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# taz.de -- Das wohl älteste Hotel Lübecks: Charme von 1439
> Das „Altstadthotel zum Goldenen Anker“ ist seit Jahrzehnten eine
> rumpelige Baustelle. Trotzdem kann man hier schlafen. Ein Selbstversuch.
Bild: Der Nachteingang zu Lübecks ältestem Hotel ist nur etwas für Abenteuer…
Lübeck taz | Die Stadt, in der ich lebe, ist schick. Spätestens seit das
Zentrum 1987 Weltkulturerbe wurde, flanieren Touristenscharen durch die
frisch verputzte Backsteingotik Lübecks. Eine Häusergruppe in der
historischen Altstadt fällt mit blinden Fenstern, Stockflecken und
daumendicken Rissen komplett aus dem Goldrahmen. In einem Fenster hängt
eine ins Dunkelweiße verblasste Leuchtreklame: „Hotel, Rooms free“.
Oft bin ich daran vorbei gegangen im Glauben, dieses Schild sei ebenso
historisch wie das Haus. Aber im „Altstadthotel zum Goldenen Anker“ lassen
sich tatsächlich Zimmer buchen. Neugierig miete ich mich als Touristin in
der eigenen Stadt ein. Das Abenteuer kostet 109, in der Saison sogar knapp
150 Euro – ein astronomischer Preis angesichts der Bewertungen in
Onlinebuchungsplattformen. „Hat zu Halloween gepasst“ ist noch einer der
netteren. „Eine Zumutung“, finden andere Gäste, „elektrische Kabel häng…
aus der Wand. Fenster klemmt, zugig“, „Möbel vom Sperrmüll“.
Bei einem Gast hat Wasser aus der Lampe getropft, eine Frau postete Fotos
von Löchern in der Zimmerwand und Müll hinterm Bett. Einer schlief lieber
in seinem Auto, nachdem er das Zimmer sah. Aber das Hotel scheint auch
Liebhaber zu haben. „Aus einem Jucks heraus haben wir uns für das am
schlechtesten bewertete Hotel Lübecks entschieden“, schreibt ein Paar. „Wir
wurden positiv überrascht. Es ist ein Abenteuerurlaub in einem Haus von
1439 mit dem Charme von 1439.“
So vorbereitet, sind wir neugierig auf eine Nacht im ältesten Hotel
Lübecks, vielleicht sogar Norddeutschlands. Das Abenteuer beginnt hinter
einer Holztür, wo sich Möbel, Kulissen aus einer „Buddenbrooks“-Verfilmun…
Wäschewagen und Plastikblumen auftürmen. Statt einer Rezeption gibt es eine
Telefonnummer.
## Ein Herd aus dem Mittelalter
Der ältere Herr, der uns aufschließt, sieht mit der markanten Nase und dem
vorstechenden Kinn nicht nur aus wie das Bild eines Pastors, er ist
Theologe. Er arbeitete als Studienrat an einer Brennpunktschule und als
Steuerberater, heute ist er Rentner und wohnt mit seiner 104-jährigen
Mutter nebenan. Thomas Göbell ist freundlich und erzählt gerne von seinem
Haus: „Es ist nicht saniert, dadurch sieht man alle Originalzustände“, sagt
er und zeigt einen unter einer Bodenklappe versteckten Herd aus dem
Mittelalter.
Dann führt er vorbei an unfreiwilligen Arrangements aus Dingen, die andere
Hotels auf dem Speicher oder im Wirtschaftsraum verstecken. Im Flur
versinkt eine antike Nähmaschine zwischen alten Zeitschriften und
Bananenkartons mit Taschenbüchern, viele Türen sind ein Flickwerk aus
Sperrholz. Draußen schimmert unter einer Bauplane das Skelett eines neuen
Holzbalkons – eine Baustellenbesichtigung. „Wir renovieren seit 30 Jahren�…
wird Göbell später erzählen, „je nachdem, wie viel Geld in die Kasse kommt.
Dadurch wird es wohl nie fertig.“
Unser Zimmer liegt in der ersten Etage. Aus unverputztem Fachwerk rieselt
Staub, in dem einfachen Bad mit der massiven Holztür gibt es keine Seife
und für die Kleider keinen Schrank, nur zwei Sessel als Ablage. Das
Plastikfenster ist ein Stilbruch.
Trotzdem: Es hat Charme, ist mit den historischen Dielen und der Patina auf
einmalige Weise schön. Es ist größer als erwartet, und auf einem Tisch
steht statt eines Fernsehers ein Rundfunkempfänger, der noch funktioniert.
Das einfache Metallbett ist bequem, bis auf die Kopfkissen, aber die taugen
auch in Sternehäusern selten etwas.
## Offene Wunden im Mauerwerk
Das Fenster geht auf den Hof hinaus. Mit diesem Hof hat es angefangen, bei
einem Wein mit Freunden, die in einem der schönen alten Giebelhäuschen in
der Nachbarschaft wohnen. Wir blickten hinunter auf eine Hügellandschaft
aus Bauschutt und den Gerippen alter Fahrradständer. Vom Heizungsraum des
Hotels wehte ein rußiges Bouquet herauf. Hier könnte man eine Oase bauen,
sagte ich. Sie lachten. Eher nicht, der Hof sehe seit Jahren so aus. Dort
sei übrigens der Nachteingang eines Hotels. Das konnte ich erst nicht
glauben.
Nun gehen wir durch diesen Nachteingang, vorsichtig, denn es ist früh
dunkel und der Untergrund ist tückisch. Wir balancieren vorbei an
Geröllbergen, dann auf Spanplatten durch einen Hausflur. Offene Wunden
klaffen im Mauerwerk. Am Ende führt eine löchrige Baustellentür auf eine
Seitenstraße.
Ich kenne so etwas aus unter der Hand vermittelten Hostels in Südeuropa,
Asien oder Südamerika. Überraschend ist, es in meiner eigenen Stadt zu
finden – und in dieser Preisklasse. Göbell begründete die Preise mit den
hohen Reinigungskosten: „In den alten Räumen dauert das Putzen eine Stunde,
und das Waschen der Bettwäsche kostet acht Euro.“
Am nächsten Morgen wecken uns Schritte und Stimmen von oben. Es ist kühl,
die Elektroheizung spendet nicht viel Wärme. Das Frühstück im Gastraum
zwischen Antiquitäten, Metallwerbetafeln und rustikalen Möbeln ist
einfach. Der Morgen beginnt trotzdem gut, wir haben nette Gespräche mit der
Angestellten im Frühdienst und den zwei anderen Gästen. „Ich glaube nicht,
dass dieses Hotel einen Stern hat“, sagt Gilbert Kahn, während er uns sein
enges, zugestelltes Zimmer zeigt. Er hatte zuerst gedacht, er müsste kalt
duschen, weil in seinem Bad der Hahn für das kalte und das warme Wasser
vertauscht sind.
## „Man hat noch den Originalmuff“
Durch das andere Zimmer zieht sich ein dickes, in Schaumstoff gehülltes
Rohr. Die meisten der insgesamt zwölf Räume sind unverschlossen. Auf Böden
aus welligem PVC, zwischen Wänden mit unverkleideter Spanplatte sind sie
mit einem wilden Mix aus Second-Hand-Möbeln eingerichtet. Offenbar haben
wir das schönste Zimmer im Haus ergattert.
Göbell weiß, dass sein Hotel speziell ist. „Man hat noch den Originalmuff
und das Gruselgefühl, dass gleich jemand von damals um die Ecke kommt“,
scherzt er. Er erzählt von Stammgästen aus Skandinavien. Gäste aus
Süddeutschland beschwerten sich dagegen oft, „die suchen das normale
Hotel“. Und es geht noch einfacher: Im Nebengebäude entsteht gerade ein
Alkoven-Zimmer. „Ich bin gespannt, wie der erste Gast das aufnimmt. Dort
kann man wirklich übernachten wie auf dem Strohlager im Mittelalter.“
Göbells Geschäftsidee ist, mit dem Altstadt-Hotel die Renovierung des
Nachbarhauses zu finanzieren. Dieses war früher mit dem heutigen Hotel
verbunden und ist ein einmaliges Denkmal: einst Fürstensitz und
Bischofsherberge, war es später als „Hotel Stadt Hamburg“ das erste Haus am
Platz, in dem sogar der Kaiser residierte.
Heute verfällt es, weil das Geld hinten und vorne nicht reicht. 2007 ließ
Göbell ein NDR-Filmteam ins Haus und holte aus Gurkenkartons in einem
feuchten Verschlag historische Schätze, sein Familienerbe:
kirchengeschichtliche Bücher aus dem 16. Jahrhundert, Bilder und
Zeichnungen des Goethe-Malers Johann Tischbein. Einige sind so wertvoll,
dass er mit ihrem Verkauf einen Teil der Renovierungskosten von geschätzt
sechs Millionen Euro bezahlen könnte.
## Die frühere Wohnung einer Herzogin
Aber Göbell möchte seine Schätze nicht verkaufen. Aus der Bischofsherberge
hat er ein „Freilichtmuseum“ gemacht, wo er sie ausstellt. Hier kann die
frühere Wohnung einer Herzogin besichtigt werden, die später als Bordell
diente, und eine Flüchtlingsunterkunft von 1945. Das private Museum bekommt
keinen Cent öffentlicher Gelder.
„Es ist eine traurige Geschichte“, sagt ein Gewerbetreibender der Straße,
der den Verfall der Häuser schon eine Weile beobachtet. „Alle Angebote der
Denkmalschutzbehörde und der Stadt scheiterten, weil der Besitzer sich
schnell bevormundet fühlt. Dann schließt er die Tür.“
Deshalb hätten auch die Stiftungen den Geldhahn zugedreht, und schon
mehrfach habe das Hotel die Konzession verloren. Dass überhaupt Gäste
kommen, erklärt sich die Pressesprecherin der städtischen
Tourismusgesellschaft damit, dass die Altstadt „sehr gut gebucht“ sei,
„gerade an den Adventswochenenden“.
Es sind schwierige Zeiten für einen älteren Herrn mit großen Plänen – und
sein abenteuerliches Hotel.
3 Jan 2022
## AUTOREN
Friederike Grabitz
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Lübeck
Tourismus
Hotel
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Rot-Grün-Rot
Schwerpunkt Klimawandel
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