# taz.de -- Die Wahrheit: Angriff der Brüllwürstchen | |
> Bluetoothboxen jugendlicher Parkbesucher stellen ein immer größeres | |
> Problem für die Umwelt dar. Eine Wahrheit-Recherche. | |
Ein lauer Frühsommertag im Stadtpark. Die Sonne nimmt langsam den Horizont | |
in den Blick, die Menschen auf den bunten Decken werfen immer längere | |
Schatten. Der Park ist rappelvoll, und unser Lärmmessgerät zeigt 98 Dezibel | |
an. Arbeitsschutzrechtlich müssten wir bei unserer Recherche Gehörschutz | |
tragen: Gekreische, Gejohle, Gespräche auf Italienisch – einer Sprache, die | |
werksseitig mit 6 Dezibel mehr ausgeliefert wird. | |
Zahllose Bluetoothboxen dröhnen um die Wette. Es konkurrieren Techno, Rap, | |
R’n’B und Deep House. Die grüne Lunge der Stadt röchelt. Zwei Stockenten | |
auf dem Teich nehmen Reißaus und halten ihren Küken die Ohren zu. Wir | |
zählen nicht weniger als 23 Boxen auf einem Hektar Parkfläche. Das ist | |
Rekord. | |
„Wir beobachten diese Entwicklung mit Sorge“, brüllt uns Dr. Severin Flock | |
über die abendliche Kakofonie des Chillens hinweg. Er ist vom Verein | |
Stadtvogelschutz e. V., früher zählte er hier im Park Singvögel und | |
Nistplätze, heute zählt er Brüllboxen. „Es wird echt Zeit, dass die Clubs | |
wieder aufmachen“, schreit Flock, „noch einen Partysommer übersteht die | |
Tierwelt nicht!“ | |
Wildvögel stresst diese Entwicklung. Sie müssen lauter singen, das kostet | |
Kraft. Manche verwirrt die akustische Dauerbeschallung. „Wir haben einen | |
Zilpzalp beobachtet, der singt nur noch ‚Zilp‘, das aber in 120 Beats per | |
Minute!“ Die Entwicklung sei erst wenige Jahre alt, berichtet Flock, als | |
wir den Park verlassen und uns neben einer mehrspurigen Straße wieder | |
normal unterhalten können. „Früher brauchte man für ordentlichen Wumms im | |
Freien noch einen Ghettoblaster, der mit acht Babyzellen bestückt werden | |
musste, die sauteuer und trotzdem sofort alle waren. Und man musste | |
stapelweise CDs einpacken. Da war ein tragbares Grammofon aus den | |
Zwanzigern leichter.“ | |
Zudem kamen Ghettoblaster eher auf Industriebrachen und betonierten | |
Innenstadtplätzen zum Einsatz, wo dann allenfalls ein paar Tauben zu den | |
Tauben zählten. „Nur nach Michael Jacksons ‚Thriller‘ gab es eine kurze | |
Phase, wo gelegentlich Ghettoblaster in Parks gesichtet wurden“, erinnert | |
sich der erfahrene Ornithologe. „Ein paar Kohlmeisen nahmen den Moonwalk | |
sogar ins Balzritual auf.“ Doch sonst blieb es ruhig im Grünen – bis zur | |
neusten Generation von Smartphones und Bluetoothboxen mit | |
Lithium-Ionen-Akku. Seither reicht ein Lautsprecher vom Format eines | |
Grillwürstchens aus, um einen Rave mit satten 110 Dezibel zu veranstalten. | |
## Nachtigall, ick hör dir den ollen Jan Delay zwitschern | |
Die Vogelfauna in Parks ist nachhaltig gestört. „Viele Arten ahmen | |
Geräusche nach, bauen sie in ihre Gesänge ein. Wir wissen von einer | |
Nachtigall, die nach ein paar Partys im Park sang wie Jan Delay. Ein | |
Paarungserfolg stellt sich da natürlich nicht ein.“ | |
Auch Insekten sind betroffen, berichten Entomologen: Ameisen stolpern bei | |
Technobeschallung signifikant häufiger über ihre sechs Beine. Bienen sind | |
im Bereich von Bluetoothboxen desorientiert, wobei Forschungen ergaben, | |
dass sie Deep House stärker verwirrt als Flowerpower. Und Peter Wohlleben | |
schreibt in seinem neuen Bestseller „Die geheimen Ohren der Bäume“, auch | |
stolze Eichen und Platanen würden lieber ihre Wurzeln in die Hand nehmen, | |
anstatt noch eine Stunde länger Teenager zu beschatten. | |
Was aber treibt junge Menschen an, ihre Musik unfiltriert in die Natur zu | |
blasen? Per Videocall befragen wir Dr. Melony Chum, Environmental | |
Behavioristin der Mumford University of Ecology. „Es ist ein paradoxes | |
Verhalten“, erklärt sie das Offensichtliche. „Wir gehen in den Park, um | |
Entspannung und Ruhe zu suchen, und das Erste, was wir machen, ist Lärm. | |
Wieso?“, fragt sich Chum und vermutet archaische Verhaltenswurzeln: „Im | |
Grunde ist es wie bei Hunden, die Bluetoothbox ist das gehobene Beinchen | |
der Heranwachsenden. Eine akustische Urinmarkierung!“ | |
Wenn diese Theorie stimmt, müssten zahlreiche Stadtparks wegen Überdüngung | |
geschlossen werden. Tatsächlich überlegt manches Grünflächenamt, die | |
Benutzung von Bluetoothboxen einzuschränken oder analog zu öffentlichen | |
Grillplätzen akustische Erlaubnisflächen auszuweisen. „Das können gern | |
dieselben Plätze sein, im besten Fall landet dann auch mal eins der Geräte | |
auf dem Grill“, heißt es aus einem Amt hinter hervorgehaltener Hand. | |
Womöglich finden sich auch andere Wege, der Invasion der Brüllboxen Einhalt | |
zu gebieten. Ein Feldversuch mit Störsendern im Park einer deutschen | |
Großstadt führte jedoch zu einem kakofonen GAU, der im Nachhinein als | |
kontrollierte Sprengung einer Weltkriegsbombe umdeklariert werden musste. | |
Auch Jesper Clausen vom Flensburger Institut für Angewandte | |
Schadstoffhysterie arbeitet an diesem Problem: „Wir forschen intensiv | |
daran, herauszufinden, dass Bluetoothverbindungen Krebs verursachen. Wir | |
sind da auf einem guten Weg. Zumindest konnten wir schon nachweisen, dass | |
versehentlich verschluckte Bluetoothboxen Magenkoliken auslösen.“ Bis die | |
Magensäure zu wirken beginne, würden die Lärmemissionen aber um 32 Prozent | |
reduziert. | |
Zurück auf der Wiese im Stadtpark sind wir versucht, dieses | |
Forschungsergebnis gleich in die Praxis umzusetzen. Doch Severin Flock hält | |
uns zurück. Er will mit den Verursachern ins Gespräch kommen. Auf einer | |
Decke treffen wir Kay-Mika, Cecil, Fynn-Baldur und Josefina-Horst. Es | |
braucht nicht viele Blicke auf Style, Haarfarben, Tattoos und Sticker, um | |
herauszufinden, dass wir es mit einer Gruppe ganz normaler, aufgeklärter | |
Jugendlicher zu tun haben. Aus der mitgeführten Bluetoothbox quillt | |
genderfluider Electroclash. Alle sind non-binär, für „Fridays for Future“ | |
und überzeugte Veganer*innen, weil sie für Tierrechte eintreten. Genau | |
dort hakt der gewiefte Umweltpädagoge Flock ein: „Aber haben Wildtiere | |
nicht auch ein angeborenes Recht auf Stille?“, schreit er in die Runde. | |
„Ist es nicht total übergriffig gegenüber Singvögeln, in ihren angestammten | |
Revieren anthropozentristisch motivierten Lärm zu verbreiten?“ | |
Bei den Jugendlichen trifft Flock mit diesem Argument auf zwar taube, aber | |
nichtsdestotrotz offene Ohren. „Ey, das ist ja irgendwie voll kolonial!“, | |
ruft Fynn-Baldur aus, und die anderen gucken sehr erschrocken, ihre | |
Wokeness wackelt. | |
Nach einer zweistündigen Debatte räumen drei der Jugendlichen das Feld und | |
starten eine Onlinepetition, die das Ende von Stadtparks als koloniale | |
Refugien human-normativer Aneignung von Wildtierraum fordert. Nur Kay-Mika | |
hat anders umgedacht und schließt sich einer Gruppe von | |
Rap-Konsument*innen an, die zwei Bluetoothboxen weiter gerade einen | |
Waschbären grillen. „Eine weniger“, freut sich Severin Flock und geht zur | |
nächsten Decke. Auch dieser Weg wird kein leiser sein. | |
12 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Volker Surmann | |
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