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# taz.de -- Die Ampel und nukleare Teilhabe: Kein Wintermärchen
> Die Ampelkoalition gibt der atomaren Bewaffnung eine Zukunft. Robert
> Jungk, Petra Kelly und Heinrich Böll wälzen sich in ihren Gräbern.
Bild: Mutlangen 1983: mit Peace-Zeichen gegen den NATO-Doppelbeschluss und Atom…
Teilhabe klingt gut, demokratisch-ökologisch. Und atomare Teilhabe? Share a
nuke! Hey, es braucht doch nicht jeder seine eigene Bombe. Wenn es denn nur
so amüsant wäre.
Erstaunlich geräuschlos hat sich die Ampelkoalition darauf verständigt, für
die in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen neue Kampfflugzeuge
anzuschaffen. Das heißt im Klartext: Diese Regierung gibt der Atombombe
eine Zukunft. Denn Teilhabe bedeutet: Beim Luftwaffengeschwader in Büchel,
Rheinland-Pfalz, liegen zwei Dutzend Bomben mit einer Zerstörungskraft, die
als x-faches Hiroshima berechnet wird, und sie werden von deutschen Piloten
im Kriegsfall Richtung Osten zum Einsatz gebracht. Bisher standen dafür
Tornados bereit, die als veraltet gelten. Anstatt dies zum Anlass zu
nehmen, die anachronistische Bewaffnung abzuschaffen, werden nun 45 extrem
teure neue Jets gekauft, vermutlich in den USA.
Ich finde das gravierend, in mehr als einer Hinsicht. Und ich hätte
erwartet, an der Basis von Grünen und Sozialdemokratie würde sich
wenigstens ein Fünkchen Empörung zeigen. Immerhin wird im
Grünen-Grundsatzprogramm von 2020 – nach damals heftiger Debatte – „ein
zügiges Ende der nuklearen Teilhabe“ verlangt, und einige
SPD-Spitzenpolitiker hatten noch im Wahlkampf den Abzug aller [1][A-Waffen]
gefordert. Dies ist sozusagen die ästhetische Seite der Angelegenheit, der
Beschiss an den Wähler:innen. Nun zum Inhalt und zur Zeitgeschichte.
Die ersten US-Nuklearwaffen kamen 1955 in die Bundesrepublik. Damals
entstand die Anti-Atomtod-Bewegung, die älteste zivilgesellschaftliche
Strömung für eine bessere Welt, die Mutter von vielem, was folgte. Ohne
Namen wie Günther Anders (Jg. 1902) und Robert Jungk (Jg. 1913) wäre Petra
Kelly (Jg. 1947) schwer denkbar gewesen, ohne Kelly nicht die heutigen
Grünen. Deren parteinahe Stiftung ist nach Heinrich Böll benannt; bereits
von Krankheit gezeichnet, ließ sich der Nobelpreisträger die Teilnahme an
der Sitzblockade eines Raketenstandorts nicht nehmen.
Ich erwähne diese Überlieferungskette nicht nur, weil sie illustriert, wie
weit sich heutige Protagonist:innen von jenem Geist entfernt haben,
ohne den sie kaum auf die große Bühne gelangt wären. Sondern es scheint mir
auch interessant, welche philosophischen Veränderungen damit verbunden
sind. Aus der einstigen Infragestellung eines industriell-materialistischen
Fortschrittsbegriffs wurde allmählich der Glaube an die technologische
Machbarkeit der Quadratur des Kreises.
So wird es der Gesellschaft jedenfalls verkauft: Mit schlauen Konzepten ist
alles vereinbar, Wohlstand und Klimaretten, Bleifuß und Verkehrswende,
Pharmaprofite und Weltgesundheit. Kein Bruch, kein Konflikt, kein
Zusammenstoß mit mächtigen Interessen. Keine Entscheidungen, zu denen die
Allgemeinheit vielleicht in großen Debatten kommen müsste. Und bloß nicht
das Wort Verzicht fallen lassen.
In diesem Konzept der Vereinbarkeit des Unvereinbaren ist die Vokabel
Klimaschutz zu einer Art Abdeckfolie geworden, unter der sich alles
Mögliche verstauen lässt, während ständig der Eindruck erzeugt wird, hier
werde gerade die Menschheit gerettet. Da lassen sich dann sogar
nuklearbewehrte Kampfjets unterbringen – als wären Militär und
Rüstungsproduktion nicht Klimakiller ersten Ranges. Und eine
[2][Außenpolitik], die sich auf Klimaschutz, Werte, gar Feminismus beruft,
passt nun irritierend gut in den Nato-Kurs gegen China und Russland.
Ein gewisser [3][Antimilitarismus] gehört zu dem wenigen, was sich von zwei
verlorenen Weltkriegen im deutschen Massenbewusstsein niedergeschlagen hat.
Umfragen zeigen kontinuierlich, wie viele mit dem antirussischen Kurs der
Nato nicht einverstanden sind; dennoch hat friedenspolitisches Denken kaum
eine Öffentlichkeit jenseits von Youtube-Kanälen, wo es in die
unappetitliche Nähe zum „Querdenker“-Milieu gerückt werden kann. Aber es
hat nichts mit rechtem Putin-Verstehertum zu tun, von einer
Fortschrittskoalition zu erwarten, dass sie sich für eine europäische
Friedensordnung einsetzt, die Russland einbezieht.
Gerade weil der Fortschrittsbegriff dieser Regierung wenig Substanz hat,
muss das Ganze zu einem Projekt stilisiert werden, das gleichsam über sich
selbst hinausweist. Eine SPD, die mit einem Viertel der Wählerstimmen und
mit nur einem Prozentpunkt Vorsprung gegenüber der Union den Kanzler
stellt, ruft nun ein sozialdemokratisches Jahrzehnt aus. Als wäre sie nicht
mehr die identitätslose Schwurbelpartei von vor vier Monaten.
Eine Äußerung von Olaf Scholz klingt mir besonders im Ohr. „Wenn wir es
nicht machen, wer soll es dann von uns lernen?“ Welch Selbstüberhöhung. Die
Ampel ist eine Weltlaterne, hell erscheint sie über dem Globus, und alle
Gesichter werden sich ihrem Glanze zuwenden: Seht nur, die Deutschen!
Sie werden „Europa zu einem Kontinent des nachhaltigen Fortschritts machen“
(O-Ton Koalitionsvertrag), und durch „europäische Standards setzen wir
Maßstäbe für globale Regelwerke“. Wenn alle Welt in der Flüchtlingspolitik
das EU-Regelwerk zum Maßstab nehmen würde, dann stünde der Planet in
Flammen. An der polnisch-belarussischen Grenze standen 0,005 Prozent der
derzeit global Flüchtenden, und Babys mussten erfrieren. Ich hoffe
inständig, dass die Toleranz südlicherer Länder ein Maßstab werde.
Was haben wir sonst noch im Repertoire für das Scholz'sche Diktum, dass
andere von uns den Fortschritt lernen? Faschistoide Fackelmärsche,
vergraulte Pflegekräfte, Wahnreden, in denen Ungeimpfte mit armenischen
Völkermordopfern verglichen werden, aggressives Gemäkel, während wir im
Impfstoff schwimmen, den andere nicht bekommen dürfen. Kein Wintermärchen
gerade, dieses Deutschland. Aber an unserer Ampel wird die Welt genesen.
14 Dec 2021
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## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
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