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# taz.de -- Die Wahrheit: Bierchen gestrichen
> Die Ausgangssperre gilt bald in ganz Deutschland. In Berlin gibt es sie
> schon längst. Ein erschütternder Erfahrungsbericht.
Bild: Allein auf weiter Flur durch die Nacht ohne Antriebsstoff
Mit der Bundesnotbremse kommt die Ausgangssperre. Mancherorts gilt sie
schon, in der Hauptstadt gibt es derzeit bereits ab 21 Uhr ein
Kontaktverbot für haushaltsfremde Personen. Nur aus triftigem Grund darf
man die Wohnung verlassen. Nach Recherchen der Wahrheit ist in Berlin genau
eine Person von dieser Regelung betroffen: der Tramfahrer Wolfgang D. Wie
fühlt es sich an, ganz allein das Gesundheitsrisiko einer
Vier-Millionen-Metropole zu sein?
Wir treffen Wolfgang D., 52, geschieden, zwei erwachsene Kinder, in seiner
1,5-Zimmerwohnung im Berliner Wedding. „Normal habe ich mich mit ein paar
Kumpels nach Feierabend auf ein Bierchen im Seestern getroffen“, erzählt er
mit trauriger Stimme. „Aber das ist ja nicht mehr.“ Sein bester und wohl
auch einziger Freund arbeitet in einem Supermarkt.
„Der hat immer erst um neun Feierabend. Wir haben uns seit Wochen nicht
gesehen.“ Wolfgang D. mag es nicht zugeben, aber als wir ihn darauf
ansprechen, nickt er: Er ist einsam. Eine Träne gleitet seine Wange so
langsam herunter wie eine Tram über den Alexanderplatz.
Ist das die Intention der Berliner Kontaktbeschränkungen: Menschen noch
einsamer zu machen, als sie es ohnehin schon sind? Wir sprechen mit Dominik
Block. Er ist Pandemieverordnungsreferent der Berliner Senatskanzlei.
Energisch verweist er auf den Regierenden Bürgermeister Michael Müller, der
immer betonte, in Berlin werde es keine Ausgangssperre geben. „Stattdessen
haben wir einfach alle Anlässe untersagt, die ein Ausgehen begründen
würden. Geniale Idee, was?“, freut sich Block. „Raten Sie mal, von dem die
war!“
## 81 Minuten Einschränkung
Die Zeiten seien mit Bedacht gewählt: „Im statistischen Mittel geht man in
Deutschland um 22.21 Uhr ins Bett, liest dann noch 1,3 Minuten und hat
anschließend 1,24 Minuten statistischen Geschlechtsverkehr pro Tag.
Anschließend tritt der Schlaf ein.“ Das derzeitige Kontaktverbot ab 21 Uhr
bedeute also eine Einschränkung von nur 81 Minuten. „Da muss sich schon
jeder fragen: Wie viele Menschenleben sind einem diese 81 Minuten wert?“
Außerdem gebe es ja noch die triftigen Gründe. „Wenn ich Herrn D. einen Rat
geben darf: Er könnte einfach am späten Abend seinen Müll runterbringen.“
Doch das verbietet die Hausordnung. Kein Geklapper mit Mülltonnen nach 20
Uhr. Wolfgang D. ist gewissenhaft, will niemandem zur Last fallen. „Na, er
dürfte auch seinen Hund ausführen.“ Doch Wolfgang D. besitzt nur eine
Schildkröte. „Aber die dürfte er in einen Pappkarton setzen und den dann an
einer Schnur durch den nächstgelegenen Park ziehen. Er dürfte zur Zeit
sogar allein nachts im dunklen Park spazieren gehen.“ Und wenn man dann
überfallen wird? „Dann verstößt der Räuber gegen das Kontaktverbot, wobei
…“ Dominik Block grübelt: „Da müsste man noch überlegen, inwieweit das…
Berufsausübung gehört.“
Wolfgang D. hätte auch gern wieder eine Beziehung neben seiner Schildkröte,
doch mit 52 ist das nicht leicht. „Ich hab mir sogar so ein Profil
angelegt. Bei arme-wurst.com. Hat aber nix gebracht.“ Wolfgang D. seufzt.
Beim Deutschen Institut für Wirtschaftspolitik weiß man um die
stimmungssenkenden Effekte von Ausgangssperren. Gesundheitsökonomin Dr.
Margit Ritter empfiehlt sie der Bundesregierung trotzdem.
„Mobilfunkdatenauswertungen zeigen, dass bei niedergeschlagenen Menschen
die Bewegungsprofile viel eingeschränkter sind.“ Ein Plus an Depressionen
sei in der Pandemiebekämpfung zielführend. Das sei in der
Ministerpräsidentenkonferenz auch immer Konsens gewesen: „Die endgültige
Zermürbung Deutschlands ist ihr Auftrag.“
## Lichtblick im Alltag
Aber wäre es nicht viel effektiver, im Wirtschaftsleben endlich
Schutzmaßnahmen für die Mitarbeitenden zu erzwingen? Margit Ritter
schüttelt energisch den Kopf: „Aber nein! Die Leute sollen doch gern zur
Arbeit gehen, die ist doch der einzige Lichtblick in ihrem trüben Alltag!
Wenn meine Kollegen die letzten Sozialkontakte sind, die ich habe, mach ich
doch gern mal ein paar Überstunden! Deshalb müssen wir das Privatleben noch
stärker einschränken!“
Wolfgang D. guckt nur noch traurig, wenn er solche Überlegungen hört. Auf
seine Schultern muss man nichts mehr bürden, sie hängen ohnehin tief. „Ich
will nicht mehr. Ich hab mir einen Strick bestellt“, erzählt er mit leiser
Stimme. „Bei killyourself.com. Gegen Vorkasse …“
Wir sind schockiert, doch Wolfgang D. ringt sich ein heiseres Lachen ab.
„Aber keine Sorge, das wird nix.“ Das Paket sei bei der Nachbarin abgegeben
worden, und die arbeitet Schichtdienst im Krankenhaus, kommt immer erst
spät heim. „Und nach 21 Uhr darf ich ja gerade nicht mehr rübergehen.“
Dominik Block zeigt sich erfreut: „Na sehen Sie: Das ist der Beweis, die
Maßnahmen wirken. Die Kontaktsperre rettet Menschenleben!“
20 Apr 2021
## AUTOREN
Volker Surmann
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