# taz.de -- Minderheitssprachen sterben aus: Welt ohne Kook und Leev | |
> Unsere Autorin ist mit Plattdeutsch aufgewachsen, einer Sprache, die | |
> ausstirbt. Eine Studie untersucht, warum immer mehr Idiome verschwinden. | |
Bild: Wenn eine Sprache verloren geht, ist das immer auch ein Verlust von kultu… | |
Denke ich an Kinder, die zweisprachig aufwachsen, fallen mir | |
Prenzlauer-Berg-Familien ein: Die dreijährige Paulina lernt bereits im | |
bilingualen Kindergarten Spanisch. Weil das Paulinas | |
[1][Konzentrationsfähigkeit fördert, weil das ihre Chancen auf dem | |
Arbeitsmarkt vergrößert] und weil man das den anderen Eltern erzählen kann: | |
„Wie? Dein Kind spricht nur deutsch?“ Als nächstes denke ich an Kinder, die | |
zu Hause mit ihren Eltern türkisch, arabisch, russisch oder polnisch | |
sprechen – auch sie wachsen zweisprachig auf. | |
Von Frühförderung und Chancen auf dem Arbeitsmarkt ist da aber nicht die | |
Rede, eher hört man „Integrationsprobleme“. Nicht jede Sprache scheint | |
gleich viel wert zu sein, nicht jede Bilingualität eine, mit der es sich zu | |
brüsten lohnt. Denke ich an zweisprachig aufgewachsene Kinder, denke ich | |
zunächst nicht an mich. Denn Plattdeutsch, die Sprache meiner Heimat | |
Ostfriesland, die Sprache meiner Großeltern, ist mir hier in Berlin so | |
wenig präsent wie die Nordsee und der Deich. | |
Weltweit gibt es rund 7.000 anerkannte Sprachen. Laut einer Untersuchung | |
der Australian National University ist etwa jede zweite Sprache bereits | |
gefährdet, jede fünfte vom Aussterben bedroht. „Ohne Intervention könnte | |
sich der Sprachverlust innerhalb von 40 Jahren verdreifachen, wobei | |
mindestens eine Sprache pro Monat verloren gehen wird“, schreiben die | |
Autor:innen. Wenn eine Sprache verloren gehe, sei das immer auch ein | |
Verlust von kultureller Vielfalt. | |
In Deutschland sprechen laut Unesco immer weniger Menschen bayerisch, | |
alemannisch, ostfränkisch, rheinfränkisch, moselfränkisch, niedersächsisch, | |
limburgisch-ripuarisch, sorbisch oder jiddisch. Als ernsthaft bedroht | |
gelten Nordfriesisch und Saterfriesisch sowie Jütländisch. Stirbt | |
Plattdeutsch etwa auch bald aus? Vielleicht, denke ich. Plattdeutsch, das | |
ist meine Oma, die mich „mien Tüütje“ (mein Schatz) nennt und mein Opa, d… | |
vor dem gemeinsamen Essen stets ungeduldig „Mohltied!“ (Mahlzeit) rief. Opa | |
ist längst gestorben und Oma ist mittlerweile über 80 Jahre alt. Mit ihnen | |
verlassen Worte wie Appelboom, Kook und Leev die Welt, meine Welt. | |
## „Ik hau di blau“ | |
Mein Vater und seine Geschwister wuchsen auf mit Platt, Hochdeutsch wurde | |
erst auf dem Gymnasium konsequent gesprochen. Platt war zu Hause, war | |
vertraut. Und Platt war und ist für meine Oma, die auf dem Bauernhof groß | |
wurde und nie eine weiterführende Schule besucht hat, schlicht und einfach | |
Sprache. Eine Sprache, auf der man ganz wunderbar fluchen kann, wie mein | |
Vater nicht müde wird zu erzählen. Beispielsweise habe mein Onkel als | |
Heranwachsender einmal die aus seiner Sicht grandiose Idee gehabt, die | |
neue Handtasche meiner Oma mit der Bohrmaschine zu durchlöchern. | |
„Ik hau di blau“, schrie meine Oma daraufhin (Ich hau dich blau). Mein | |
Onkel floh und alle (bis auf die Handtasche) überlebten. Auf Hochdeutsch | |
kann ich mir Omas Ausruf schwer vorstellen. | |
Plattdeutsch ist fast vollkommen aus der deutschen Öffentlichkeit | |
verschwunden, nur noch drei Prozent der Bevölkerung sprechen es laut | |
Goethe-Institut. Mein Bruder und ich haben die Sprache eher passiv gelernt, | |
wir verstehen besser als wir sprechen. Beide wohnen wir nicht mehr in | |
Ostfriesland, sind nur an Feiertagen zu Besuch. Sollte ich einmal Kinder | |
haben, werde ich ihnen Platt kaum beibringen können. Es sind eher einzelne | |
Worte wie „Döösbaddel“ (Dummkopf) und Redewendungen wie „Dreemaal is | |
Oostfresenrecht“ (Aller guten Dinge sind drei) die mir im Gedächtnis | |
geblieben sind. | |
Im Kindergarten gehörte ich zur „Lüüntje-Gruppe“ (Spatz). Bilinguale | |
Früherziehung war in Ostfriesland nämlich schon in den 90ern cool. Doch | |
über den Kindergarten hinaus reichte mein plattdeutscher Horizont nie | |
wirklich. Ich wurde älter und Plattdeutsch mir peinlicher. Für mich klang | |
es bäuerlich, ungebildet, ländlich. So wie viele deutsche Dialekte auch, | |
die manch eine:r sich aus Scham abtrainiert. Die De-Bilingualisierung für | |
mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt. | |
## Plattdeutsch plattgewalzt | |
Bei der Untersuchung der Australian University seien unerwartete und | |
überraschende Gründe für Sprachbedrohung entdeckt worden, sagte Co-Autor | |
Lindell Bromham. Dazu gehöre etwa ein gut ausgebautes Straßennetz. „Wir | |
haben festgestellt, dass das Risiko einer Gefährdung von Sprachen umso | |
höher ist, je mehr Straßen es gibt, die ländliche mit urbanen Regionen und | |
Dörfer mit Städten verbinden. Es ist, als ob Straßen den dominanten | |
Sprachen helfen, andere, kleinere Sprachen plattzuwalzen.“ Mein | |
Plattdeutsch wurde plattgewalzt durch mein Streben nach der großen weiten | |
Welt, nach Bildung, nach Kosmopolitismus. Vor einigen Jahren gründete mein | |
Vater, der Lehrer ist, an seiner Schule eine Plattdeutsch-AG – sie | |
überlebte nicht lang, zu wenige Schüler:innen kamen. | |
Das Plattdeutsche und ich sind uns fremd geworden. Nie habe ich die Sprache | |
als zentralen Teil von mir empfunden und merke doch, je mehr ich darüber | |
nachdenke, dass sie zu mir gehört. Wie wäre das, wenn Plattdeutsch | |
aussterben würde, verstummte? Einmal schenkte ich meinem Vater ein kleines | |
Plattdeutsch-Wörterbuch, um ihm eine Freude zu machen. Ob er es benutze, | |
fragte ich ihn kürzlich. Er schüttelte den Kopf. Platt ist im Kopf und im | |
Herzen. | |
Mein Opa, der an Demenz erkrankte und schleichend alles um sich herum | |
vergaß, was sang er noch, als er schon lange niemanden mehr erkannte und | |
Sprache in seinem Kopf nur noch ein Knoten war? Er, der lange Zeit als | |
Ingenieur gearbeitet hatte, dem das Hochdeutsch ein präsenter Begleiter | |
gewesen war, sang mit voller Inbrunst alte Jagdlieder. Am liebsten „op | |
Platt“. | |
Sprache, das sind nicht nur Worte. Wenn eine Sprache stirbt, verschwinden | |
die Erinnerungen mit ihr. | |
3 Jan 2022 | |
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[1] /Zwei--und-Dreisprachigkeit-in-der-Erziehung/!5130868 | |
## AUTOREN | |
Nele Sophie Karsten | |
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