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# taz.de -- Die Wahrheit: Das geheime Sterben der Bäume
> Florale Sterbebegleitung und Beisetzungen aller Art: Besuch bei einer
> Bestatterin auf einem Pflanzenfriedhof. Der Trend zieht Kreise.
Bild: Warten auf den Torf: Gräber in El Salvador
Martha L. muss gestützt werden, als sie ans offene Grab tritt. „Aus Erde
bist du gekommen, auf Erde bist du gewachsen“, hören wir die sonore Stimme
eines Pfarrers, „zu Erde sollst du wieder werden.“ Martha L. weint nun
hemmungslos und lässt ein paar vertrocknete Blätter in die Grube rieseln.
Wir befinden uns im „Ewigen Garten“, Deutschlands erstem Pflanzenfriedhof,
und wohnen der Beisetzung eines Ficus bei. Als nun ein Trauertrompeter eine
wehmütige Version von „[1][Mein Freund der Baum ist tot]“ anstimmt, ziehen
wir uns dezent zurück. „Der Titel ist sehr beliebt“, flüstert uns Cordula
Grapp zu, „gefolgt von ‚[2][Where Have All the Flowers Gone?‘]“
Grapp ist Florapsychologin und Inhaberin des Bestattungsinstituts „Der
schwarze Daumen“. Sie betreibt dieses in Europa einzigartige Projekt im
nunmehr fünften Jahr. Sie führt uns über das schmuckvoll angelegte
Friedhofsgelände in Berlin-Spandau. Auf einigen Gräbern stehen schlichte
Steine. Auf jedem zweiten steht etwas wie „Mein geliebter Ficus Benjamini
(2007–2016)“.
„In der Tat“, sagt Grapp, „sind die meisten hier beigesetzten Pflanzen
Ficusse, dicht gefolgt von Yucca-Palmen. Aber wir setzen alles bei: von
Primel bis Platane.“
## Der Ficus bleibt
Leonhard Fuchs gesellt sich nun zu uns, noch im Talar. Der pensionierte
Pfarrer erklärt uns, wieso er hier Sterbebegleitung für Topfpflanzen
anbietet: „Gerade Großstädte sind Horte der Einsamkeit“, führt er aus. F…
viele Menschen sei die Zimmerpflanze der einzige Sozialkontakt, den sie
hätten. Solch eine Beziehung sei langlebig. „Hunde oder Hauskatzen sterben
nach zehn bis fünfzehn Jahren. Ein Ficus begleitet Sie bei guter Pflege Ihr
Leben lang. Wenn er dann doch irgendwann welkt, will man sich natürlich in
Würde verabschieden.“
Neben Erdbeisetzungen bietet das Institut auch Feuer- und
Kompostbestattungen an, sowie die Tierbestattung. Sind wir etwa doch auf
einem Tierfriedhof gelandet?
„Nein, es ist eine Beisetzungsform“, erläutert Frau Grapp. „Wir orientie…
uns da an der tibetanischen Himmelsbestattung, bei der der menschliche
Leichnam feierlich aufgebahrt und den Geiern übergeben wird, sich die
sterblichen Überreste somit erheben in den Himmel.“ Nur dass der Himmel
hier die Grasnarbe ist und die Geier zwei Sumpfschildkröten namens Emma und
Heinz-Günter.
## Ein Salat namens Einstein
Das wollen wir uns ansehen. Pünktlich um 14 Uhr begegnen wir dem
siebenjährigen Mika und seinem Vater Jonas. „Es war so ein Schulprojekt:
Salat ziehen. Fanden wir auch gut“, erklärt der 38-jährige Kulturredakteur
einer linken Wochenzeitung. „Nur denkt so was ja niemand zu Ende! So einen
selbst gezogenen Salat, den kann man doch nicht einfach essen. Der hat ja
nicht mal ein Biosiegel!“
Dann der Schicksalsschlag. Ein Fußball fiel ins Salatbeet, der Kopf war ab.
„Mika war untröstlich, dass er den Ball nicht gehalten hat. Er stand im
Tor.“
Mika nickt traurig, eine einsame Träne kullert seine Wange runter, er trägt
den leicht welken Kopfsalat in den Händen. „Er hieß Einstein. Weil er so
einen großen Kopf hat.“
## 400 Euro, ein Pappenstiel
Doch dann hörte der Vater vom „Ewigen Garten“, man entschied sich zur
feierlichen Beisetzung des Unfallopfers. „Mika wollte, dass sein Salat zu
etwas nütze ist, deshalb entschieden wir uns für die Tierbestattung“,
erklärt der Vater. „Es ist wichtig, dass Kinder ein gesundes Verhältnis zur
Natur erhalten.“
Noch während Leonhard Fuchs seine Ansprache hält, machen sich Emma und
Heinz-Günter über Einstein her. Vater und Sohn halten sich an den Händen.
Knapp 400 Euro kostet eine solche Beisetzung. „Aber das ist uns diese
Naturerfahrung wert. Der Mika bezahlt das auch von seinem Taschengeld“,
berichtet der Vater stolz und ergänzt: „Und vielleicht ist ihm das auch
eine Lehre, als Torwart nicht immer vor sich hin zu träumen.“
Cordula Grapp kennt die unterschiedlichsten Motive für eine florale
Beisetzung: „Wir vom ‚Schwarzen Daumen‘ versuchen, auf alle Wünsche der
Trauernden einzugehen.“ Man veranstalte sogar Beisetzungen mit ganzen
Bürogemeinschaften. So setze eine Umweltpartei aus Berlin-Mitte hier
regelmäßig vertrocknete Monstera bei.
Auch sei man der einzige Friedhof Deutschlands, der eine Bestattung zur
Reinkarnation anbiete. Wie das? Grapp führt uns an ein Grab, auf dem ein
paar junge Obstbäume sprießen. „Hier hat ein Frutarier vor drei Jahren all
seine Pfirsich- und Apfelkerne beigesetzt.“
## Nicht im Holzsarg
Wir kommen an einer gusseisernen Feuerschale vorbei, davor eine schwarze
Parkbank. „Hier finden die Feuerbestattungen statt.“ Eine Feuerbestattung
für einen Baum? „Ja“, bestätigt Cordula Grapp: „Da kann man sehr lange …
sehr gründlich trauern. Aber man hat’s schön warm dabei.“
Beliebter sei, wie in Deutschland üblich, jedoch die Erdbestattung.
„Natürlich nicht im Holzsarg, das wär ja widersinnig.“ Apropos widersinni…
wollen wir wissen, die Gräber der Pflanzen, werden die denn wieder
bepflanzt? Grapp nickt: „Es ist ein ewiger Kreislauf.“
Allerdings nehme man auf die jeweilige Pflanzenpsychologie Rücksicht.
Chrysanthemen seien zum Beispiel völlig ungeeignet für Trauerfälle, da sie
sehr lebensbejahend seien. Rosen hingegen seien von Natur aus morbid
veranlagt und blühten erst auf Friedhöfen richtig auf, Sonnenblumen seien
sogar regelrecht depressiv: „Ständig lassen sie ihre Köpfe hängen, sie
lieben Gräber!“
Wir haben unseren Rundgang im „Ewigen Garten“ beendet. Am Friedhofstor
erwartet uns ein vielleicht 14-jähriger Junge mit Skateboard und einer
vertrockneten Yucca-Palme unter den Armen. „Hier, will ich begraben.“
„Die ist ja vertrocknet“, stellt Cordula Grapp fest: „Wie kann denn so was
passieren?“
„Nie gegossen“, nuschelt der Junge, aber die Pflanzenpsychologin gibt sich
rigoros: „Mordopfer bestatten wir nicht. Aber da vorne steht eine
Biotonne.“
## Gewalt gegen Pflanzen
Der Junge zuckt mit den Schultern, verklappt das traurige Pflanzengerippe
in der braunen Tonne und rollt von dannen. „Ein Unding!“, regt sich die
Bestatterin auf, dass die Verwahrlosung von Tieren in Deutschland
inzwischen unter Strafe stehe, man Zimmerpflanzen aber immer noch jede
Grausamkeit antun dürfe. „Neulich sollten wir einen ertrunkenen Kaktus
beisetzen. Ertrunken!“ Weil angeblich die Waschmaschine ausgelaufen sei.
„Aber wer stellt denn einen neben die Waschmaschine? Ich bin sicher, eine
Obduktion hätte eine Überdosis H2O ergeben!“
Grapp geht zur Biotonne und zieht die vertrocknete Yucca heraus. „Mal
sehen“, murmelt sie, „mit etwas Wasser und gutem Zureden treibt sie
vielleicht noch mal aus.“ Yucca-Palmen seien nämlich so etwas wie die
Katzen der Zimmerflora, sie hätten mehrere Leben.
Wir drücken ihr den Daumen – möge er in diesem Fall grün sein und nicht
schwarz.
10 Aug 2020
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=ZWOz6NcAVOk
[2] https://www.youtube.com/watch?v=bI3QVsW30j0
## AUTOREN
Volker Surmann
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