# taz.de -- Dokus auf Nordischen Filmtagen Lübeck: Unmittelbar und eindrucksvo… | |
> Die Nordischen Filmtage zeigen auch online die Dokus „Heimat sucht | |
> Seele“, „Für nichts und wieder nichts“ und „Tics – Mit Tourette na… | |
> Lappland“. | |
Bild: Große Nähe: der Protagonist und die Regisseurin im Dokumentarfilm „He… | |
## „Heimat sucht Seele“: Leben im deutschen Exil | |
Die Filmemacherin Hille Norden ist bei einem von ihr gefilmten Gespräch so | |
ergriffen, dass sie zu weinen beginnt. Und ihr Protagonist gibt ihr die | |
Regieanweisung, die Kamera umzudrehen, und sich selber zu filmen. Hier | |
findet nicht nur ein erstaunlicher Rollenwechsel statt, sondern diese | |
Sequenz macht auch klar, dass dieser Film selber Teil des Prozesses ist, | |
den er dokumentiert. In „Heimat sucht Seele“ begleitet Hille Norden ein | |
Jahr lang die Familie des aus Syrien nach Deutschland geflohenen Saher. | |
Dieser hatte vier Jahre lang warten müssen, bis seine Familie ihm nach Kiel | |
nachreisen durfte. Davon, wie Saher, seine Frau Lubna und seine beiden | |
kleinen Söhne wieder zusammenfinden und dabei mit Problemen wie | |
Kriegstraumata, Kulturschock, Sprachschwierigkeiten und Heimweh umgehen, | |
erzählt Hille Norden, indem sie die Familie mit ihrer kleinen Digitalkamera | |
begleitet. Dies ist nur möglich, weil Norden selber zu Sahers deutscher | |
Ersatzfamilie gehört. | |
Ihre Mutter, eine sozial engagierte Richterin, hatte Saher in seinen ersten | |
Monaten in Deutschland bei sich wohnen lassen und sich um seine Integration | |
gekümmert. Der Anwalt Saher findet sich schnell in Deutschland zurecht, | |
aber für seine Frau und seine Kinder ist es viel schwieriger, anzukommen. | |
Ihre Kriegserfahrungen haben sie schwer traumatisiert. In einer der | |
eindrucksvollsten Sequenzen des Films sieht man das Entsetzen in Sahers | |
Augen, wenn seine Söhne ihm von erschossenen Menschen vor ihrem Haus | |
erzählen. | |
Hille Norden war so oft bei der Familie, dass ihre Protagonist*innen ihre | |
Kamera bald vergessen hatten und so gelingt es ihr, der Familie sehr nahe | |
zu kommen, ohne dass ihr Film je übergriffig oder voyeuristisch wirkt. So | |
unmittelbar und eindrucksvoll wie hier wird selten von der Exilerfahrung | |
erzählt. „Heimat sucht Seele“ ist einer von mehreren in Norddeutschland | |
produzierten Dokumentarfilmen in der Sektion „Filmforum“ der 63. Nordischen | |
Filmtage Lübeck, die noch bis zum 7. November stattfinden. | |
## „Für nichts und wieder nichts“: Unrecht in der DDR | |
Plattdeutsch ist eine gemütliche Sprache und Gisela Tuchtenhagen hat | |
zusammen mit Margot Neubert-Maric eine Reihe von Dokumentarfilmen up Platt | |
mit Titeln wie „Utbüxen kann keeneen“ gedreht. | |
Auch in ihrem neuen Film „Für nichts und wieder nichts“ spricht einer ihrer | |
Protagonisten Mecklenburger Platt (mit Untertiteln). Aber was er zu | |
erzählen hat, kann auch durch diesen Tonfall nicht verharmlost werden. Drei | |
ältere Herren, zwischen 1929 und 1941 geboren, geben da in der guten alten | |
Tradition der „oral history“ ihre Lebensgeschichten zu Protokoll. Sie | |
wurden als junge Männer in den 1950er-Jahren von der Staatssicherheit der | |
DDR (Stasi) verhaftet und zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. | |
Bruno Niedzwetzki saß im berüchtigten DDR-Zuchthaus Bützow, weil eine | |
Nachbarin glaubte, bei einem Streit mit Armeeangehörigen seine Stimme | |
erkannt zu haben. | |
Der heute 80-Jährige beteuert immer noch seine Unschuld und berichtet | |
davon, wie dieses Unrechtsurteil sein ganzes Leben bestimmt hat. Der junge | |
Landwirt Siegfried Jahnke wurde wegen angeblicher Spionagetätigkeit und | |
Boykotthetze verurteilt und im Film zeigt er auf den Acker, auf dem er | |
damals von der Stasi verhaftet wurde. Klaus Rintelen war Medizinstudent und | |
sprach sich öffentlich gegen die Umwandlung der Universität von Greifswald | |
in eine Militärakademie aus. | |
Er sieht im Film zum ersten Mal Dokumente, die belegen, wer ihn damals | |
verraten hat und wie hinterhältig die Stasi agierte. „Für nichts und wieder | |
nichts“ ist ein sperriger Film. Die drei Protagonisten erzählen | |
weitschweifig und mit vielen Wiederholungen. Kürzungen und Verdichtungen | |
hätten dem Film sicher gutgetan, doch die beiden Filmemacherinnen scheuten | |
sich offensichtlich davor, deren Erinnerungen zu beschneiden. | |
## „Tics – Mit Tourette nach Lappland“: Neue Therapie | |
Drehbuchautor*innen lieben Protagonist*innen mit dem | |
Tourette-Syndrom, weil sie die anderen Filmfiguren mit dramaturgisch genau | |
passend gerufenen Obszönitäten schockieren und für billige Lacher sorgen. | |
Mit der Realität hat dies wenig zu tun, und so ist der Dokumentarfilm „Tics | |
– Mit Tourette nach Lappland“ von Thomas Oswald ein wichtiges Korrektiv. | |
Seine drei Protagonist*innen Daniel, Marika und Leo leiden an | |
verschiedenen Krankheitsbildern des Syndroms und Thomas Oswald zeigt sie | |
bei einer ungewöhnlichen Therapie. Begleitet von einem Professor für | |
Neuropsychiatrie und einem Psychiater reisen sie nach Lappland, weil sie so | |
aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden und in der Einsamkeit der | |
Wälder weniger Stress ausgesetzt sind. | |
In der betont sachlich inszenierten Dokumentation wird deutlich, wie | |
existentiell die Persönlichkeiten der Kranken durch ihre Störungen geprägt | |
werden und wie hilflos die Therapeuten der Krankheit immer noch | |
gegenüberstehen. | |
4 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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