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# taz.de -- Orientierung im Flachland: Die Tricks der Nordfriesen
> Der Kieler Frisist Christoph Winter weist nach, dass die Nordfriesen ein
> Koordinatennetz nutzten, das auf der Flachheit der Landschaft beruht.
Bild: Orientierungsmarken, wie es sie früher nicht gab: Windräder in der nord…
Osnabrück taz | Nordfriesland. Wer den rauen Küstenstreifen im Nordwesten
von Schleswig Holstein beschreiben will, mit seinen [1][Inseln und
Halligen], sagt meist eins: flach. Und das zu Recht. Ebenen, so weit das
Auge reicht.
Aber mit Ebenen ist das so eine Sache: Es ist schwer, sich auf ihnen
zurechtzufinden, genau zu benennen, wo man sich befindet, wohin man sich
bewegt. Die höchste Erhebung Nordfrieslands, der Sandesberg bei Husum,
fällt mit ihren knapp über 50 Metern kaum auf. Bleiben nur ein paar
Bauwerke.
Wer wissen will, wie die Bewohner dieses Landstriches sich orientiert
haben, bevor es das GPS gab, wie Menschen und Dinge verortet und diese
Verortung versprachlicht haben: Der fragt am besten den Frisisten Christoph
Winter. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am [2][Institut für
Skandinavistik, Frisistik und Allgemeine Sprachwissenschaft der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU)].
Winters Dissertation „Der Kompass der Nordfriesen. Sprachliche Kodierung
absoluter Orientierung am Beispiel der Himmelsrichtungen und
Richtungspartikel im Nordfriesischen“ ist jüngst als Buch erschienen. Dass
ihm die Hamburger Akademie der Wissenschaften 2023 den Elise-Reimarus-Preis
verliehen hat, war dabei eine große Hilfe. Der Preis fördert geistes- und
sozialwissenschaftliche Monografien, verbunden mit bis zu 4.000 Euro
Publikationskostenzuschuss. Winter erhielt die volle Summe.
## Absolutes Orientierungsvermögen
Moment: Frisistik? Ja, das wird ohne „ie“ geschrieben und ausgesprochen,
obwohl es dabei ja um Friesland geht und man zuweilen auch „Friesistik“
liest und hört. Wissenschaft ist eben zuweilen ein bisschen rätselhaft.
Auch, womit sich ein Frisist befasst, muss Winter oft erst mal erklären:
mit [3][Sprache, Literatur und Geschichte, plus Landeskunde]. „Da sind
manche schon ein bisschen verwirrt“, sagt er.
Um zu zeigen, dass den Nordfriesen einst ein „absolutes
Orientierungsvermögen“ eigen war, hat Christoph Winter Orts- und
Richtungsbeschreibungen untersucht. Schriftquellen der [4][Dialekte
Nordfrieslands] hat er ausgewertet, SprecherInnen des Nordfriesischen
befragt.
Zwei „Strategien der Objektlokalisation“ traten dabei zutage, beide bis ins
20. Jahrhundert im Sprachgebrauch des Alltags: Die geographische Verwendung
von Richtungspartikeln (wie rauf, runter, raus, rüber und rum) und die
Verwendung von Himmelsrichtungen, auch wenn es um Dinge geht, die klein
sind, ist nicht ortsfest.
Das klingt dann schon mal etwas seltsam: Da verfängt sich „das östlichere
Bein“ in einem Sack, oder jemand hat einen Fleck auf seiner „westlichen
Backe“. „Rauf“ war mit dem bloßen Auge oft gar nicht zu erkennen, aber d…
Wissen um Höhenunterschiede, so gering sie auch sind, kann zwischen Land
und Meer lebensentscheidend sein.
Hilfreich war insbesondere die Ausrichtung der Häuser, traditionell mit den
Kurzseiten nach Westen und Osten, denn aus Westen kommt der Wind. Diese
Landmarken, im Flachen weithin sichtbar, seien ein „Raster für mentale
Karten“ gewesen, sagt Sprachwissenschaftler Winter.
Wer Winters Argumentation folgt, bewegt sich zwischen Amrum und Helgoland,
zwischen Keitum und Dagebüll. Es ist eine weite Gedankenreise mit
zahlreichen Abzweigungen.
Es geht um Bauliches wie „Sörrermürr“ (Südmauer) und „Noordweerstkamer…
(Nordwestkammer). Es geht um die Lokalisation von Einwohnern, etwa wenn
jemand „Paul Hinerisen, di wääster“ heiratet (Paul Hinerisen, den
westlich(er)en). Und wenn es heißt, „her Oogen din’n fleäg Siid’n en No…
(ihre Augen, die flogen nach Süden und Norden) ist damit gemeint: in alle
Richtungen.
Absolute Orientierung, abzulesen an der Sprache, gibt es also auch in
Europa. Nicht nur in der Mayasprache Tzeltal, in Mexiko. Oder bei der
Merina-Ethnie in Madagaskar. Oder bei den Guugu Yimidhirr-Aborigines in
Queensland, Australien.
## Akademische Erfahrung hilfreich
Wer sich Winters „Kompass der Nordfriesen“ bis ins Detail erschließen will,
sollte solide akademische Erfahrung mitbringen, zumal als
SprachwissenschaftlerIn. Leicht ist die Lektüre selbst dann nicht.
„Das Orientierungsvermögen beruhte auf topographischen und meteorologischen
Merkmalen des nordfriesischen Milieus sowie auf davon abhängigen
siedlungsstrategischen Traditionen“, resümiert Winter in seinem „Kompass�…
„und setzte jeweils kulturspezifisches Wissen voraus, wodurch es ein klares
Beispiel für den Zusammenhang von Kognition, Kultur und Sprache darstellt.“
Sätze wie dieser erfordern Durchhaltevermögen. Aber wer sie liest, sieht
Nordfriesland beim der nächsten Fahrt Richtung Sylt mit anderen Augen.
Das Nordfriesische ist für Christoph Winter übrigens nicht nur ein
Forschungsgegenstand, es ist Teil seiner ganz persönlichen Geschichte.
Winter ist in Niebüll geboren, einer nordfriesischen Kleinstadt, keine 20
Minuten Fahrt von der dänischen Grenze entfernt. In seinem Umfeld wurde
Friesisch gesprochen; in der Grundschule hatte er es als Unterrichtsfach.
Zeitweilig hat er ein altes Friesenhaus bewohnt.
Wenn alles gut läuft, könnte Winter seinem Doktortitel bald eine
Juniorprofessur anfügen. Aber das steht noch in den Sternen – nach denen
sich bekanntlich ebenfalls navigieren lässt. Fest steht für ihn allerdings:
„Das Thema wird mich nicht loslassen.“
Was wohl passiert wäre, hätte ein Nordfriese im 18. Jahrhundert Georg
Christoph Lichtenbergs Aphorismus gelesen: „Er mäanderte wohl dreimal um
die Stelle herum“? Vermutlich hätte er sehr den Kopf geschüttelt.
16 Sep 2023
## LINKS
[1] /Klima-wandelt-sich-Gesellschaft-auch/!5828920
[2] https://www.isfas.uni-kiel.de/de/skandinavistik
[3] /Neuer-Reisefuehrer-fuer-Schleswig-Holstein/!5865227
[4] /Das-Nordfriisk-Instituut-in-Bredstedt/!5867652
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Linguistik
Nordfriesland
Universität Kiel
Wissenschaft
Kulturgeschichte
Dialekt
Hannover
Schwerpunkt Stadtland
Plattdeutsch
Deutsche Sprache
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