# taz.de -- EU und Klimawende: Eine Hand greenwasht die andere | |
> Die EU-Kommission erklärt Atomenergie und Erdgas für klimafreundlich. | |
> Dahinter steckt ein Kompromiss zwischen Frankreich und Deutschland. | |
Bild: Präsident Macron (l.) und Kanzler Scholz beim EU-Gipfel im Dezember 2021 | |
Brüssel taz | Es war ein Silvesterböller der besonderen Art: Am 31. | |
Dezember 2021, wenige Minuten vor dem Jahreswechsel, schickte die | |
Europäische Kommission in Brüssel an die Mitgliedstaaten einen | |
Verordnungsentwurf mit dem Vorschlag, Investitionen in Erdgas- und | |
Atomkraftwerke unter bestimmten Voraussetzungen als klimafreundlich | |
einzustufen. | |
Die „Nacht-und-Nebel-Aktion“ – so [1][Österreichs grüne | |
Klimaschutzministerin Leonore Gewessle]r – hatte den Effekt einer Bombe. | |
Vor allem in Deutschland und Österreich hagelt es Proteste, 2022 beginnt im | |
Zeichen eines schweren europa- und klimapolitischen Streits. | |
Am lautesten und härtesten reagierte Wien. Die EU-Kommission habe einen | |
„Schritt in Richtung Greenwashing von Atomkraft und fossilem Gas gemacht“, | |
so Gewessler. „Sollten diese Pläne so umgesetzt werden, werden wir klagen“, | |
schrieb die Grünen-Politikerin auf [2][Twitter]. | |
Scharfe Kritik kommt auch aus Berlin. Die Pläne seien „absolut falsch“, | |
sagte Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne). „Eine Zustimmung zu den | |
neuen Vorschlägen der EU-Kommission sehen wir nicht“, erklärte Wirtschafts- | |
und Klimaminister Robert Habeck (Grüne). | |
## Kein Blankoscheck | |
Bedeckt hielt sich dagegen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Der | |
Kommissionsvorschlag solle „nicht überschätzt werden“, hatte er schon beim | |
EU-Gipfel in Brüssel im Dezember erklärt. Es gehe demnach „um die | |
Einschätzung der Aktivitäten von Unternehmen“, nicht um eine Empfehlung an | |
die Staaten. | |
Tatsächlich richtet sich die sogenannte Taxonomie vor allem an Investoren. | |
Es gehe um „nachhaltige Investitionen des Privatsektors“, heißt es in | |
Brüssel. Der Vorschlag schreibe keine Geldanlagen vor und verhindere auch | |
nicht, dass Gelder in andere Energieträger fließen. Dass Deutschland aus | |
der Atomkraft aussteigt und auf Erneuerbare setzt, wird ebenso wenig | |
infrage gestellt wie die geplante „Renaissance“ der Kernkraft in | |
Frankreich. Auch die Nutzung von Erdgas als „Brückentechnologie“ bleibt | |
nach dem Entwurf der EU-Kommission erlaubt. | |
Atom für Frankreich, Gas für Deutschland – das ist der Kompromiss, den | |
Kommissionschefin Ursula von der Leyen nach langen und mühseligen | |
Konsultationen mit Paris und Berlin gefunden hat. Auch auf Kohlekraftwerke | |
in Polen und steigende Energiepreise musste sie Rücksicht nehmen. Die reine | |
grüne Lehre konnte die CDU-Politikerin deshalb nicht verkünden. | |
Allerdings wollte von der Leyen auch keinen Blankoscheck ausstellen. | |
Deshalb hat sie ihren Vorschlag mit Vorbehalten versehen. Atom und Gas | |
werden nur unter Auflagen als „nachhaltig“ anerkannt. So muss Frankreich | |
die Entsorgung radioaktiver Abfälle sicherstellen. Außerdem will die | |
Kommission für Transparenz sorgen. „Investoren werden auf den ersten Blick | |
klar erkennen können, ob und in welchem Umfang Erdgas- oder | |
Nuklearaktivitäten mit umfasst sind“, heißt es. | |
„Greenwashing“ werde es nicht geben, beteuert die EU-Behörde, die Taxonomie | |
sei „ein solides, wissenschaftlich fundiertes Instrument“. Viele Experten | |
sehen das anders. Nun würden „umweltschädliche Investitionen unter einem | |
grünen Deckmantel ermöglicht“, warnt die Deutsche Umwelthilfe. | |
„Die EU-Kommission betreibt mit diesen Vorschlägen Greenwashing“, meint die | |
Bürgerbewegung Finanzwende. Mit ihrem „Einknicken vor nationalen | |
Interessen“ erweise sie nachhaltigen Finanzmärkten einen Bärendienst. Die | |
Kommission könne ihre Politik nicht rechtfertigen, also habe sie den Plan | |
vor der Öffentlichkeit versteckt. | |
## von der Leyen kann durchregieren | |
Möglich wurde dies allerdings nur, weil die EU-Staaten die Brüsseler | |
Behörde dazu ermächtigt haben. Von der Leyen kann mit einem sogenannten | |
delegierten Rechtsakt durchregieren, ihr Vorschlag lässt sich kaum noch | |
kippen. Allenfalls kleinere Änderungen scheinen noch möglich. Bis zum 12. | |
Januar können die 27 Mitgliedstaaten noch Kommentare in Brüssel einreichen. | |
Danach will die Kommission ihren Vorschlag förmlich verabschieden. Zu | |
stoppen wäre er nur, wenn sich eine sogenannte verstärkte qualifizierte | |
Mehrheit dagegen ausspricht – oder eine einfache Mehrheit im | |
Europaparlament. | |
Beides scheint unwahrscheinlich. Im Parlament regt sich zwar Widerstand. | |
Abgeordnete von Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen haben sich in einem | |
Brief gegen die Taxonomie gestellt. „Es ist ein Schuss ins Knie für das | |
Projekt der grünen Transformation“, sagt Michael Bloss, klimapolitischer | |
Sprecher der Grünen. Doch eine Mehrheit hat er noch nicht beisammen. | |
Im Rat, der Vertretung der Mitgliedstaaten, haben die Gegner ohnehin kaum | |
eine Chance. Dort müssten sich mindestens 20 EU-Länder zusammenschließen, | |
die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung vertreten. Neben Deutschland und | |
Österreich begehren aber nur kleine Länder wie Luxemburg, Dänemark und | |
Portugal auf – das reicht nicht. | |
Für die Atomkraft treten dagegen rund ein Dutzend Staaten ein. Angeführt | |
werden sie von Frankreich, das am 1. Januar den halbjährlichen | |
EU-Ratsvorsitz übernommen hat. Präsident Emmanuel Macron ist fest | |
entschlossen, seine Vorstellung von atomgetriebenem Klimaschutz | |
durchzuboxen. Kanzler Scholz steht im Vergleich deutlich schwächer da. | |
Scholz mag zwar auch keine Atomkraftwerke. Doch auf Gas will er nicht | |
verzichten. „Für die Bundesregierung ist Erdgas vor dem Hintergrund der | |
Ausstiege aus der Kernenergie und aus der Kohleverstromung eine wichtige | |
Brückentechnologie auf dem Weg zur Treibhausgas-Neutralität“, sagte ein | |
Regierungssprecher am Sonntag. Scholz braucht den „schmutzigen Deal“ aus | |
Brüssel, auch wenn die Grünen dagegen sind. Das bedeutet Ärger für [3][die | |
Ampelkoalition] – mit dem Greenwashing „made in EU“ droht ein Fehlstart in | |
der deutschen Europa- und Klimapolitik. | |
2 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Klimacheck-in-Oesterreich/!5820230 | |
[2] https://twitter.com/lgewessler/status/1477313911829499907?s=20 | |
[3] /Umweltpolitik-der-Ampel-Koalition/!5817700 | |
## AUTOREN | |
Eric Bonse | |
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