# taz.de -- Alleinerziehende im Koalitionsvertrag: „Noch kein großer Wurf“ | |
> Heidi Thiemann hat die Stiftung Alltagsheld:innen gegründet. Ein | |
> Gespräch über mögliche Verbesserungen für Alleinerziehende durch die | |
> Ampel. | |
Bild: 2,8 Millionen Kinder in Deutschland sind von Armut betroffen, die Hälf… | |
taz: Frau Thiemann, das Wort „Alleinerziehende“ kommt auf 177 Seiten des | |
[1][Koalitionsvertrags] der künftigen Ampel-Regierung fünf Mal vor. Reicht | |
Ihnen das? | |
Heidi Thiemann: Es kommt zwar fünf Mal vor, aber schon daran, wo das Wort | |
jeweils steht, sehen Sie, dass der Vertrag noch kein großer Wurf ist. | |
Wo steht es denn? | |
Mal hier, mal dort. Die Maßnahmen, die Alleinerziehende betreffen, sind | |
keine aufeinander abgestimmten, die auf einer fundierten Bedarfsanalyse für | |
diese Zielgruppe beruhen würden und die eigentlich nötig wäre. Dennoch kann | |
man sagen, dass der Vertrag zumindest einige wichtige neue Verbesserungen | |
bringen kann. | |
Welche? | |
Ich bin zum Beispiel erleichtert, dass sich [2][das Wechselmodell] nicht | |
als gesetzliches Modell für Trennungsfamilien durchgesetzt hat. Es ist | |
weiter eine Option unter vielen. | |
Im Vertrag steht doch: „Wir wollen die Trennungs- und Konfliktberatung | |
verbessern und dabei insbesondere das Wechselmodell in den Mittelpunkt | |
stellen.“ | |
Aber das gilt nur für die Beratung. Es ist für Trennungsfälle nicht | |
automatisiert worden. Wir finden die zitierte Passage für die Beratung | |
allerdings erstaunlich. Mich erinnert das ein wenig an die | |
Schwangerschaftskonfliktberatung, die ergebnisoffen sein, die Frau aber zur | |
Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen soll. Beim Wechselmodell scheint | |
es jetzt so zu sein, dass für dieses Modell beraten werden soll, egal wie | |
die familiäre Situation ist. Das scheint mir abstrus. | |
Auch innerhalb der Beratungen ist zumindest die Orientierung am Kindeswohl | |
ausdrücklich gefordert. | |
Ja, das ist gut. Man muss zum Wechselmodell vielleicht erklären: Es hört | |
sich ja erst mal wunderbar an. Geteilte Care-Arbeit ist positiv, die | |
Männer, die statistisch immer noch sehr wenig Care-Arbeit machen, kommen | |
auch zu ihren 50 Prozent. Aber das funktioniert eben nur, wenn es vorher | |
auch schon so gelebt wurde. 70 Prozent der Familien leben vor Trennung | |
jedoch das klassische Zuverdienermodell. Das Wechselmodell praktizieren nur | |
4 Prozent der Trennungsfamilien in Deutschland. Das hängt auch von den | |
Rahmenbedingungen ab. | |
Welche sind das? | |
Niedriges Konfliktpotenzial und gute Kommunikation, die die vielen nötigen | |
Absprachen möglich machen. Wohnraum im gleichen Viertel – das grenzt beim | |
derzeitigen Wohnungsmarkt ohnehin an Zauberei. Und doppelte Haushalte mit | |
doppeltem Kinderzimmer können sich auch nur gut situierte Eltern leisten. | |
Es ist realitätsfern, sich die Bedarfe nicht anzuschauen, aber aufs | |
Wechselmodell hin zu beraten. Auf keinen Fall sollte es gegen den Willen | |
der Eltern und Kinder angeordnet werden können. | |
Ist das Ihre Befürchtung? | |
Man muss fragen, ob die Beratung auch in den Blick nimmt, wie die Eltern | |
miteinander funktionieren, zum Beispiel, ob auch Gewalt im Spiel ist. | |
Bei elterlichen Trennungsfällen vor Gericht muss häusliche Gewalt künftig | |
„zwingend“ berücksichtigt werden. Reicht Ihnen das nicht? | |
Das finde ich sehr gut. Bisher haben Berichte, unter anderem des | |
Familienministeriums, gezeigt, dass in Umgangsverfahren häufig das | |
Umgangsrecht über den Gewaltschutz gestellt wurde. Wir hoffen, dass das nun | |
ein Ende hat. Wir machen uns zwar ein bisschen Sorgen, dass das | |
Justizministerium FDP-geführt sein wird, aber wir interpretieren „zwingend | |
berücksichtigt“ erst mal so, dass der Gewaltschutz Vorrang hat. Der | |
Gewaltbegriff müsste allerdings analog der Istanbul-Konvention des | |
Europarats weiter gefasst werden als bisher und auch psychische und | |
finanzielle Gewalt einbeziehen. | |
Im Koalitionsvertrag heißt es auch, dass Alleinerziehende eine | |
Steuergutschrift bekommen sollen, die Höhe ist unklar. Trotzdem gut? | |
Das Gute ist, dass es sie geben soll. Die Hälfe der alleinerziehenden | |
Mütter verfügt mit ihren Kindern allerdings monatlich über weniger als | |
1.700 Euro netto. Es ist also zweifelhaft, ob gerade bei dieser Gruppe, die | |
von der Steuergutschrift profitieren soll, überhaupt so viel zu besteuern | |
ist. Das eigentliche Problem ist, dass das ungerechte Steuersystem nicht | |
abgeschafft wurde. | |
Das wäre Ihre Forderung gewesen? | |
Unsere Forderung ist ein familiengerechtes Steuergesetz, das alle | |
Familienmodelle berücksichtigt. Die Überführung der Kombination der | |
Steuerklassen III und IV in Klasse IV bringt zwar positive Aspekte. Gerade | |
in der Pandemie ist das sehr wichtig, weil Leistungen wie Kurzarbeitergeld | |
vom Nettogehalt aus berechnet werden und viele Frauen sehr niedrige | |
Nettogehälter haben. Die werden künftig etwas mehr Geld auf ihrem | |
Gehaltszettel sehen. | |
Aber? | |
Das ist kein Ausgleich dafür, dass das Ehegattensplitting nicht abgeschafft | |
wurde. Dieses Modell der Ungleichheit hat gesund und munter die | |
Koalitionsverhandlungen überlebt und spült Paaren ohne Kind mit hohem | |
Einkommensunterschied sehr viel mehr Geld in die Kasse als | |
Alleinerziehenden mit Kindern. Die Chance, das gerechter zu gestalten, | |
wurde vertan. | |
Sind Ihnen die Pläne für die Kindergrundsicherung konkret genug, die aus | |
einem einkommensunabhängigen Garantiebetrag und einem vom Elterneinkommen | |
abhängigen Zusatzbetrag bestehen soll? | |
Wir finden gut, dass sie kommen soll. Jedes fünfte Kind – rund 2,8 | |
Millionen Kinder in Deutschland – ist von Armut betroffen. Etwa die Hälfte | |
lebt bei Alleinerziehenden. Dennoch kommt es auch hier auf die Höhe an, zu | |
der noch nichts gesagt wurde. Zudem muss sie unbedingt eine eigenständige | |
Leistung sein und nicht auf Hartz IV und den Unterhaltsvorschuss | |
angerechnet werden. Unterm Strich dürfen Menschen nicht weniger, sondern | |
sollten deutlich mehr bekommen als jetzt. Eine Kürzung darf nicht | |
passieren, das wäre das Schlimmste. Ich würde außerdem gern noch etwas zum | |
Umgangsmehrbedarf sagen. | |
Sie meinen, mehr Geld für getrennt lebende Eltern, die Hartz IV beziehen. | |
Das kommt im Koalitionsvertrag doch gar nicht vor. | |
Das ist das Problem. Es ist eine langjährige Forderung der Sozialverbände. | |
Wenn der zweite Elternteil einen größeren, aber nicht gleichwertigen | |
Betreuungsanteil hat, dann hat der zweite Elternteil auch Aufwendungen. | |
Momentan ist das etwas für Gutverdienende. Wenn beide Elternteile Hartz IV | |
bekommen, sind Fahrtkosten oder gemeinsame Unternehmungen mit den jetzigen | |
Sätzen nicht finanzierbar. Damit wird soziale Ungleichheit festgeschrieben. | |
Auch die Anerkennung von Care-Arbeit bei den Rentenansprüchen | |
beziehungsweise der Altersarmut von Frauen spielt keine Rolle im | |
Koalitionsvertrag. Und letztlich klafft eine Leerstelle beim Wohnen mit | |
Blick auf Alleinerziehende. | |
Jährlich sollen 100.000 neue Sozialwohnungen kommen. | |
Ja, das ist auch gut, aber dabei wäre sehr wichtig, auch Wohnbedarfe für | |
Ein-Eltern-Familien aufzugreifen, die konzeptionell gegenseitige | |
Unterstützung mitdenken und gemeinschaftlich organisiertes Wohnen | |
ermöglichen. Das wäre eine enorme Steigerung von Lebensqualität. | |
7 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spd.de/koalitionsvertrag2021/ | |
[2] /Wechselmodell-bei-Trennungskindern/!5569270 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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