| # taz.de -- Biologische Vielfalt: Wilde Stadt | |
| > Große Städte sind mehr als Beton. Sie bieten ökologische Nischen für | |
| > viele Pflanzen und Tiere. In Hamburg wird ein wenig nachgeholfen. | |
| Bild: Ein Fuchs, der ganz normale städtische Nachtschwärmer | |
| Hamburg taz | Das Rathaus ist für Hamburg ist so etwas wie die Lange Anna | |
| für Helgoland – ein Vogelfelsen. Zwischen den herausragenden Schmucksteinen | |
| der Neorenaissancefassade brüten [1][zwar keine Lummen], dafür überwintern | |
| hier Berghänflinge aus Norwegen. | |
| Anfang November sind erst ein paar von ihnen angekommen und man muss schon | |
| einen Vogelkundler wie Sven Baumung von der Hamburger Umweltbehörde bei | |
| sich haben, um überhaupt auf sie aufmerksam zu werden. In der Dämmerung | |
| kommen sie angeflogen, nachdem sie sich auf den Brachflächen im Hafen mit | |
| Sämereien versorgt haben. „Tjip-ep-ep“ machen die Vögelchen. Sie fliegen | |
| ein bisschen herum, landen mal hier, mal da, auf Giebelchen und deren | |
| Bekrönungen, bis sie sich zum Schlafen in die Spalten setzen. | |
| 151 heimische Vogelarten mit 450.000 Brutpaaren sind in Hamburg erfasst | |
| worden. „Das ist so viel wie in keiner anderen deutschen Großstadt“, | |
| stellte Umweltsenator Jens Kerstan fest, als er 2019 die Ergebnisse des | |
| jüngsten Monitorings präsentierte. Und der Bestand wachse: Vor zehn Jahren | |
| seien es nur 415.000 Brutpaare gewesen. | |
| Doch diese Statistik ist trügerisch, denn die Vogelvielfalt spiegelt die | |
| besondere geografische Lage und Struktur Hamburgs wider. Hier gibt es die | |
| hoch gelegene trockene Geest und die tief gelegene feuchte Marsch im | |
| Elbe-Urstromtal. Hier gibt es Elbe und Alster, ein Gewirr von Gräben, es | |
| gibt Moor und Heide, Süßwasserwatt und Flachwasserbuchten, riesige | |
| Obstgärten und Gemüseäcker. | |
| Doch wie sieht es in der eigentlichen Stadt aus mit ihren Hochhäusern, | |
| Gründerzeit- und Villenvierteln, Straßen mit „Begleitgrün“, Parks und | |
| Kanälen, Fabriken, Tanklagern und Containerterminals? Das ist zunächst | |
| einmal eine Frage des Hinsehens. | |
| Für das bloße Auge sind etwa die Berghänflinge in der Hamburger | |
| Rathausfassade nur kleine schwarze Kugeln, kaum zu erkennen. Baumung weiß, | |
| wo er suchen muss, denn er hört auch im größten Lärm noch den Ruf eines | |
| Vogels. Um ihn dann auch bestimmen zu können und am besten persönlich zu | |
| identifizieren, hat er stets ein Taschenfernglas dabei. | |
| Leuten wie Baumung, die ehrenamtlich Vögel zählen, ist zu verdanken, dass | |
| es bei Vögeln so einen guten Überblick gibt. Bei Insekten sieht es schon | |
| viel schlechter aus. | |
| Baumung richtet sein Fernglas auf eine Lachmöwe, die in der Alsterschleuse, | |
| wenige Meter vom Rathaus entfernt, auf einem schwimmenden Balken sitzt. Sie | |
| trägt einen weißen Ring am Bein. Mit dem Glas ist die winzige Beschriftung | |
| „A235“ erstaunlich gut zu lesen. Eine E-Mail an den Vogelfreund, der diese | |
| Möwe betreut, ergibt am Tag darauf eine lange Liste an Fundorten, alle rund | |
| um die Alsterseen. Nur einmal hat es sie nach Zachodniopomorskie in Polen | |
| verschlagen. | |
| Baumung kann auch die Nester der Mehlschwalben unter den noblen | |
| Alsterarkaden neben der Schleuse gleich beim Jungfernstieg zeigen. Unten | |
| wird mit Blick auf den Rathausmarkt Tee genossen, oben in den Ecken kleben | |
| die Nester. Ihr Baumaterial holen sich die Vögel von den benachbarten | |
| Baustellen, die die Hamburger so sehr nerven. | |
| „Die Stadt bietet unglaublich viel“, sagt Baumung. Hier sei es ein paar | |
| Grad wärmer als im Umland. Immer falle irgendwas zum Fressen ab für die | |
| Möwen, Stockenten und Teichhühner in den Gewässern. Ein Baustellenaushub | |
| mit steiler Böschung könne zum Nistplatz für Uferseeschwalben werden. Und | |
| die Stadt mit ihren großen Bäumen zieht auch Zuwanderer an wie Amseln, | |
| Buntspechte und Gartenbaumläufer. „Die Bäume haben alle so ein Alter | |
| erreicht, dass die Waldvögel bis mitten in die Stadt gekommen sind“, sagt | |
| Baumung. | |
| Doch ungetrübt ist das Bild nicht. „Bei aller Freude über die große Zahl an | |
| Brutvögeln blicken wir mit Sorge auf den dramatischen Schwund bei einzelnen | |
| Arten“, stellte der Umweltsenator Kerstan bei der Vorstellung des | |
| Vogelmonitorings fest. Besonders gelitten habe ausgerechnet eine scheinbare | |
| Allerweltsart: der Haussperling oder auch Spatz. Als erste deutsche | |
| Großstadt hat ihn Hamburg zusammen mit dem Star auf die Liste der | |
| gefährdeten Arten gesetzt. | |
| Der Hamburger Senat tut im Verein mit den Naturschutzverbänden einiges | |
| dafür, um Tieren einen Lebensraum zu bieten. Diese Woche ist der Verband | |
| Norddeutscher Wohnungsunternehmen dem Projekt [2][„Unternehmensnatur“] | |
| beigetreten. Dabei setzen sich die Handelskammer, die Umweltbehörde und der | |
| Naturschutzbund (Nabu) seit sieben Jahren dafür ein, dass Unternehmen ihr | |
| Betriebsgelände naturnah gestalten und damit die Artenvielfalt fördern. | |
| Der Fachausdruck hierfür ist „Animal-Aided Design“, wie Katharina Schmidt | |
| sagt, die sich beim Nabu um die Natur in der Stadt kümmert. Eigentlich | |
| müsste es „Animal-Oriented Design“ heißen, denn es soll bei dem Konzept | |
| darum gehen, so zu bauen, dass Tiere einen Lebensraum finden. Die | |
| Wohnungsbauunternehmen können in den Höfen Blühstreifen für Insekten | |
| anlegen, Sandflächen für die Spatzen und Nisthöhlen für Mauersegler in die | |
| wärmegedämmten Fassaden integrieren, in denen sonst kein Vogel und keine | |
| Fledermaus mehr unterschlüpfen könnte. | |
| Die [3][Umweltbehörde hat auch ein Programm zur Dachbegrünung] aufgelegt. | |
| Zu besichtigen ist das am Kongresszentrum CCH, das in den danebengelegenen | |
| Park Planten un Blomen hinein erweitert wurde und dem Spaziergänger jetzt | |
| aufs Neubaudach steigen können. Sandwege führen zwischen geschotterten | |
| Beeten mit Stauden hindurch. Drei Viertel aller Wildbienenarten nützen | |
| solche Kies- und Sandflächen zum Nisten, sagt der Nabu. Nur ein Viertel | |
| bevorzuge Strukturen, wie sie in Insektenhotels eingebaut werden. | |
| Die Stauden auf dem Dach sind wichtig für Insekten. Die Nachtkerze etwa, | |
| die kurz nach Sonnenuntergang ihre Blüten öffnet, wird von Nachtfaltern | |
| geplündert, die wiederum von Fledermäusen gefressen werden. So funktioniert | |
| die Nahrungskette. Und im anstehenden Winter dienen die Halme vieler | |
| Stauden Insekten als Unterschlupf. | |
| Ein Steinwurf entfernt steht ein wahrer [4][Hotspot der Artenvielfalt: eine | |
| alte Eiche]. Mehrere Hundert Tierarten sind laut einer Publikation des | |
| schweizerischen Umweltbundesamtes auf Stil- und Traubeneichen | |
| spezialisiert, also auf die Eichenarten, die am häufigsten vorkommen. | |
| Eichen haben viel totes Holz, in dem sich die Larven von bis zu 70 | |
| Käfererarten wie dem Heldbock nachweisen lassen. In der Borke überwintern | |
| kleine Wirbellose. In der Krautschicht und unter dem Laub tummeln sich | |
| Schnecken, Spinnen, Asseln, Tausendfüßler und Insekten. „So eine Eiche ist | |
| einfach klasse“, sagt Baumung. | |
| Matthias Glaubrecht vom Leibniz-Institut zur Analyse des | |
| Biodiversitätswandels in Hamburg würde das unterschreiben. „Jede alte | |
| Eiche, die nicht gefällt wird, ist wesentlich mehr wert als drei | |
| nachgepflanzte Jungbäume“, sagt der Professor. Ihre Dienste für die | |
| Speicherung von Kohlendioxid, das Mikroklima, den Wasserhaushalt im Boden | |
| und die biologische Vielfalt seien unschätzbar. | |
| Deshalb appelliert er an die Kommunalparlamente, bei Baugenehmigungen auf | |
| die Erhaltung alter Bäume zu pochen. Oft genug würden diese nur gefällt, um | |
| den Baufahrzeugen mehr Platz zu verschaffen. Und jeder, der einen alten | |
| Baum im Garten hat, sei er auch gebietsfremd, solle ihn im Zweifel stehen | |
| lassen. | |
| Das würde aus Glaubrechts Sicht dazu beitragen, die Reste der Biodiversität | |
| zu erhalten. Denn bei all dem, was sich an Getier zumindest in den | |
| Großstädten entdecken lässt, warnt er davor, die Rolle der Städte zu | |
| übertreiben. „Die Stadt fängt bei der Biodiversitätskrise nur einen Teil | |
| des Schwundes auf“, sagt Glaubrecht. | |
| Natürlich sei es gut, Städte mit Gärten und Parks zu haben, aber was in den | |
| Städten lebe, bilde nur einen kleinen Ausschnitt der Artenvielfalt und | |
| gleiche keinesfalls aus, was auf dem Land verloren geht: nicht die riesigen | |
| Monokulturen, in denen es kilometerweit immer nur das Gleiche zu fressen | |
| gibt; nicht die Pestizide, die unter den Pflanzen aufräumen und Insekten | |
| vergiften. | |
| Füchse und Wildschweine, die in den Städten auftauchten, seien fast schon | |
| als Kulturfolger zu bezeichnen und kein Zeichen für biologische Vielfalt. | |
| Dafür, dass es in den Städten zu einer besonderen Evolution kommt, gibt es | |
| seiner Ansicht nach keine Anzeichen. | |
| Dazu komme, dass die deutschen Großstädte im internationalen Maßstab eher | |
| klein und auch grün seien, verglichen mit den Steinwüsten von Lagos oder | |
| Delhi. Und überhaupt spiele sich das große Drama des Artensterbens dort ab, | |
| wo es unvergleichlich viel mehr biologische Vielfalt gibt als in | |
| Deutschland: im Regenwald und auf den Korallenriffen. | |
| Und doch bietet die Hamburger Innenstadt dem Kundigen so manches Abenteuer. | |
| Hoch oben im Turmhelm der Sankt-Jacobi-Kirche brütet der Wanderfalke. Unter | |
| dem Einflugloch ist die Kupferverkleidung vom Kot grün verfärbt. Sven | |
| Baumung sucht den Vogel vergeblich, bis er ihn schließlich auf dem | |
| Rathausdach landen sieht. | |
| Die dortigen Berghänflinge seien aber nicht gefährdet, beruhigt der | |
| Ornithologe. Mit den spatzengroßen Tierchen gebe sich ein Wanderfalke erst | |
| gar nicht ab. | |
| 7 Nov 2021 | |
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| [4] https://www.proquercus.org/willkommen/die-eiche/biodiversit%C3%A4t/ | |
| ## AUTOREN | |
| Gernot Knödler | |
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