| # taz.de -- Die Wahrheit: Mundraub auf der Nacktwiese | |
| > Schweine vom Waldsee: An einem Berliner Badesee mit angeschlossener | |
| > Freikörperkultur (FKK) geht es tierisch hoch her. | |
| Bild: Will auch nur Nackte sehen: Berliner Wildschwein | |
| Die Natur rückt dem Menschen immer näher auf die Pelle. Wildschweine sind | |
| mancherorts zur Plage geworden, durchwühlen Gärten und Mülltonnen. Nun | |
| gehen die Borstentiere einen Hufschritt weiter. Eine Rotte im Berliner | |
| Grunewald hat sich darauf spezialisiert, Nacktbadenden am Teufelssee am | |
| helllichten Tag ihren Proviant zu klauen. | |
| Wir begleiten Oberforstinspektor Tronte Fleischer bei seinen Ermittlungen. | |
| Er ist Diplomporcologe und führender Verhaltensforscher der | |
| Wald-und-Wiesen-Direktion Berlin-West. Morgens um fünf legen wir uns auf | |
| die Lauer. Noch zieht sachter Morgennebel über die Wiese. Ein paar | |
| Wildschweine suhlen sich in Lehm und Tau und hinterlassen ihre Losung im | |
| Gras – normales Wildschweingeschäft. | |
| Bald erreichen die ersten Sonnenstrahlen die Lichtung am Waldsee und | |
| brechen sich in den Hightechtextilien vorbeijoggender Zahnarztgattinen. Der | |
| erste Nacktbadende bezieht sein Revier. „Das ist Kurt“, raunt uns Fleischer | |
| zu. „Als Nacktbadegast hier heimisch seit circa 1985. Seine Liege steht auf | |
| den einzigen zwei Quadratmetern, die garantiert von 7 bis 17 Uhr nicht | |
| beschattet werden.“ Kurts Haut gleicht der von dunkelgegerbten | |
| Lederslippern, Hautkrebs hat da keine Chance mehr. Die Wildschweine haben | |
| sich mit Kurts Ankunft verzogen. | |
| Ein paar Stunden später: Die Wiese ist gefüllt mit der Berliner Mischung | |
| aus alteingesessenen FKK-Fans, Schwulen und Hipstern. Seit er im | |
| alternativen Reiseführer Lonely Planet empfohlen wurde („must-see for | |
| berlin nudity“; Platz 2 nach dem KitKat-Club), ist dieser See auch bei | |
| Partyhipstern und Expats beliebt. | |
| ## Fleischer ist irritiert | |
| „Bald müsste es so weit sein“, flüstert uns Fleischer zu. „Ist das denn | |
| normal, dass die sich hier so zeigen?“, wollen wir wissen. | |
| „Ich glaub ja nicht, dass man sich so zur Schau stellen muss“, grübelt der | |
| Oberforstinspektor. „Da kann man ja alles sehen. Das ist doch nicht schön | |
| …“ | |
| „Wir sprachen nicht von FKK.“ – Fleischer ist kurz irritiert, fängt sich | |
| aber schnell: Dass die Wildschweine hier zuschlügen, sei nicht | |
| verwunderlich. Die klugen Tiere hätten ein Gespür dafür, dass dies Menschen | |
| im Naturzustand sind, zumal die Nackten ja gerade ihre nächtliche Losung | |
| platt lägen. Vor Joggern in neonfarbener Laufsynthetik ergriffen sie | |
| hingegen instinktiv die Flucht. | |
| ## Man hört Stöhnen | |
| Zwei Vollbartträger verziehen sich gemeinsam ins Gebüsch. Kurz fürchten | |
| wir, dass unsere Deckung auffliegt, doch ein paar Meter vor unserem | |
| Versteck verharren sie. Wir hören sie stöhnen. Nach ein paar Minuten fliegt | |
| uns ein Kondom vor die Füße. | |
| „Verdammte Schweine“, zischt Fleischer und birgt das Latex delicti vom | |
| Waldboden. „Igel schlecken die gern aus“, erklärt er. „Aber zu oft bleib… | |
| sie mit ihrer kegelförmigen Schnauze im Gummi hängen und verenden | |
| jämmerlich. Denkt auch niemand dran beim Quickie im Grünen.“ Grummelnd | |
| widmet er sich wieder seinem Fernglas. „Pssst, da tut sich was!“ | |
| Aber das „Pssst“ ist völlig unnötig. Samstagnachmittag, 15 Uhr, da ist die | |
| Wiese am Teufelssee so ruhig und idyllisch wie der Pausenhof einer | |
| Förderschule für ADHS-Kinder. | |
| ## Fight mit dem Diebesgut | |
| „Wohl noch ein Jungtier!“ Kakofonisch unbeeindruckt tapst eine Wildsau auf | |
| die Liegewiese, trottet zur nächstgelegenen Picknickdecke und schnappt sich | |
| eine, noch in einer Tüte verpackte Wassermelone. Noch bevor die | |
| Sonnenbadenden den Mundraub realisiert haben, ist das Tier in einen Fight | |
| mit dem Diebesgut eingetreten, der erinnert an einen Mix aus Balzkampf, | |
| Fußball beim SC Paderborn und Hammerwurf. | |
| „Es ist unglaublich!“, jubelt Fleischer neben uns. „Das ist fast dieselbe | |
| Wurftechnik wie bei der usbekischen Hammerwerferin Olga Knawczienkowa bei | |
| der WM ’98!“ Die hätte sich im vorletzten Versuch die Schulter ausgekugelt | |
| und warf den letzten Wurf mit den Zähnen. „’Tschuldigung, Hobby von mir �… | |
| Wir beobachten das Borstentier: Sein Rückenfell weist einen leichten Iro | |
| auf und passt gut zur anwesenden Hipster-Community. Selbst den | |
| obligatorischen Schnauzbart kann man beim Schwein ausmachen. Wir deuten auf | |
| die Szene: „Ist das normal?“ | |
| „Normal wäre Flucht“, sagt Fleischer. Das aber hat die Sau aber nicht | |
| getan. | |
| ## Die Sau als Influencerin | |
| „Wer redet von der Sau?“ Der Oberforstinspektor deutet auf die Traube von | |
| Badegästen, die allesamt ihre Handys gezückt haben und den Clip, mit | |
| entsprechenden Clickbaits versehen, bald viral gehen lassen werden: | |
| „Plötzlich stand das Wildschwein auf unserer Picknickdecke und was dann | |
| geschah, ist einfach unglaublich.“ Die Sau als Influencerin. „Was ist denn | |
| das für ein Scheißwald hier!“, flucht gerade ein Kerl mit pastellblauem | |
| Dutt: „Die Uploadrate is’ voll lame!“ | |
| Das Borstentier schaut kurz auf, scheint zu überlegen, ob der tätowierte | |
| Unterschenkel des Fluchenden nicht ein attraktiveres Futter ist als eine | |
| plastikverpackte Melone. | |
| „Wenn ein Wildschein seine Hauer in Ihre Wade rammt, stehen die Chancen | |
| nicht schlecht, dass Sie noch im Wald verbluten“, erklärt uns | |
| Forstinspektor. „Es kommen in Deutschland jährlich mehr Menschen durch | |
| Wildschweine um als …“ – „… bei Polizeieinsätzen?“, helfen wir aus. | |
| Fleischer nickt. | |
| ## Drache im Feldstecher | |
| Wir betrachten den gehipsterten Unterschenkel im Feldstecher: ein | |
| feuerspuckender Drache mit Elfenohren. Na, der dürfte unseretwegen auch | |
| Blut spucken – ein interaktives 3D-Tattoo. Doch so weit kommt es nicht. | |
| Nach Verputzen der Melone zieht sich das Wildschwein unter Beifall der | |
| Umstehenden zurück ins Unterholz. „Aber weit wird es nicht sein …“ | |
| So werden wir eine Stunde später Zeuge, wie sich zwei Tiere durch | |
| schweinenackenhohes Gras an die nächste Picknickdecke anpirschen und ein | |
| paar quiekenden Expats die Tupperdosen entführen. Kann man da schon von | |
| Dressur sprechen, fragen wir den Experten. Berlins neue Attraktion: die | |
| dressierten Wildsäue vom Teufelssee? | |
| Wie wir auf die Idee kämen, dass die Wildschweine die Dressierten seien? | |
| Der Verhaltensporcologe klärt uns auf: Wildschweine sind hochintelligent, | |
| ihr Sozialleben ist ausgefeilt, man solle eher davon ausgehen, dass sie | |
| gerade dabei seien, die Nackten hier zu dressieren. | |
| ## Einen in der Baumkrone | |
| Es bleibt an diesem Tag bei zwei Beutezügen der Rotte. Als die Sonne sich | |
| hinter die Baumkronen verzieht, verbleiben nur ein paar Partygrüppchen auf | |
| der Wiese. Bierflaschen und Joints kreisen. Wir brechen auf. Tronte | |
| Fleischer schüttelt den Kopf: So nah seien die Wildschweine dem Menschen | |
| noch nie gekommen. „Wo soll das noch hinführen?“ | |
| Am Rand der Lichtung kommt uns ein etwas desorientierter Lieferando-Radler | |
| entgegen. Ob wir acht Pizzen bestellt hätten? Wir schütteln den Kopf und | |
| sehen ihm nach, wie er etwas hilflos über die Wiese tapst. Da löst sich | |
| eine Rotte Wildschweine aus dem Unterholz und läuft freudig grunzend auf | |
| ihn zu. | |
| 27 Jul 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Volker Surmann | |
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