereignisarmut
> Das Berliner Institut für Otiumologie erforscht die Langeweile in Zeiten
> von Corona. Es liefert erstaunliche Erkenntnisse über die Ödnis.
Immer mehr Menschen klagen im andauernden Lockdown über tiefgreifende und
fortgesetzte Langeweile; ein ereignisarmes Leben führe zu Geistesträgheit
und Uninspiriertheit, berichten Betroffene. Die Diplompsychologin Rebecca
Schmidt-Kunze hat sich am Berliner Institut für Otiumologie mit diesem
Phänomen beschäftigt und gibt Tipps für den öden Alltag im Shutdown.
Das Institut liegt in einer verschlafenen Seitenstraße Berlin-Wilmersdorfs;
ein unscheinbarer Sechziger-Jahre-Bau, der ebenso gut zu einer Bausparkasse
gehören könnte – wie auch Rebecca Schmidt-Kunze, die uns nach dem Abnehmen
der schlichten OP-Maske mit dem geschulten Lächeln einer Kundenberaterin
begrüßt.
## Therapeutisches Schwammgelb
Die Otiumologie (von Lateinisch otium: Müßiggang, Langeweile) ist eine
recht junge Richtung der Verhaltenspsychologie, erfahren wir, als wir die
in therapeutischem Schwammgelb gehaltenen Flure entlanglaufen. „Wir
beschäftigen uns mit dem Menschen im Ruhezustand“, erklärt Schmidt-Kunze
und lächelt: „Aber bitte nicht verwechseln mit der Somnologie, der
Schlafforschung, das ist was anderes.“
Dabei spielt Schlaf durchaus eine Rolle in der Otiumologie. „Viele Menschen
sehen im Schlafen nur den Superlativ von Langeweile“, bedauert die
Therapeutin. Dabei sei Schlaf vielmehr die Erlösung. Sie fordert daher
einen radikalen Schlafwandel: „Wenn es Ihnen gelingt, Schlafengehen als
Highlight des Tages anzusehen, dann haben Sie selbst im härtesten Lockdown
immer etwas, worauf Sie sich freuen können!“
In therapeutischen Einzel- und Gruppenstudien gehe es oftmals um
Perspektivwechsel. Aber wie sieht das bei chronischer Lockdown-Langeweile
aus? Schmidt-Kunze berichtet aus der Praxis: „Zunächst müssen wir den
Menschen immer wieder sagen: ‚Sie sind nicht langweilig. Die anderen sind
nur einfach interessanter. Aber um die geht es grad nicht.‘“ Die
therapeutische Intervention ziele auf die Stärkung des Selbstbildes, auch
durch eine Orientierung an bekannten Positivbeispielen. „Nehmen Sie Joe
Biden. Er ist das beste Vorbild dafür, dass Langeweile eine ganze Nation
befreien kann!“
## Nichtstun ist kein Gegner
Wir sitzen inzwischen im Behandlungszimmer der Psychologin. „Open boredom!
Freedom for nothing!“, fordert ein Plakat in großen Times-New-Roman-Lettern
hinter ihrem Ikea-Sessel, während Schmidt-Kunze empfiehlt, das Nichtstun
nicht als Gegner anzusehen, sondern anzunehmen wie einen langjährigen
Lebenspartner, auch wenn das in der Praxis für viele bedeuten dürfte, den
Alltag plötzlich mit zwei Schnarchnasen zu teilen.
Natürlich sei es nicht einfach, wenn der Lockdown die Menschen auf sich
selbst zurückwerfe, räumt die Verhaltenspsychologin ein. „Aber nicht immer
ist er die Ursache. Oftmals ist er lediglich Katalysator der
Selbsterkenntnis.“
Wie müssen wir das verstehen?
„Nun, manche Menschen beklagen sich im Lockdown darüber, dass sie plötzlich
alle Originalität verloren haben und nicht mehr witzig sind“, erklärt
Schmidt-Kunze ihren therapeutischen Ansatz. „Dabei sind sie es nie
gewesen.“
Zur Verarbeitung solcher Erkenntnisse werden auch meditative Verfahren
eingesetzt. Dies geschieht in Onlinekursen. „Wer einmal eine zweistündige
Gedankenreise ins Saarland gemacht hat, ist für mindestens zwei Tage gegen
Langeweile immun“, erklärt Schmidt-Kunze das Wirkprinzip. „Nach einer
zweiten Dosis könnte sich sogar ein vollständiger Schutz einstellen!“
Wichtig sei auch für Menschen mit Lockdown-Syndrom, Perspektivwechsel
regelrecht einzuüben. „Mal ein einfaches Beispiel: Sie sind es leid, von
den Politikern seit Monaten immer dasselbe zu hören? Versetzen Sie sich
doch mal in die Rolle der Politiker. Wie muss es erst für die sein, immer
dasselbe zu erzählen?“ Im Rahmen einer imaginationstherapeutischen
Intervention habe sie eine Gruppe einmal angeleitet, sich zwanzig Minuten
in Angela Merkel hineinzuversetzen. „Die Menschen haben geschrien. Das war
für viele sehr heilsam!“
In der Regel reiche es aber, Alltagsroutinen aufzubrechen: „Sie haben es
satt, ständig auf dem Sofa zu sitzen und Netflix zu gucken? Machen Sie mal
was völlig anderes: Schauen Sie die nächste Serie im Stehen! Ihre
Joggingstrecke langweilt Sie? Laufen Sie die nächste Runde einfach mal
rückwärts! Oder schauen Sie Ihre nächste Streaming-Serie rückwärts, währe…
Sie immer um den Fernseher herumjoggen. Der Fantasie sind keine Grenzen
gesetzt.“
## Lockdown braucht Begeisterung
Sie berichtet von einer Klientin, die im Lockdown mit solcher Begeisterung
umgeräumt habe, dass sie daraus ein neues Hobby gemacht habe. „Voll
aufregend!“, findet das die Therapeutin. „Tauschen Sie mit Wildfremden die
Wohnung und gestalten sie neu! Mit etwas Glück sind Sie anschließend auch
noch vierzehn Tage beschäftigt, Ihre eigene Wohnung wieder wohnlich zu
bekommen. Da kommt keine Langeweile auf!“
Wir fragen die Expertin nach ihrem ganz persönlichen Tipp für Menschen, die
Kino, Konzerte und Nightlife schmerzlich vermissen. „Ich kann nur sagen:
Lernen Sie von den Alten! Machen Sie Arzttermine!“ Die Praxen seien auf,
und endlich sei mal Zeit, alles abzuchecken, was man immer schon mal
abchecken lassen wollte. „Mit etwas Geschick haben Sie jede Woche drei
Arzttermine, auf die Sie hinfiebern können! Und in einem Wartezimmer ist
immer was los, das ersetzt jede Absturzkneipe!“, freut sich die
Psychologin, als habe sie uns gerade einen Bausparvertrag verkauft:
„Fußpflege statt Fitnessstudio, ein MRT ist genauso laut wie ein
Heavy-Metal-Konzert, eine Darmspiegelung ist der Escape Room auf
Krankenschein!“
Wem derlei nicht zusagt, kann beim Institut für Otiumologie auch auf ein
umfassendes Bildungsprogramm zurückgreifen. Alle Angebote sind gratis,
digital abrufbar und werden aus Mitteln des Bundesgesundheitsministeriums
finanziert. „Dafür wurden extra ein paar Impfdosen weniger bestellt“, freut
sich die Ödnis-Psychologin.
Die Onlinekurse in Praktischem Müßiggang („Vom Reichtum der
Ereignisarmut“), Kreativer Langeweile („Spiel Gott, erschaffe aus dem
Nichts!“) und „Powerchillen für Hyperaktive“ sind jedoch allesamt
ausgebucht. „Freie Plätze gibt es nur noch für den Kurs ‚Heute schaff ich
mal nix! Prokrastination entdecken und erlernen‘“, wundert sich
Schmidt-Kunze, „dabei ist heute Anmeldeschluss …“
Wir allerdings haben im Institutsprogramm schon weitergeblättert und können
uns nicht so recht entscheiden zwischen dem praktischen Kunstkurs „Ästhetik
der Monotonie. Landschaftsmalerei im Saarland“ oder dem Video-Tutorial „Von
Niklas Luhmann bis Karl Lauterbach – die langweiligsten Redner mit L“. Nur
eins können wir nach dem Besuch im Institut für Otiumologie ganz sicher
sagen: Unsere Langeweile wird morgen schon eine andere sein.
13 Feb 2021
## AUTOREN
Volker Surmann
## TAGS
Die Wahrheit
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