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# taz.de -- Buch „Das Haus des Paul Levy“: Sechs Stockwerke Vergangenheit
> Michael Batz erzählt die Lebensgeschichten von rund 50 Menschen, die seit
> 1921 in dem Haus in der Hamburger Rothenbaumchaussee 26 gelebt haben.
Bild: Paul Levy mit seiner Tochter Karla um das Jahr 1915
Michael Batz liest eine E-Mail vor: Sabine Falkenberg hat von seinem neuen
Buch über das [1][Wohnhaus in der Rothenbaumchaussee mit der Nummer 26]
erfahren – und ihm geschrieben. Denn die Schauspielerin, die eine Zeit lang
bei seinem „Jedermann“-Projekt in der Hamburger Speicherstadt dabei war,
bevor sie nach Berlin ging, hat selbst mal in dem Haus gewohnt: von 1987
bis 1989, als sie zur Schauspielschule ging, als Mitbewohnerin zweier
Professoren, denen die Wohnung Erdgeschoss rechts ein wenig zu groß war.
Und ihre erste Hamburger Liebe damals? Ein Klarinettist!
„Das ist nicht erfunden, und das ist schon ein wenig crazy, was es an
Zufällen gibt“, sagt Michael Batz und steckt sein Handy weg. Das muss jetzt
kurz erklärt werden: Ohne eine Klarinette wäre sein wuchtiges, sein so
fundiertes, sein so ausuferndes wie sich immer wieder fokussierendes Buch
womöglich nie erschienen. Eine Klarinette wurde schließlich 1987 bei
Arbeiten im Dachgeschoss unter den Bodendielen gefunden, sorgsam
eingepackt. Bis heute hat Batz nicht ermitteln können, wem dieses
Instrument, das aus der jüdischen Musik nicht wegzudenken ist, einst gehört
hat. Und warum es unter den Dielen verborgen wurde: um es zu verstecken? Zu
schützen? Oder beides?
Batz, [2][Lichtkünstler], [3][Theatermann] und immer wieder Rechercheur,
hat sich in den vergengenen Jahren das dunkle, backsteinerne Wohnhaus
vorgenommen, für dessen Erbauung sich im Jahr 1921 gutbürgerliche
Geschäftsleute, meist im liberalen Judentum verankert, zusammenschlossen:
Ein genossenschaftliches Bau- und Wohnprojekt wollten sie gründen plus
eigener Kapitalgesellschaft. Hauptinitiator war der Privatbankier Paul
Levy, der später im zweiten Stock links wohnte; einer der Kreditgeber
damals die M. M. Warburg-Bank, die auch an Wohnungen für ihre Prokuristen
dachte.
Wohnung für Wohnung, Stockwerk für Stockwerk und vor allem Jahr für Jahr
folgt Batz dem Leben des Hauses, hat dafür in Archiven aller Arten förmlich
gegraben, hat auch einige noch lebende Zeitzeugen getroffen. Nun folgen wir
in 100 Kapiteln den Lebensläufen von gut 50 Bewohner:innen. Dafür treten
diese immer wieder vor die Tür, gehen hinaus in die Stadt, leben ihren
Alltag, kehren später zurück und schalten das Licht an. Sie machen
Hausmusik, sie spielen Schach, sie werden krank, sie genesen. Möbelpacker
kommen und gehen, schwere Schränke und Klaviere werden geschleppt, auch
Gemälde-Sammlungen werden transportiert – „und Särge“, sagt Batz.
Draußen wird die Erde aufgewühlt und die U-Bahn-Linie U1 gelegt; fast genau
gegenüber im Curio-Haus werden ausgelassene Künstler-Feste gefeiert; die
Weltwirtschaftskrise kommt, die Zeiten bessern sich wieder, doch die
Gegenkräfte der jungen Republik geben nicht auf: Auf der nahen Moorweide
wechseln sich die Demonstrationen ab, die Anhänger der NSDAP werden
zahlreicher, immer unverfrorener, bis sie im Fackelschein auch durch die
Rothenbaumchaussee ziehen; manche der Bewohner:innen schauen da nach
ihren Koffern, breiten Landkarten aus.
Sehr umsichtig führt Batz so durch die Jahre, einen Roman aus Tatsachen, so
nennt Batz sein Buch. „Man muss sehr konkret werden, in die Details gehen,
detailversessen werden; es reicht nicht, eine Häufung von Klischees zu
bieten oder allgemeines Wissen noch einmal zu wiederholen, sondern man muss
fragen: Wer war wann genau wie warum vor Ort?“, sagt er. Jede Spur führt
dabei zu einer nächsten Spur, jeder Fund löst eine nächste Suche aus.
Allein, was sich links und rechts des Weges findet, weil Batz nun mal genau
geschaut hat, ist enorm.
Etwa die Geschichte des Modehauses Peek & Cloppenburg, in dessen Filiale am
nahen Rödingsmarkt ab dem Frühjahr 1933 sich der SA-Mann, der HJ-Pimpf und
später der SS-Scherge vom Stiefel bis zur Mütze komplett einkleiden konnte,
wie Batz kurz anreißt.
Oder die Geschichte der Hamburger Staatsoper, die auf ihrer Homepage zu
ihrer Geschichte während der NS-Jahre bis heute lediglich erwähnt, dass
1943 bei einem Bombenangriff der Zuschauerraum völlig zerstört wurde, das
Haupthaus aber unbeschädigt blieb. Und Batz, der so ruhige Chronist, dem
aufgeregte moralisch-politische Appellationen fremd sind, wird
ausnahmsweise fast laut: „Die sind ja der Wehrmacht hinterhergefahren“,
sagt er. „Die Fronttheater, ob das Thalia Theater, die Staatsoper, auch die
Tanzkompagnie 'Lola Rogge’, die sind durch Frankreich getingelt, zur
Heeresbelustigung.“
Sozusagen Protagonistin dieser Praxis ist die seit 1934 an der Staatsoper
engagierte Kammersängerin Gusta Hammer, die bald im Dachgeschoss der 26
wohnt, dass von Anfang an als Atelier für Künstler vorgesehen war. Die sich
später einerseits um ihren Pianisten Wilhelm Freund sorgt, dem die Nazis
den Status eines „Halbjuden“ zugeschrieben haben und die andererseits zur
Stelle ist, wenn Konzerte und Liederabende gegeben werden sollen, um die
womöglich gedrückte Stimmung angesichts des Kriegsverlauf wenigstens für
einen Abend zu heben – noch im März 1945 ist sie für einen Wagner-Abend
besetzt und für Lazarettveranstaltungen eingeplant.
Ein so ganz anderes Schicksal droht dem Kaufmann Richard Behr aus dem
vierten Stock rechts, auch hier spielt der Zufall, wenn man so will,
schließlich eine bemerkenswerte Rolle: Denn Behr, 1943 aus dem KZ
Fuhlsbüttel wieder entlassen, flieht eines Tages aufs Land, findet bei
einem Bauern nahe Itzehoe Unterschlupf.
Nur dass schon bald seine Schwiegertochter ebenfalls hier aufschlägt, mit
ihren Kindern. Unmöglich, dass er sich seinen Enkelkindern zeigt, zu groß
die Gefahr, dass sich die Kinder verplappern, so den jüdischen Großvater
verraten. Und Richard Behr bleibt in seinem Kellerversteck, hört über sich
die Kinderstimmen, wie sie näher kommen, wie sie sich entfernen, ein ganzes
Jahr lang. Was also für eine Geschichte innerhalb der Geschichte, was auch
für ein Erzählstoff, den Batz in nur wenigen Zeilen kurz anreißt, weil die
auf Fakten beruhenden Geschichten und Erlebnisse Jahr um Jahr und
Bewohner:in für Bewohner:in ihm über die Schulter schauen und jeweils
zumindest angerissen werden wollen.
## Anreiz zum Selbstforschen
Sehr lesenswert ist auch ein ausführliches Interview über den
Entstehungsprozess, das Batz mit seinem Verleger Robert Galitz geführt hat
und einen guten Einstieg bietet. In dem berichtet Batz, wie mühsam und auch
von Geschick und Zufall abhängig der Rechercheerfolg oft war und oft noch
ist; wie man ihm vor der Jahrtausendwende lange die Einsicht in Akten
schlicht verwehrte oder welchen Schaden es zuletzt angerichtet hat, als im
Hamburger Staatsarchiv im Sommer 2018 fast eine Million Dokumente wie
ärztliche Todesbescheinigungen für immer vernichtet wurden. Was ein Glück,
dass Batz da schon viele dieser Unterlagen für seine Recherchen ausgewertet
hatte, die oftmals unverblümt, weil nüchtern, über das Ende eines
Menschenlebens Auskunft geben.
Batz ist überhaupt weit davon entfernt, ein Ende der Aufarbeitungsarbeit
der NS-Jahre zu sehen. Im Gegenteil: „Vielleicht gibt es ja nun andere, die
anfangen die Geschichte ihres Hauses, in dem sie leben, zu erforschen“,
sagt Batz mit Blick auf seine Arbeit. Besonders die Eigentumsverhältnisse
von Wohnungen, Häusern, Gebäuden und auch Unternehmen seien oft noch
gänzlich unerforscht. Und er legt die Hand auf das Buch und sagt, als sei
eine gewisse Last von ihm gefallen: „Das Buch ist jetzt in der Welt; mal
schauen, wer was damit anfangen wird.“
9 Jan 2022
## LINKS
[1] /Portraet-einer-Immobilie/!5269758
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## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Buch
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