| # taz.de -- Brokdorf wird zum Jahresende abgeschaltet: Das Licht geht aus | |
| > 425 Mahnwachen in 36 Jahren. Am Nikolaustag gab es die letzte. Die | |
| > Demonstranten feierten, dass das AKW Brokdorf nun vom Netz genommen wird. | |
| Bild: Ein Bild aus dem Jahr 1981: Rund 100.000 Menschen demonstrieren gegen das… | |
| Wewelsfleth taz | Dieselben Wiesen, dieselben Gräben, derselbe scharfe | |
| Wind. Als wir [1][in Wewelsfleth aus dem Auto steigen], haben wir den | |
| Eindruck, dass sich hier in der Wilstermarsch (eine der vier holsteinischen | |
| Elbmarschen, nordöstlich der Elbe – Anm. d. Red.) in den vergangenen 45 | |
| Jahren gar nicht so viel verändert hat. Wir gehen noch einmal denselben Weg | |
| wie am 31. Oktober 1976, als wir das erste Mal in Brokdorf waren. Von | |
| Wewelsfleth Richtung Elbe, dann weiter auf dem Deich, insgesamt etwas mehr | |
| als fünf Kilometer. | |
| Doch wo damals eine Baustelle war, von der Polizei zur Festung ausgebaut, | |
| steht jetzt das Atomkraftwerk. Hellgrau die Reaktorkuppel und der | |
| Abluftkamin, weiß das wuchtige Maschinenhaus. An einem Baum hat sich eine | |
| Fahne verfangen, dreckverschmiert ist die aufgedruckte lachende Sonne, das | |
| Symbol der Anti-Atom-Bewegung. | |
| Die Flagge ist vermutlich ein Überbleibsel der Mahnwache vom Nikolaustag. | |
| Seit 36 Jahren haben sich an jedem 6. Tag eines Monats Umweltschützer am | |
| Haupttor des AKWs zum stillen Protest versammelt. Am 6. Dezember dieses | |
| Jahres fand die 425. und zugleich letzte Mahnwache statt. Außer Tee und | |
| Gebäck gab es auch Sekt. Die Demonstranten feierten, dass Brokdorf zum | |
| Jahresende für immer abgeschaltet wird. | |
| Hans-Günter Werner gehört zu den Kirchenleuten, die die Mahnwache 1986 nach | |
| der Atomkatastrophe in Tschernobyl ins Leben riefen. „Wir haben damals | |
| versprochen, dass wir kommen, bis das AKW abgeschaltet wird“, sagt er. | |
| „Jetzt ist es endlich so weit.“ Werner hat kaum eine Mahnwache verpasst, | |
| sogar seine Urlaube plante er nach dem wiederkehrenden Datum. | |
| ## In einer Nacht- und Nebelaktion | |
| Mit Brokdorf gehen zeitgleich zwei weitere der sechs noch laufenden | |
| Atomkraftwerke dauerhaft vom Netz, Grohnde in Niedersachsen und | |
| Gundremmingen-C in Bayern. Deutschland, das gefühlt schon vor Jahrzehnten | |
| aus der Atomkraft ausgestiegen ist, verliert damit seinen Platz als | |
| zweitgrößter Atomstrom- und Atommüllproduzent in der Europäischen Union | |
| hinter Frankreich. | |
| Brokdorf ist das am heftigsten umkämpfte deutsche AKW. Schon gegen den in | |
| einer Nacht- und Nebelaktion erfolgten Baubeginn demonstrierten am 30. | |
| Oktober 1976 rund 8.000 Menschen, einige hundert besetzten das Baugelände. | |
| Im Morgengrauen trieben Polizisten die Besetzer mit Hunden, Knüppeln und | |
| Tränengas vom Platz. „Die Polizei ging mit unfassbarer Brutalität vor“, | |
| hieß es damals in den NDR-Nachrichten. | |
| Auf dem Elbdeich protestierten einen Tag später 4.000 Menschen gegen die | |
| Polizeiübergriffe. Bei dieser Demo gelang dem Fotografen Günter Zint das | |
| berühmte Gegenlichtfoto von den Menschen auf dem Deich, das später immer | |
| wieder auf Plakaten und Flugblättern der Anti-AKW-Bewegung gedruckt wurde. | |
| Wir hatten die Räumung des Baugeländes am Vorabend in den | |
| Fernsehnachrichten gesehen und waren aus Neugier nach Brokdorf gefahren. | |
| Obwohl die Polizei weiträumig Straßen absperrte, zogen zwei Wochen später, | |
| am 13. November, 40.000 durch die Wilstermarsch zum Bauplatz. Der Versuch | |
| einer erneuten Besetzung misslang. Polizisten und Grenzschützer | |
| verteidigten das Gelände, warfen Tränengaskartuschen aus tief fliegenden | |
| Hubschraubern in die Menge. Hunderte wurden verletzt. | |
| ## Rebellion gegen das kapitalistische System | |
| Waren die ersten großen Anti-AKW-Proteste im badischen Wyhl noch stark | |
| regional geprägt und zielten vorrangig auf den Schutz der eigenen | |
| Lebensumgebung ab, gelangte in Brokdorf die Auseinandersetzung um die | |
| Atomkraft auf eine grundsätzlichere Ebene: Sie entwickelte sich zu einer | |
| Rebellion gegen das kapitalistische System und gegen den „Atomstaat“. Weite | |
| Teile vor allem der städtischen und studentischen Bewegung verschmolzen die | |
| Ökologie- mit der Systemfrage. | |
| Ende 1976 verfügte das Verwaltungsgericht Schleswig einen Baustopp für | |
| Brokdorf. „Richtersprüche machen Atomkraftwerke auch nicht sicherer“, hielt | |
| die Anti-Atom-Bewegung dagegen. Trotz beispielloser Hetze und dem | |
| Heraufbeschwören einer „Schlacht um Brokdorf“ in den Medien – die Bild | |
| fantasierte den von den „Chaoten“ zu Propagandazwecken einkalkulierten Tod | |
| von Demonstranten herbei –, und trotz Versammlungsverbots fand am 19. | |
| Februar 1977 die bis dahin größte Demo gegen das AKW statt. 50.000 Menschen | |
| zogen Richtung Bauplatz – und kehrten nach einer Kundgebung an der ersten | |
| Polizeisperre wieder um. Die Massen folgten dem Kommunistischen Bund | |
| Westdeutschlands (KBW), der zum „Schleifen der Festung“ aufruft, nicht. | |
| In den Kämpfen um Brokdorf entdeckten die damals starken „K-Gruppen“ ihre | |
| Liebe zur Anti-AKW-Bewegung. Sie sahen in den überall neu entstehenden und | |
| wachsenden Initiativen ein ideales Propaganda- und Rekrutierungsfeld. Manch | |
| hart gesottener K-Grüppler etwa aus dem KBW oder der Abspaltung „Gruppe Z“ | |
| des Kommunistischen Bunds (KB) hielt sich indes gar nicht lange in der | |
| Bewegung auf, sondern marschiert gleich weiter in die sich Ende der 1970er | |
| Jahre bildenden grünen und bunten Listen. | |
| Am 28. Februar 1981 protestierten 100.000 in der Wilstermarsch gegen das | |
| Auslaufen des Baustopps. Ein gewaltiges Polizeiheer mit Hubschraubern und | |
| Wasserwerfern empfing die Demonstranten. Es folgten stundenlange | |
| Auseinandersetzungen, es gab zahlreiche Verletzte und Verhaftete. Wenige | |
| Tage später veröffentlichte der Stern ein Foto: Es zeigte drei AKW-Gegner, | |
| die einen Polizisten verprügeln. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen | |
| versuchten Mordes, zwei Männer wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen | |
| verurteilt. | |
| ## Radioaktive Wolke über halb Europa | |
| Die juristische Auseinandersetzung um das Demoverbot mündete im Mai 1985 | |
| im Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. In seinem Urteil traf | |
| es weit reichende Aussagen zur Bedeutung der Versammlungsfreiheit, das | |
| Gericht erarbeitete Begriffe wie Eilversammlung und Spontanversammlung und | |
| betonte ausdrücklich, dass Bürokratie und Protest sich nicht gut vertragen | |
| und dass es „… seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und | |
| Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers galt, sich ungehindert und ohne | |
| besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln“. | |
| Zehntausende machten sich am 7. Juni 1986 erneut auf dem Weg nach Brokdorf. | |
| Wenige Woche zuvor [2][war Reaktor Nummer 4 im ukrainischen Atomkraftwerk | |
| Tschernobyl explodiert], eine radioaktive Wolke hatte sich über halb Europa | |
| ausgebreitet. Die Demo wurde von der Polizei zerschlagen. Den Hamburger | |
| Konvoi – acht Kilometer lang, mehr als 10.000 Leute – überfielen die | |
| Beamten schon auf dem Hinweg. Sie schlugen bei mehr als hundert Fahrzeugen | |
| die Scheiben ein, zerstachen die Reifen, brachen die Kofferräume auf oder | |
| schoben die Autos gleich ganz in den Graben. Die Straße bei Kleve glich | |
| einem Schrottplatz. | |
| Am 7. Oktober 1986 ging das Atomkraftwerk Brokdorf in Betrieb, als Erstes | |
| in Europa seit Tschernobyl. Ausgerechnet Brokdorf! Es war, zumindest | |
| gefühlt, eine der schlimmsten Niederlagen der Anti-AKW-Bewegung. Manche | |
| Aktivisten resignierten, arrangierten sich mit dem Kraftwerk, wandten sich | |
| anderen politischen Themen zu oder zogen sich ins Privatleben zurück. | |
| ## Karsten Hinrichsen macht weiter | |
| Andere, wie der Meteorologe Karsten Hinrichsen, leisteten weiter | |
| Widerstand. Er hatte sich als wissenschaftlicher Beistand schon der | |
| Klägergruppe angeschlossen, die 1976 den vierjährigen Baustopp vor Gericht | |
| erzwang. Hinrichsen, der inzwischen in das Dorf Brokdorf gezogen war, | |
| klagte nach der Inbetriebnahme selbst, zog durch alle Instanzen – und | |
| verlor nach 13 Jahren schließlich vor dem Oberverwaltungsgericht Schleswig. | |
| Er empfindet es als persönliche und berufliche Niederlage, „dass man als | |
| Wissenschaftler mit sehr guten Argumenten in diesem Staat nicht Recht | |
| bekommt“. | |
| Trotzdem machte Hinrichsen weiter. Er organisierte Mahnwachen, nach [3][dem | |
| Fukushima-Unfall] gründete er die Aktionsgruppe „Brokdorf Akut“ mit. Über | |
| die endgültige Abschaltung des AKWs Ende 2021 freut er sich, der Kampf ist | |
| aus seiner Sicht aber noch nicht vorbei. Gegen die beim Abriss des Meilers | |
| geplante „Freimessung“ radioaktiven Materials will er protestieren. | |
| Notfalls auch wieder vor Gericht. | |
| Als wir zurück sind in Wewelsfleth, ist es längst dunkel. Nur im | |
| Nordwesten, wo das AKW von Scheinwerfern angestrahlt wird, leuchtet es hell | |
| hinterm Deich. In wenigen Tagen gehen die Lichter in Brokdorf für immer | |
| aus. | |
| Der Autor war früher selbst in der Anti-AKW-Bewegung aktiv und begleitet | |
| sie seit vielen Jahren als Journalist. | |
| 25 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Angst-vor-Atom-Strahlung/!5098103 | |
| [2] /35-Jahre-nach-Tschernobyl/!5768440 | |
| [3] /Zehn-Jahre-nach-Fukushima/!5757618 | |
| ## AUTOREN | |
| Reimar Paul | |
| ## TAGS | |
| Anti-AKW-Proteste | |
| Anti-Atom-Bewegung | |
| Atomkraftgegner | |
| Brokdorf | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| GLS-Bank | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Migration | |
| EU-Politik | |
| Schwerpunkt Atomkraft | |
| Niederlande | |
| Schlagloch | |
| Atommüll | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Das wohl älteste Hotel Lübecks: Charme von 1439 | |
| Das „Altstadthotel zum Goldenen Anker“ ist seit Jahrzehnten eine rumpelige | |
| Baustelle. Trotzdem kann man hier schlafen. Ein Selbstversuch. | |
| Lernen vom Hamburger „kohero“-Magazin: Über Sprachbarrieren hinweg | |
| Im Hamburger „kohero“-Magazin erzählen Menschen mit Fluchterfahrung aus | |
| ihrem Alltag. Ein gelungenes Projekt, das als Vorbild dienen kann. | |
| Atomkraft und Klimawandel: EU hält AKW für klimafreundlich | |
| Die EU-Kommission will laut Beschlussentwurf Investitionen in Atom- und | |
| Gaskraftwerke als grün einstufen. Ablehnung von den Grünen. | |
| Atomausstieg wird real: Abschaltfeier für Grohnde | |
| Zum Jahreswechsel geht das umkämpfte AKW vom Netz. Umweltschützer wollen | |
| das in der Silvesternacht vor Ort feiern. Die Belegschaft ist traurig. | |
| Niederlandes angehende Regierung: Neue Koalition will mehr Atomkraft | |
| Die neue Koalition in Den Haag gibt sich sozial, will mehr Klimaschutz, | |
| mehr Mindestlohn, mehr Wohnungen. Bei der Energie macht sie eine heftige | |
| Wende. | |
| Die Ampel und nukleare Teilhabe: Kein Wintermärchen | |
| Die Ampelkoalition gibt der atomaren Bewaffnung eine Zukunft. Robert Jungk, | |
| Petra Kelly und Heinrich Böll wälzen sich in ihren Gräbern. | |
| Atommüll-Zwischenlager Asse: Bitte mehr Abstand | |
| Bürgerinitiativen fordern eine größere Entfernung zwischen Wohnhäusern und | |
| dem Zwischenlager. Der Standort sei zu nah am Ort Remlingen. |