| # taz.de -- Die These: Wer Parks vermüllt, knechtet andere | |
| > Das Leben in der Coronazeit spielt sich draußen ab. Und dort ist es | |
| > dreckig geworden. Die Menschen haben kein Verhältnis mehr zu ihrer | |
| > Außenwelt. | |
| Bild: Ende eines Picknicks im Park | |
| Es muss Gründe geben, warum Leute sich in Parks legen, mitunter mitten | |
| hinein in ein Meer von Müll: Flaschen, Büchsen, Plastikbecher. Pappteller, | |
| auf denen der Ketchup klebt, Grillreste in Alu, Krähen stochern darin | |
| herum. Plastikdosen mit Kartoffelsalat, angebissenes Brot, | |
| Zigarettenschachteln, Hundekottüten. Schon die Aufzählung ist eine | |
| Zumutung. | |
| Straßen und Parks, vor allem in deutschen Städten, sind vermüllt. Auch | |
| Picknickplätze im Wald. Menschen verbringen ihre Zeit dort, bringen Essen | |
| und Getränke mit, spielen, rauchen, reden – und wenn sie gehen, lassen | |
| viele ihren Müll zurück. Auch Sperrmüll wird wild abgeladen. Auf Plätzen, | |
| am Straßenrand. Sofas, Kühlschränke. Kanister mit irgendwas. Niemand | |
| sieht’s. Wenn doch, scheint es zwecklos, zu intervenieren. Der | |
| Selbstgerechtigkeitspegel derer, die Müll abladen, ist hoch. Jetzt in der | |
| Pandemie sei es mehr geworden, klagen viele Kommunen. | |
| Kürzlich postete der Pianist Igor Levit auf Twitter eine [1][Filmsequenz:] | |
| Auf und entlang einer halbhohen Mauer, die eine Skateanlage umgibt, liegt | |
| Müll, abgestellt, als wäre es urbane Deko. Im Hintergrund | |
| Spatzengezwitscher und Glockengeläut. Die Sequenz, vermutlich aus Berlin, | |
| („Paris“? fragt auch jemand), ist nur einer von vielen Posts in sozialen | |
| Medien, die Abfall in der (Stadt-)Natur zeigen. | |
| Unter den fast 400 Kommentaren zu Levits Post sind etliche, die das Video, | |
| wie [2][Knightly_Chris], als „Outdoor-Shaming 2.0“ deklarieren und so zu | |
| verstehen geben: Nicht der zurückgelassene Müll ist das Problem, sondern | |
| Levit, weil er es postete. Viele Kommentierende entschuldigen die | |
| Vermüllung, weil im Filmausschnitt kein Mülleimer zu sehen ist. | |
| ## 800 Millionen Euro jährlich für die Müllbeseitigung | |
| Und wären doch welche da, die aber voll sind, sei es okay, den Müll daneben | |
| zu stellen, schreiben manche. Einige schimpfen auf die Kommunen, die nicht | |
| adäquat sauber machen. Dass diese bereits [3][800 Millionen] Euro für die | |
| Beseitigung jährlich zahlen, steht nicht da. | |
| Wenige stellen die Frage, warum der anfallende Müll nicht wieder | |
| mitgenommen wird. Einer verweist auf ganz große Widersprüche: Atommüll in | |
| die Landschaft kippen sei okay, sich dann aber über abgestellte Flaschen | |
| aufregen. Diese Überlegung ist opportun – und eine Rechtfertigung fürs | |
| Vermüllen, die nicht weiterbringt. Als wäre die Vermüllung die Rache der | |
| Machtlosen. | |
| In vielen Kommentaren jedenfalls klingt es so: Es gibt ein Recht auf | |
| Vermüllung des öffentlichen Raums, wenn auch unterschiedlich begründet. Die | |
| Frage, warum, – warum verdrecken Menschen ihre Stadt, ihre Parks, ihre | |
| Natur? – wird nicht gestellt. Und auch die Forschung dazu scheint mager. | |
| Laut Studien der [4][Humboldt-Universität] sind es vor allem junge | |
| Erwachsene bis 30 Jahre, die Müll in die Gegend werfen. „Littering“ heißt | |
| das im Fachjargon. Bei Menschen über 50 sei die Tendenz, dies zu tun, aber | |
| auch wieder steigend. | |
| Manche Vertreter der kommunalen Verwaltungen sagen, mehr Müll lande im | |
| öffentlichen Raum, weil der Verpackungswahn zugenommen habe. Das erklärt | |
| aber nicht, warum die Leute in der Lage sind, ihr Zeug in die Parks zu | |
| tragen, nur die Reste eben nicht zurück. Allein der Gedanke, es sei normal, | |
| den Abfall mitzunehmen, wirkt schon wie eine Anmaßung. Als würde erwartet, | |
| dass die Gemeinschaft, der der Müll vor die Füße gekippt wird, dazu da ist, | |
| ihn wegzuräumen. | |
| Immerhin die Theorie des „[5][broken window“], des Mitmacheffekts im | |
| Negativen, wurde wissenschaftlich untersucht. Wo ein Fenster zerbrochen | |
| ist, ziehe dies weitere Verwüstung nach sich. Als wäre das zerbrochene | |
| Fenster eine Einladung, sich unsozial zu verhalten. Dieser Effekt komme | |
| auch zum Tragen, wenn Menschen ihren Unrat neben schon herumliegenden Müll | |
| legen. Wo eine Tüte Abfall steht, kann auch eine zweite stehen. So wird das | |
| Tun gerechtfertigt. Und immerhin, das ist schon mal eine Antwort auf die | |
| Frage, warum die Stadt so vermüllt ist. | |
| Aber wieso wird, was allen gemeinschaftlich gehört, derart gering | |
| geschätzt? Wieso ist es den Leuten egal, wie die, die nach ihnen kommen, | |
| den Ort vorfinden? Auf der Suche nach Erklärungen schreibt [6][Andrea | |
| Seibel] einen bemerkenswerten Satz dazu in der Welt: „Der Müll, das | |
| Wegwerfen, ist ein Sinnbild des instrumentellen Verständnisses vieler zum | |
| Leben, unter Inkaufnahme der Hässlichkeit.“ | |
| Die gesellschaftliche Entwicklung hin zum Individualismus, mit gepredigter | |
| Selbstoptimierung und Selbstverantwortung fördert jene Form des Egoismus, | |
| des „instrumentellen Verhältnisses zum Leben“, die es möglich macht, das | |
| andere und die anderen auszublenden, sie nicht als Gegenüber, bestenfalls | |
| als Funktionsträger wahrzunehmen. Wer den anderen Müll vor die Füße wirft, | |
| wirft ihnen im übertragen Sinne den Fehdehandschuh zu. Der Stärkere siegt. | |
| Hierarchische Muster spiegeln sich in dieser Haltung: Die Gemeinschaft ist | |
| der Knecht. Ein Gefühl, Teil der Gesellschaft zu sein, für die | |
| Verantwortung übernommen werden muss, fehlt. | |
| Nur, noch einmal: Wie konnte es soweit kommen? Die Ökonomisierung aller | |
| Lebensbereiche mag damit zusammenhängen. Jeder ist sich selbst der Nächste. | |
| Und everybody is a star. Man könnte jetzt sagen: Verfehlte | |
| Integrationspolitik, die ganze Gruppen in eine Parallelwelt katapultiert, | |
| könnte ebenfalls eine Antwort sein. Das mag auch für die Parallelwelten | |
| gelten, in der sich ganze Hartz-IV-Generationen eingerichtet haben. Denn | |
| wer sich mit dem Ort, wo er lebt, nicht identifizieren kann, braucht auch | |
| dessen Schönheit nicht. | |
| Aber diese Argumentation könnte eine Denkfalle sein, denn es sind doch vor | |
| allem junge Erwachsene – egal welcher Herkunft und Schicht – die als | |
| Hauptgruppe der Vermüller ausgemacht wurden. | |
| Ob diese den herumliegenden Dreck überhaupt wahrnehmen, ist ohnehin unklar. | |
| Möglicherweise sehen sie den Müll nicht, weil sie sich die Umgebung, in der | |
| sie sich aufhalten, auf dem Smartphone anschauen. Da kann Störendes | |
| entfernt werden. Sei es durch Software oder den Ausschnitt, der gewählt | |
| wird. Ein Klick und die Umgebung ist rein. Wem das zur Gewohnheit wird, der | |
| kann vermutlich auch mental retuschieren. | |
| ## Die Offline-Außenwelt ist weniger interessant | |
| Laut einer aktuellen [7][Studie] nutzen 97 Prozent aller Jugendlichen das | |
| Internet. Ihre durchschnittliche tägliche Verweildauer: 258 Minuten. Manche | |
| Jugendliche sind länger online statt offline. Die starke Überlappung der | |
| digitalen und nichtdigitalen Erlebnisweisen verschiebe dabei die | |
| Wahrnehmung von Raum und Zeit, Nähe und Distanz, Innen und Außen, meint die | |
| Sozialpsychologin und Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts [8][Vera | |
| King]. Oftmals werde die Online-Innenwelt als emotional bedeutsamer und | |
| näher wahrgenommen; die Offline-Außenwelt als weniger interessant. Vernetzt | |
| sein stelle nun Verbundenheit her. Das verändere auch die Verbundenheit in | |
| der Präsenz, sagt King. | |
| Vielleicht ist das die heißeste Spur, die zeigt, wie die Gesellschaft sich | |
| ändert und wie sich in der Folge auch unser Bezug zur ihr wandelt. Es muss | |
| ein neues Verständnis dafür geschaffen werden, dass es eine Außenwelt gibt, | |
| die mitgestaltet werden muss. Damit Außenwelt nicht gleichgesetzt ist mit | |
| Abwesenheit. Denn nur im Abwesenden ist es egal, ob der Park eine | |
| Mülldeponie ist. | |
| Und ja, es gibt auch eine Gegenbewegung gegen die Vermüllung. Da sind | |
| Leute, die den Dreck nicht mehr sehen können. Junge Leute sind darunter. | |
| Digital natives auch. Die Facebook-Gruppe „[9][Die Aufheber“] dokumentiert | |
| das, was diese Leute tun: eben den Müll aufsammeln. Eigentlich könnten sie | |
| mit ihrer Zeit auch etwas Schöneres anfangen. In der Hierarchie der | |
| Vermüllung der Umwelt sind sie die Loser. Aber solche, die einen Schritt | |
| weiter sind. | |
| 23 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/igorpianist/status/1391299441685114880 | |
| [2] https://twitter.com/knightly_chris/status/1391697735875706881 | |
| [3] https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-4531.… | |
| [4] https://www.vku.de/fileadmin/user_upload/Verbandsseite/Presse/Pressemitteil… | |
| [5] https://www.staaken.info/wordpress/wp-content/uploads/2019/09/VKU_Broschuer… | |
| [6] http://:file:///C:/Users/Praxis%20Sch%C3%B6tz/Documents/taz/Der%20M%C3%BCll… | |
| [7] https://de.statista.com/themen/2662/mediennutzung-von-jugendlichen/#dossier… | |
| [8] https://www.fb03.uni-frankfurt.de/83978698/Prof__Dr__Vera_King | |
| [9] https://www.facebook.com/groups/656402467835798 | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Müll | |
| Umwelt | |
| GNS | |
| Alltagsleben | |
| Monika Herrmann | |
| Plastik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Alltag in Coronazeiten: Matratzen, setzt doch uns vor die Tür! | |
| Die Polsterflächen sind die Gewinner und die Verlierer der Pandemie. Auf | |
| den Spuren einer verhängnisvollen Matratzisierung unseres Selbst. | |
| Innenstadt-Probleme in Berlin: Hotspots der Verwahrlosung | |
| Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg beklagt zunehmende | |
| Verwahrlosung. Längst wird nicht nur in der Gegend um den Görlitzer Park | |
| gedealt. | |
| Verbot für Einwegplastik im Kabinett: Pommes ohne Plastikgabel | |
| Die Bundesregierung bringt eine EU-Richtlinie auf den Weg, die | |
| Einwegprodukte aus Kunststoff verbietet. Verbände und Experten kritisieren | |
| die zu lasche Umsetzung. |