# taz.de -- Matteo Salvini droht Haftstrafe: Der Großsprecher | |
> Matteo Salvini drohen 15 Jahre Haft. Das hindert den früheren | |
> Innenminister nicht, Sprüche zu klopfen. Doch die Luft für den rechten | |
> Lega-Chef wird dünn. | |
Bild: Große Klappe: Matteo Salvini vor Beginn seines Prozesses wegen Freiheits… | |
ROM taz | Matteo Salvini ist am vergangenen Samstag ganz in seinem Element. | |
Dabei muss der Chef der rechtspopulistisch-fremdenfeindlichen Lega an | |
diesem Tag in Palermo vor Gericht erscheinen. Der Freiheitsberaubung ist er | |
dort angeklagt, weil er im Sommer 2019 – damals war er Italiens | |
Innenminister – 147 Flüchtlingen, die auf dem Rettungsschiff „[1][Open | |
Arms]“ tagelang festsaßen, die Anlandung in einem italienischen Hafen | |
verweigerte. Auf Freiheitsberaubung aber stehen bis zu 15 Jahre Haft. | |
Doch Matteo Salvini zeigt sich unerschrocken, gibt nicht den Angeklagten, | |
sondern den Ankläger. „Der von der Linken und den Fans der klandestinen | |
Einwanderung gewollte Prozess hat begonnen“, postet er noch aus dem | |
Gerichtssaal, „was wird er die italienischen Steuerzahler kosten?“ | |
Als dann [2][das Gericht] auch den US-amerikanischen Schauspieler Richard | |
Gere in die Liste der demnächst zu vernehmenden Zeug*innen aufnimmt – er | |
war damals an Bord der „Open Arms“ gegangen –, legt der Angeklagte | |
sarkastisch nach: „Ich hoffe, dass der Prozess nicht zum Filmfestival wird. | |
Ich denke, ich bin der einzige Minister in Europa, der vor Gericht gestellt | |
wird, weil er seine Pflicht getan hat.“ | |
So kennen die Italiener*innen den Lega-Chef seit Jahren: immer im | |
Angriffsmodus, gerne aber auch mit dem Gestus des Opfers garniert, immer zu | |
einem flotten Spruch bereit, gerne mit dem Ziel geäußert, Gegner*innen | |
verächtlich zu machen. | |
## Salvini, der rechte Propagandist | |
Das gelingt dem 48-jährigen Mailänder offenbar auch deshalb so gut, weil er | |
in seinem Leben nie einem anderen Beruf nachgegangen ist als dem des | |
rechtspopulistischen Propagandisten. In den letzten Jahren war in einigen | |
Medien zu lesen, der junge Matteo sei als Gymnasiast im Leoncavallo, dem | |
wichtigsten radikal linken, besetzten autonomen Zentrum Mailands, ein und | |
aus gegangen. Salvini selbst aber dementiert diese Mär von linken | |
Jugendsünden in seiner 2016 erschienenen Autobiografie: Bloß einmal habe er | |
ins Leoncavallo gefunden, „zu Zeiten, als ich mich für Politik noch nicht | |
interessierte, zu einem Konzert“. | |
Als der Sohn eines Managers sich dann für Politik interessiert, führt ihn | |
der Weg in die Lega Nord. Die rechtspopulistische Truppe war in den späten | |
1980er Jahren von [3][Umberto Bossi] aus der Taufe gehoben worden, als | |
Partei, die die Interessen des reichen Nordens Italiens gegenüber dem | |
„parasitären Süden“ und das „diebische Rom“ verteidigen soll. Zuerst | |
predigt man mehr Föderalismus, dann gleich die Sezession der Nordregionen | |
zwecks Gründung des neuen Staats „Padanien“. | |
Noch bei den Europawahlen im Jahr 1989 sind für die Lega Nord nur 1,8 | |
Prozent drin. Das aber hält Salvini nicht davon ab, sich 1990 im Alter von | |
nur 17 Jahren bei der Partei einzuschreiben. Eine vorausschauende | |
Entscheidung: Schon bei den Parlamentswahlen 1992 räumt Umberto Bossis | |
Verein fast neun Prozent ab, und auch die Karriere des jungen Matteo nimmt | |
Fahrt auf. | |
## Propaganda statt Parlamentsarbeit | |
1993, da ist er gerade 20 Jahre alt, wird Salvini in den Stadtrat von | |
Mailand gewählt. Für sein Studium der Geschichte hat er nun keine Zeit mehr | |
– er wird es nie zu Ende bringen. Stattdessen befindet er sich im | |
Dauereinsatz für die Sache des produktiven Nordens, der Lombardei, des | |
Piemont, des Veneto, mit dem Lega-Narrativ vom ausbeuterischen Zentralstaat | |
und vom auf der faulen Haut liegenden Süden. | |
Allerdings zeigt sich Salvini selbst als Volksvertreter nicht besonders | |
produktiv. Die Sitzungen zunächst in Mailands Stadtrat, dann ab 2004 im | |
Europaparlament, schwänzt er gerne. Stattdessen ist er als Propagandist | |
höchst aktiv, erst bei der Parteizeitung La Padania, dann beim Sender | |
„Radio Padania“. Über Jahre hinweg gibt es für ihn nichts Abscheulicheres | |
als den italienischen Staat. Die Fahne, die grün-weiß-rote Trikolore? „Ein | |
Symbol der Unterdrückung“. Der Staatspräsident? Eine Unperson. Als das | |
damalige Staatsoberhaupt [4][Carlo Azeglio Ciampi] 1999 nach Mailand kommt, | |
verweigert ihm Salvini den Handschlag, mit den Worten: „Herr Doktor, Sie | |
repräsentieren mich nicht.“ | |
Alle diese staatsfeindlichen Sprüche halten die Lega jedoch zu dieser Zeit | |
nicht davon ab, regelmäßig in einem rechten Bündnis bei den Wahlen | |
anzutreten, zu dem auch die postfaschistische und stramm nationalistische | |
Alleanza Nazionale gehört. Zweimal ist man Teil einer Regierungskoalition | |
unter Silvio Berlusconi im so verhassten Rom. | |
Matteo Salvini steht damals nicht in der ersten Reihe, gehört nicht zur | |
Regierungsriege, aber er vollzieht den ebenso langsamen wie stetigen | |
Aufstieg in der Lega mit, wird schließlich 2012 zum Vorsitzenden der Lega | |
Lombarda gewählt, der wichtigsten regionalen Untergliederung. Nur ein Jahr | |
später schlägt seine Stunde, denn die Lega Nord gerät in eine schwere | |
Krise. | |
Staatsanwälte finden heraus, dass ausgerechnet die populistische | |
Saubermannpartei 49 Millionen Euro an staatlicher Wahlkampffinanzierung | |
unterschlagen und damit Diamantenkäufe, aber auch den luxuriösen | |
Lebenswandel der Familie Bossi finanziert hat. Die Lega scheint am Ende, | |
stürzt bei den Wahlen 2013 auf nur noch 3,9 Prozent ab – und ruft Matteo | |
Salvini als ihren Retter. | |
## Erst Spalter, dann Nationalist | |
Und der macht einen ebenso halsbrecherischen wie genialen Schachzug. Er hat | |
begriffen, dass in dem von der Eurokrise gebeutelten Land kein Spielraum | |
mehr für Nord-Süd-Polemiken ist. Neue Feinde müssen her: der Euro und die | |
Migrant*innen. „Ein Verbrechen“ sei die Gemeinschaftswährung, tönt der ne… | |
Lega-Nord-Chef, ein Verbrechen auch sieht er in der „Invasion“ der übers | |
Mittelmeer kommenden Bootsflüchtlinge. Die Nummer zieht, die Lega Nord | |
steigt bei den Europawahlen 2014 wieder auf 6 Prozent. | |
Daraufhin geht Salvini noch einen Schritt weiter und lässt an die | |
Parteizentrale in großen Lettern das Motto „Basta Euro!“ pinseln. Vor allem | |
aber streicht er einfach den ursprünglichen, | |
regionalistisch-sezessionistischen Betriebszweck „Nord“ aus dem | |
Parteinamen, die nun nur noch „Lega“ heißt. | |
Jetzt kommt Salvini, dem früheren Verächter des Nationalstaats, ganz leicht | |
der neue Slogan „Prima gli italiani!“ – „Italiener zuerst!“ – über… | |
Lippen. Die Nummer zieht. Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2018 fährt die | |
vom Comedian [5][Beppe Grillo] gegründete Protestbewegung „Movimento5Stelle | |
(M5S, 5-Sterne-Bewegung) mit fast 33 Prozent eine überragenden Wahlsieg | |
ein. Doch der Lega-Frontmann darf sich ebenfalls als triumphaler Sieger | |
sehen: Für ihn springen 17 Prozent heraus, damit wird die Lega noch vor | |
Berlusconis Forza Italia zur stärksten Kraft des Rechtslagers. | |
Matteo Salvinis nächster Schachzug folgt auf dem Fuß. Er geht mit der | |
Fünf-Sterne-Bewegung, mit der ihn eigentlich nur der Gestus der | |
Anti-Establishment-Kraft eint, eine Regierungskoalition ein, in der er sich | |
das Amt des Innenministers sichert. Aus dem Ministerium heraus verordnet er | |
die Politik der „geschlossenen Häfen“, lässt immer wieder Schiffe von | |
Hilfsorganisationen genauso wie der eigenen Küstenwache tagelang mit | |
Hunderten Migrant*innen an Bord warten, ehe sie einlaufen dürfen, zieht | |
mit der Verschärfung der „Sicherheitsdekrete“ die Daumenschrauben gegen | |
Flüchtlinge genauso wie gegen Nichtregierungsorganisationen an. Wie früher | |
schon allerdings schwänzt er weiterhin gerne Sitzungen. Bei den | |
europäischen Ministerräten, auf denen es um Migrationspolitik geht, | |
erscheint er so gut wie nie. | |
## Eine Wendung zuviel | |
Die fremdenfeindliche Masche zieht. Bei den Europawahlen im Mai 2019 | |
triumphiert Salvini, der noch gut fünf Jahre vorher eine eher zweitrangige | |
Kleinstpartei geleitet hatte: Die Lega schnellt auf 34 Prozent hoch. Erneut | |
spielt ihr Anführer Hazard – aber dieses Mal verzockt sich Matteo Salvini. | |
Um Neuwahlen zu provozieren, lässt er die Koalition mit der | |
Fünf-Sterne-Bewegung unter Ministerpräsident Giuseppe Conte platzen. Doch | |
statt des erhofften Urnengangs entsteht eine neue, zuvor von niemandem für | |
mögliche gehaltene Koalition zwischen den Fünf Sternen und der gemäßigt | |
linken Partito Democratico, die bis Januar 2021 amtiert. Salvini ist seinen | |
Ministerposten los. | |
Zu allem Überfluss kommt Salvini auch noch die Coronapandemie dazwischen. | |
Statt um Migrant*innen geht es jetzt um die richtigen | |
Lockdown-Strategien, und Europa ist dank des großzügigen | |
Wiederaufbauprogramms plötzlich nicht mehr als böser Bube brauchbar. | |
Als wäre das noch nicht genug, erwächst Salvini auch noch Konkurrenz am | |
rechtspopulistischen Rand. Die Römerin [6][Giorgia Meloni] ist fünf Jahre | |
jünger als Salvini. Seit 2014 führt sie die postfaschistische Partei | |
Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens), deren Motto lautet: „Gott, | |
Vaterland, Familie“. Ausländerfeindschaft und EU-Skepsis kann die Freundin | |
des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán ebenso gut propagieren wie | |
Salvini. Noch bei den Europawahlen im Jahr 2019 bleibt sie mit 6,5 Prozent | |
weit abgeschlagen hinter der Lega mit ihren 34 Prozent zurück. | |
Heute aber ist Giorgia Meloni in der Offensive. Die Lega nämlich tritt im | |
Februar 2021 einigermaßen überraschend in die neue Regierung der nationalen | |
Einheit unter Mario Draghi ein, auch wenn der als früherer EZB-Präsident | |
eigentlich das Feindbild Salvinis verkörpern müsste. Doch der Lega-Chef | |
will dabei sein, wenn über die Verwendung der großzügigen EU-Hilfen – fast | |
200 Milliarden Euro werden Italien zufließen – entschieden wird. Anders | |
Meloni: Sie bleibt in der Opposition und greift seitdem den Unmut gegen die | |
Coronamaßnahmen der Regierung ab. Während Salvinis Verein in den letzten | |
Meinungsumfragen auf nur noch 19 bis20 Prozent abgestiegen ist, liegt | |
Melonis Partei mit ebenfalls 20 Prozent nun gleichauf. | |
Georgia Meloni wolle ihm bloß „auf die Eier gehen“, zürnt deshalb Matteo | |
Salvini in diesen Tagen, und zwar „um die Lega in Schwierigkeiten zu | |
bringen“. Ein Gegenmittel hat er bisher nicht gefunden. Umso mehr dürfte er | |
sich jetzt über den gerade gegen ihn begonnenen Prozess freuen, gibt er ihm | |
doch eine neue Gelegenheit, wieder als der wahre Vorkämpfer des | |
Rechtspopulismus in Italien ins Rampenlicht zu rücken. | |
27 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Lage-auf-der-Open-Arms-eskaliert/!5618780 | |
[2] /Italienischer-Ex-Innenminister-vor-Gericht/!5810298 | |
[3] /Kommentar-Lega-Nord/!5096659 | |
[4] /!1289121/ | |
[5] /Fuenf-Sterne-Bewegung-in-Italien/!5783617 | |
[6] /Giorgia-Meloni-von-Fratelli-dItalia/!5486403 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
## TAGS | |
Italien | |
Rechtspopulismus | |
Bootsflüchtlinge | |
Prozess | |
Lega | |
GNS | |
Italien | |
Italien | |
Schwerpunkt Flucht | |
Italien | |
Faschismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Berlusconi und die Präsidentschaftswahl: In Italien lacht niemand | |
Silvio Berlusconi möchte sich ab Montag zum Staatspräsidenten Italiens | |
wählen lassen. Das gilt als unwahrscheinlich, doch ein Sieg ist es | |
trotzdem. | |
Anti-Diskriminierungsgesetz scheitert: Italiens Rechte jubelt | |
Das Gesetz scheiterte im Senat. Mindestens 20 Parlamentarier*innen | |
des Mitte-Links-Spektrums eilten der Rechten bei der Abstimmung zur Hilfe. | |
Italienischer Ex-Innenminister vor Gericht: Hollywood gegen Matteo Salvini | |
Salvini hatte einem Seenotrettungsschiff die Einfahrt in den Hafen | |
verweigert. Seine erste Anhörung nutzte er zur Attacke gegen Linke. Richard | |
Gere trat als Zeuge auf. | |
Italienische Gemeindewahlen: Sieg nach Punkten für die Linken | |
Italiens populistische Rechte muss eine heftige Wahlschlappe einstecken. | |
Das verdankt sie vor allem ihrer Klientel, die nicht an den Urnen erschien. | |
Rechtstradikale und Impfgegner in Rom: Nicht immun gegen Faschismus | |
Italiens Verfassung verbietet faschistische Organisationen. Beim Sturm auf | |
eine Gewerkschaftszentrale in Rom wurde klar, wie wenig dieses Verbot | |
trägt. |